Ein goldenes Zeitalter des Lesens

Der Bilder-Ordner meines Smartphones quillt über von Schnappschüssen des Medienwandels. Ich fotografiere unterwegs gern Hotels, Cafés und Boutiquen, die gebrauchte Bücher als Dekoration verwenden. In einem Restaurant am Brandenburger Tor in Berlin liegen kleine Bücherstapel auf den Speisekarten, damit die nicht wegfliegen. Günter Kunerts „Ein englisches Tagebuch“ in der Aufbau-Ausgabe von 1978 als Stopper fürs Menü.

Der Göttinger Steidl Verlag versuchte im vergangenen Jahr sogar, den Geruch von Büchern in einem Parfüm festzuhalten. „Paper Passion“ riecht nicht unangenehm, mit einer Kopfnote von Druckerschwärze. „For Booklovers" steht auf der Verpackung. Der Flakon steckt in einem Buch, dessen Inneres ausgehöhlt ist, der Designer Karl Lagerfeld hat das entworfen. Die ersten zehn Seiten sind bedruckt, unter anderem mit einem Gedicht von Günter Grass, im Faksimile seiner Handschrift, das er am Valentinstag verfasst haben soll. Es endet mit: „…wer liest, der riecht.“

Besser hätte sich die „Titanic“ das auch nicht ausdenken können. Aber das Buch-Parfüm ist kein Witz, es wird in Galerien verkauft.

Es ist eine schwierige Zeit für Leute, die gedruckte Bücher lieben, viele fühlen sich in der Defensive und beschwören den Niedergang der Lesekultur. Womöglich gebe es bald gar keine Romane mehr, keine langen Texte, nur noch kurzes Zeug, nervöse Tweets, Statusmeldungen bei Facebook. Wer elektronisch liest, sei doch ohnehin abgelenkt und unkonzentriert.

Nun ja. Das Marktforschungsinstitut Gallup erfasst seit 1990, wie viele Bücher die Leute in den USA im Durchschnitt im Jahr lesen. Es sind inzwischen 17, mehr als je zuvor. „Das Lesen auf elektronischen Lesegeräten hat keine Nachteile gegenüber dem Lesen gedruckter Texte“, so das Fazit einer weltweit einmaligen Lesestudie , durchgeführt von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2011. Matthias Schlesewsky, Leiter der Arbeitsgruppe „Neuronale Grundlagen Sprachlicher Universalien“, sagt, dass der subjektive Eindruck, elektronisches Lesen sei unkonzentriertes Lesen, sich nicht bestätigen lies. Ältere Probanden lasen an Tablet-Rechnern sogar schneller als in gedruckten Büchern. Sie erinnerten sich hinterher aber an ebenso viele Inhalte.

Aber wie ist es mit den Whiskeyflecken auf einer Erstausgabe von Dylan Thomas, die der Leserbriefschreiber besingt?

Ich habe mir kürzlich die App „A Clockwork Orange“ aufs iPad geladen, jene bitterböse Satire auf Gehirnwäsche und Jugendgewalt, veröffentlicht 1962 vom britischen Autor Anthony Burgess. Ich habe das Buch im Regal stehen. Ich hatte es als Vierzehnjähriger bei einer Alpenwanderung mit im Zelt, es ist zerfleddert, fleckig und sollte eigentlich auratisch aufgeladen sein. Geht so.

In der digitalen Version dagegen liest mir der britische Schauspieler Tom Hollander, wenn ich das will, das gesamte Buch vor, er bringt den Slang der Jugendbande mit trockener Bosheit. Die Seiten kann ich automatisch umblättern lassen, während ich zuhöre. Und zwar entweder in einer normalen Buchansicht oder im Faksimile des originalen Typoskripts, mit handgeschriebenen Anmerkungen des Autors. Fast fühle ich mich, als säße ich neben ihm am Schreibtisch beim Korrekturlesen. Dann höre ich Burgess selbst, in einer alten Tonaufnahme.

Noch ein Einwand: Was, wenn die Autoren bei einer Lesung keine Bücher mehr signieren können?

Eine junge Frau fragte das im Sommer 2012 beim Computerkultur-Festival „Campus Party“ unter dem riesigen Dach des alten Flughafens Tempelhof. Der brasilianische Esoterik-Autor Paulo Coelho war zu Gast. Aber elektronisches Signieren sei doch kein Problem, sagte Coelho, der viel älter als seine Leserin war. Firmen wie Autography oder Authorgraph ermöglichen es, bei Lesungen ein Foto von Auto und Leser zu machen, das dann in das E-Book eingefügt wird. Neugierig melde ich mich bei Authorgraph an. Als kleine Schmeichelei bekomme ich gleich eine Autogramm-Anfrage von der Firma. Ich versuche, mit der Maus am Bildschirm zu signieren. Ich fühle mich wie in der ersten Klasse, meine Unterschrift wirkt krakelig, fast legasthenisch. Für die Widmung wähle ich daher lieber die vorgefertigte Pseudo-Handschrift. Da ist nach oben hin Luft.

Fernunterschriften sind nicht auf E-Books beschränkt. Die kanadische Booker-Preisträgerin Margaret Atwood stellte schon 2006 ihre Erfindung „Long Pen“ vor, eine Art Roboterhand, eine Maschine, die ihre Unterschrift per Internet auf Papierbücher in aller Welt überträgt, während sie per Videokonferenz mit den Fans plaudert. Margaret Atwood, die auch schon über 70 Jahre alt ist, findet das Reisen anstrengend. Derzeit versucht sie, das Fernautogramm auch auf E-Books zu übertragen, gemeinsam mit der Firma Fanado. Fast so, als würde die Realität mit den Technikvisionen in Atwoods Science-Fiction-Romanen verschmelzen.