Kleine Fluchten aus der Filterblase

„Wenn man ein E-Book herunter lädt, lohnt es sich, einen Augenblick innezuhalten und sich zu überlegen, wofür man sich da entscheidet und was diese Entscheidung bedeutet. Wenn genügend Leute aufhören, in Buchhandlungen zu gehen, werden die Buchhandlungen schließen – nicht einige, sondern alle. Und das wiederum bedroht eine Reihe von Werten, die uns begleitet haben, seit es Bücher gibt.“

Nicole Krauss schrieb das, die Schriftstellerin aus New York („Kommt ein Mann ins Zimmer“), zur der Frankfurter Buchmesse erschien ihr Text im Jahr 2011 in der „Faz“, unter dem Titel: „Retten wir die Buchhandlungen“.

Es ging darin auch um die Algorithmen, die wie bei Amazon den Kunden immer neue Bücher zum Kauf vorschlagen. Diese Programme spinnen die Leser in eine Filterblase ein, schrieb Krauss, indem sie ihnen immer nur wieder „Variationen ihrer alterprobten Themen“ vorschlagen. Nur in einem echten Buchladen könne man noch auf wirkliche Überraschungen stoßen. Man gehe hinein, um Hemingway zu kaufen, und am Ende komme man stattdessen mit Homer wieder heraus, schrieb Krauss.

„Wer dagegen im Buchladen schmökert, macht sich an die Erkundung einer wohl überlegten Sammlung dessen, was die Welt beinhaltet. Wohl überlegt, weil Jahrhunderte von Denkern, Schriftstellern, Kritikern, Lehrern und Lesern den Wert dieser Auswahl begründet haben. Insofern scheint ihre kollektive Weisheit dem ‚neutralen‘ Netz, seiner Nichts- und Alleswisserei, haushoch überlegen.“

Aber stimmt das? Ich selbst empfinde es ganz anders. Das Netz ist längst ein vielseitiger Literatursalon geworden ist, in dem tausende von kompetenten Nutzern das leisten, was bei Krauss nur die Buchhändler vermögen.

Etwa die winzige Redaktion um Thierry Chervel in Berlin, die in ihrem Dienst „Perlentaucher“ jeden Morgen, von Montag bis Freitag, Zitate und Zusammenfassungen aus den wichtigsten deutschen Feuilletons sammelt. Wenn es darum geht, Hemingway zu suchen und Homer zu finden, dann ist die Wahrscheinlichkeit dafür in Diensten wie dem Perlentaucher höher als in vielen Buchhandlungen.

Dennoch wurde das Perlentaucher-Angebot von Zeitungsverlagen, darunter auch der FAZ, auf juristischem Weg bekämpft. So bestätigt sich die Kritik am Netz mitunter in einem technophoben Zirkelschluss: Erst heißt es, das Netz sei unterkomplex und oberflächlich – und dann sorgt man dafür, dass es möglichst so bleibt.

Ich habe wirklich nichts gegen Buchläden. Aber die meisten von ihnen taugen nicht sehr gut dazu, mir neue Bücher zu empfehlen. Wer wirklich Überraschungen liebt, kommt online viel eher auf seine Kosten. Zum Beispiel beim nicht ganz ernst gemeinten Dienst „Unsuggester“ – er gibt Anti-Empfehlungen. Wer dort zum Beispiel angibt, dass er gern am Strand in der Bibel liest, dem rät der Dienst zum Ausgleich unter anderem zu Sylvia Plath, William Gibson, Neil Stephenson und Joseph Conrad. Angewandte Literatursoziologie. Das ganze funktioniert auch als eine Art Powerpoint-Karaoke: Man kann sich so seine Hypothesen bilden zu den jeweiligen Autoren und ihrem Antipoden, um sich dann von Unsuggester immer wieder überraschen zu lassen.

Wer es lieber persönlicher hätte, kann sich auch einer „Bibliotherapy“ unterziehen, etwa bei der Lebensberatungsfirma School of Life in London. Ein Berater analysiert die Vorlieben, Schwächen und Einseitigkeiten der Lesepatienten und verschreibt neuen Lesestoff. Diese Beratung kostet allerdings rund 100 Euro.

Rap Genius dagegen ist kostenlos, ein Portal für Raptexte, gegründet von drei ehemaligen Yale-Studenten. Sie wollten die hohe Kunst des Close Reading“ pflegen und Literatur jeder Art Zeile für Zeile, Wort für Wort auseinandernehmen. Sie fingen bei den Rap-Texten an und wollen den Themenbereich konsequent ausbauen. Mehr als eine Viertelmillion Einträge gibt es bereits. Wer etwa nach dem lyrischen Tiefsinn in Tracks wie „Fucking Problems“ des Rappers ASAP ROCKY sucht, landet vielleicht zufällig bei einer Rede von US-Präsident Barack Obama. Oder gleich bei dem antiken Dichter Homer, wie von der Schriftstellerin Nicole Krauss gewünscht. Sogar auf Altgriechisch, wenn man will: „μῆνιν ἄειδε θεὰ Πηληϊάδεω Ἀχιλῆος“.