Gründerzeit für E-Books

Wir verlassen die Gutenberg-Galaxis nicht, wie Marshall McLuhan glaubte. Vor fünfzig Jahren dachten Kulturpessimisten, dass mit dem Siegeszug des Fernsehens das Lesen verdrängt werde. Seitdem eilt die Verlagsbranche von Rekord zu Rekord. Hinter der Angst vor dem Ende der Gutenberg-Galaxis steckt die Denkfigur des Exzeptionalismus, der immer die jeweilige Gegenwart für den Moment des großen Umbruchs hält. Genau heute wird alles anders, eine Umwertung aller Werte. Stattdessen lässt sich weniger ein radikaler Epochenwandel beobachten als eine Beschleunigung und Auffächerung.

Unglaublich viele literarisch-journalistische Kleinunternehmern werden derzeit gegründet. Print oder Digital? Das ist ihnen relativ egal. Ihnen geht es um die Inhalte.

Craig Mod etwa, ein amerikanischer Designer und Essayist, arbeitet oft in Tokio. Über das Crowdfunding-Portal Kickstarter hat er Geld für ein Buchprojekt gesammelt, er wollte eine Art Reiseführer durch die Kunstszene der japanischen Hauptstadt schreiben. In nur einem Monat hatte Mod fast 24 000 Dollar zusammen. Er schrieb sein Buch, „Art Space Tokyo“, ließ es illustrieren, druckte es auf gutem Papier und mit Liebe zum Detail. Dann machte er sich an die elektronische Version, praktisch für unterwegs, weil mit einem Digitalstadtplan verlinkt. Einen Verlag brauchte Craig Mod nicht, er ist sein eigener Verlag.

Werden weniger Papierbücher verkauft, wenn mehr E-Books verkauft werden? Nicht zwangsläufig, denn beide erfüllen unterschiedliche Funktionen. Die Autoren des Blogs „Signal vs. Noise“, die dort Ratschläge für Firmengründer geben, veröffentlichten ihre Einträge auch als Buch. Obwohl man alle Ratschläge kostenlos im Netz lesen kann, verkauften sie rund 30 000 pdfs – zum Stückpreis von 19 Dollar. Sie nahmen mehr als eine halbe Million Dollar ein. Selbst Bestsellerautoren im klassischen Verlagswesen verdienen selten so gut.

Kurzgeschichten haben es schwer auf dem Markt, Verlage und Buchhandlungen winken oft ab. „Paragraph Shorts“ ist eine iPad-App, die Kurzgeschichten von verschiedenen Websites zusammenträgt und stilvoll präsentiert – wahlweise im reduzierten, werbefreien Lesemodus, oder vorgelesen von den Autoren. Im Querformat wird das Layout von Tweets der Autoren flankiert, für die Leser, die das wollen. Man kann die Geschichten sogar als Buch drucken lassen. „Die Zukunft des Buches mag unsicher sein“, sagt der Gründer Ziv Navoth aus New York, „die Zukunft der Kurzgeschichten ist es nicht.“

„Die Leute schauen mich schräg an“, schreibt Margaret Atwood, die Vordenkerin des Fernautogramms, über das Hobbyautoren-Portal „Wattpad“:

„Aber Margaret“, kann man sie flüstern hören, „du bist doch eine literarische Größe auf der Höhe ihrer Kunst; das zumindest steht auf den Umschlägen deiner Bücher. Warum treibst du dich in einem Online-Forum herum, das voll von Romanzen, Vampiren und Werwölfen ist? Du solltest dich doch eher der Literatur verpflichtet fühlen, mit einem ganz groß geschriebenen L. Husch, zurück auf deinen Sockel!“

Stattdessen erzählt Atwood von einem Brief, den einer der Gründer von Wattpad einmal bekam. Ein alter Mann aus Afrika hatte ihn geschrieben. Sein Dorf hatte keine Schule, keine Bücherei, kein Festnetz. Aber es gab dort ein Mobiltelefon, und auf diesem Handy luden sie sich die Stories von Wattpad herunter, um sie zu lesen. Der alte Mann wollte sich einfach nur bedanken.

Die neue literarische Gründerzeit ist nicht auf die USA beschränkt. „Gutenberg hat eine Maschine erfunden, mit der das Verbreiten von Büchern billiger wird. Meister Jeff Bezos hat eine Maschine gebaut, das Kindle, mit dem Bücher billiger werden und weiter verbreitet werden können. Finde ich gigantisch“. Das sagte der Autor Jonas Winner Ende 2012 der „Tageszeitung“. Der studierte Philosoph brachte 2011 seinen ersten Roman bei dtv heraus. Dann wurde er Selbstverleger, weil ihm der Verlag zu langsam war. Er verkauft seine Romane zum Schleuderpreis von 99 Cent, pro E-Book bekommt er rund 30 Cent, insgesamt hat er bis Ende 2012 rund 40 000 Euro verdient. Amazon will die Romane ins Englische übersetzen, Jonas Winner verhandelt über Filmrechte.

Besonders viel Beachtung bekam Dirk von Gehlen, Mitarbeiter der „Süddeutschen Zeitung“ und Autor beim Suhrkamp-Verlag („Mashup: Lob der Kopie“). Er sammelte im Herbst 2012 binnen weniger Wochen über 10 000 Euro ein für sein nächstes Buch mit dem Titel „Eine neue Version ist verfügbar“. Als sich immer weitere Unterstützer meldeten und die Finanzierungsversprechen auf über 12 000 Euro stiegen, versprach der Autor, noch eine Hörbuch-Version nachzulegen, persönlich eingelesen. Schon jetzt können die Unterstützer erste Kapitelentwürfe lesen. Und sich sogar Beratungsgespräche mit seinem Lektor anhören. Will man das wirklich? Nun, man muss ja nicht.