Atavistisches Lesevergnügen: Autoren als Kleinunternehmer

Die Welt verblödet vor lauter Tweets aus 140 Zeichen, Kurznachrichten von ununterbietbarer Banalität, glauben manche. Für Evan Ratliff ist es genau anders herum. „Wir erleben eine neue Blütezeit der Literatur – die meisten Verlage haben das nur noch nicht bemerkt“, sagt er. Über seinem Büro donnern U-Bahnen über die Manhattan Bridge. Dies ist das Zentrum der Silicon Alley in New York, der Ostküstenvariante der kalifornischen Digitalwirtschaft.

Hinter Ratliff hängt ein Poster mit einem Bild von Hunter S. Thompson, dem großen Reporter der Sechziger Jahre.

Evan Ratliff ist selbst auch Reporter, er wurde bekannt, als er vor drei Jahren für das Magazin „Wired“ eine Zeitlang verschwand. Ratliff war irgendwo in den USA untergetaucht und veröffentlichte nun Fotos von sich und seinem Aufenthaltsort. Die Leser sollten versuchten, ihn anhand dieser Indizien aufzuspüren wie bei einem Räuber- und Gendarm-Spiel. Nach wenigen Wochen hatten sie ihn.

Doch damit fing für Ratliff die Geschichte erst an. Er hatte viel mehr Material, viel mehr Anekdoten, als er in seinem Artikel im gedruckten Magazin unterbringen konnte. Er träumte von einem neuen Medium, das sich dem Text anpasst, nicht umgekehrt. Mit zwei Kollegen gründete er einen Verlag namens „Atavist“. Sieben Mitarbeiter sitzen mittlerweile im einfachen Loft-Büro in einem ehemaligen Lagerhaus.

Fast jeden Monat bringt der Verlag ein neues E-Book heraus. Falls das der richtige Begriff ist. Meist sind es Großreportagen, wie sie so ähnlich auch im „New Yorker“ erscheinen könnten – nur noch länger. Viele dieser Mini-Bücher sind ergänzt mit Multimedia-Elementen. Das E-Büchlein über einen Jazzmusiker etwa ist unterlegt mit dessen Musik (sie lässt sich auch abschalten). Der Bericht über einen Einbruch beginnt statt mit Worten mit Bildern von Überwachungskameras. Wer müde Augen bekommt, kann sich den Text vom Autor vorlesen lassen.

Atavist leistet sich sogar „Fact Checker“, die alle Texte auf Richtigkeit überprüfen, ein in der Verlagswelt fast unbekannter Luxus. Bei jedem Mini-Buch ist die Hörbuchfassung automatisch mit dabei. Wenn man sie einschaltet, läuft der Text über den Bildschirm. „Viele Leser wollen den Text sehen, während sie zuhören“, sagt Ratliff. „Ich verstehe selbst nicht, warum.“

Kaufen kann man die Bücher für Lesegeräte wie iPad, iPhone, Kindle, Nook oder Kobo für zwei bis drei Dollar. Sie sind aber auch als Abo bestellbar, wie eine Zeitschrift. Die Autoren werden zu Mitunternehmern, sie bekommen ein Grundhonorar und darüber hinaus die Hälfte der Verkaufserlöse, pro Buch rund einen Dollar. Über 100 000 E-Books hat Atavist angeblich im Jahr 2011 verkauft.

Das meiste Geld kommt jedoch durch das Redaktionssystem herein, welches die Erstellung von elektronischen Büchern für verschiedene Formate vereinfacht. Bisher bedeutet das Erstellen eines E-Books ein endloses Herumfrickeln mit Formatierungen. Die Atavist-Software soll diesen Prozess vereinfachen. Atavist ist nicht allein, auch Projekte wie das „People’s E-Book“ strebt eine ähnliche Vereinfachung an: wie die Bedienung eines Kopierers im Copyshop. Fortan könnten E-Books vom nachgereichten Abklatsch des gedruckten Buches zur Originalvorlage werden, die dann optional noch auf Papier gedruckt werden könnte, falls es Nachfrage gibt.

Neuerdings geht sogar die TED-Konferenz unter die E-Verleger und vertreibt eigene Elektrobücher ihrer Vorträge, unter Verwendung des Atavist-Redaktionssystems. Fans können auch eine Flatrate buchen, für 4,99 Dollar bekommen sie jeden Monat zwei E-Books.

Atavist ist nur ein Angebot unter vielen. StartUps wie The Feature, Longform, Rumpus oder The Millions verweisen auf die besten Reportagen aus Blättern wie „The Atlantic“ oder „The New York Times“.

Auch der Dienst Byliner sammelt lange Reportagen, zusätzlich bietet er ähnlich wie Atavist eine eigene E-Book-Edition namens „Byliner Originals“ an. Der Bestsellerautor Jon Krakauer („In eisige Höhen“) schaffte es in dieser Reihe mit einer Enthüllungsgeschichte an die Spitze der E-Book-Bestsellerliste von Amazon. Bisher glaubten die meisten Magazin-Macher, dass sich die Leser nur für lange, komplexe Reportagen interessieren, wenn drumherum kürzere, schnell zu lesende Texte stehen. Die Reportage von Krakauer über Greg Mortenson, einen Bergsteiger und Wohltäter, an dessen Arbeit Zweifel aufgekommen waren, hatten zuvor mehrere Zeitschriften abgelehnt. Aus Platzgründen. Soviel zum nahenden Ende des langen, konzentrierten Lesens.

Auch etablierte Verlage geben in den USA inzwischen Reportagen als E-Books heraus. Nur sieben Tage, nachdem ein Spezialkommando der amerikanischen Streitkräfte Osama Bin Laden getötet hatte, brachte der Verlag Random House „Beyond Bin Laden: America and the Future of Terror“ heraus. Gutenbergs bewegliche Lettern werden immer beweglicher.

„Das geduldige Lesen langer Stücke erscheint wie ein Atavismus, also wie ein ausgestorbenes Körpermerkmal“, sagt Evan Ratliff, wenn er den Namen seines E-Book-Verlags erklären soll. In der Biologie tauchen diese Atavismen manchmal nach Millionen von Jahren erneut auf.