Die Geburt des Internet aus dem Geist der Bibliothek

Vor hundert Jahren stellte der Reclam-Verlag tausende Buchautomaten in Bahnhöfen auf, um Reisende zu unterhalten. Später produzierte der Verlag kleine Heftchen für Soldaten, die Feldbibliotheken. Bücher sollten mobil sein, unterwegs lesbar, leicht.

Die Mobilmachung der Bücher lag in der Luft. Der Brüsseler Bibliothekswissenschaftler Paul Otlet entwarf schon vor dem Ersten Weltkrieg so etwas wie einen analogen Vorläufer des Internet: das Mundaneum, eine Art Auskunftei des Weltwissens.

In einem ausgeklügelten Karteikartensystem waren über 15 Millionen Werke handschriftlich verzeichnet und nach Themengebieten geordnet, hinzu kam eine riesige Bilderdatenbank. Wer eine Frage hatte, sandte einen Brief an das Mundaneum, wo Bibliothekare sich durch den Superkatalog wühlten, um die Anfrage zu beantworten – handschriftlich und per Post, für fünf Centimes pro Karteikarte. Allein im Jahr 1912 wurden 1500 Anfragen gestellt, zu allen erdenklichen Themen, von Bumerang bis zum bulgarischen Finanzwesen.

Rückblickend erscheint das Mundaneum wie eine Art analoge Suchmaschine, ein Papier-Google. Statt aus riesigen Servern bestand es aus einem schier endlosen Spalier hölzerner Karteikästen, seit 1920 untergebracht im herrschaftlichen Palais Mondial im Zentrum von Brüssel.

Der Vater der Zettelsuchmaschine war ein penibler Bücherwurm. Der Spross einer Industriellenfamilie wurde 1868 geboren und verbrachte einen Großteil seiner Kindheit in Bibliotheken und mit Privatlehrern. Während seines Jurastudiums stellte er dann fest, wie unsortiert die Fachliteratur war. Noch nicht einmal 30 Jahre alt, gründete er ein neuartiges Archiv und führte darin ein revolutionäres universelles Ordnungssystem ein, das in ähnlicher Form bis heute verwendet wird.

Dann kam der Erste Weltkrieg. Otlet verlor einen Sohn an der Front, wurde zum Pazifisten, zu einem Vordenker des Völkerbunds und der Unesco. Sein Weltwissensarchiv, so die Hoffnung, werde helfen, den Frieden zu sichern, indem es die Vernunft befördert.

Je weiter sich die politische Lage verdüsterte, in desto glühenderen Farben malte Otlet seine Aufklärungsvisionen aus. Er plante nun Multimedia-Maschinen, die Buch und Telefon, Fernsehen und Radio verbinden. Er grübelte über papierlose Arbeitsplätze nach, an denen sich per Telefonnetz Bücher und Filme aufrufen lassen. Das Publikum sollte „vom Sessel aus“ nicht nur durch die Welt des Wissens navigieren, sondern auch „applaudieren, Ovationen geben und im Chor singen“, so Otlet: „Vor unseren Augen entsteht eine gigantische Maschinerie für die geistige Arbeit.“

In mancherlei Hinsicht war sein „mechanisches Gehirn“ nicht nur seiner eigenen Zeit voraus, sondern sogar noch der heutigen. Das zumindest meinen Bibliothekswissenschaftler wie Boyd Rayward von der University of Illinois in Urbana-Champaign. Otlet wollte zum Beispiel Informationshappen nicht nur einfach verlinken wie im World Wide Web. Er schlug vielmehr intelligente Links vor, die zusätzlich auch Informationen über Wahrheitsgehalt und Kontext beinhalten. Semantic Web wird das heute genannt, und noch immer tüfteln die klügsten Köpfe an der praktischen Umsetzung des Traums, der seit über 70 Jahren zum Greifen nah erscheint.

Je weiter die Visionen des Weltbibliothekars wucherten, desto weniger Verständnis erhielt Otlet. 1934 warf man ihn aus seinem Wissenspalast, zehn Jahre später starb er. Im Jahr 1968, hundert Jahre nach Otlets Geburt, schrieb man in den USA den Auftrag für das Arpanet aus, den Vorläufer des Internets. Bald wurde es zur größten Bibliothek der Menschheitsgeschichte.