Wie schreibt es sich in Gutenbergs neuer Galaxis?

Die Schrift verflüssigt sich, wenn sie nicht mehr nur auf Papier gedruckt wird. Das verändert Form und Inhalt.

Was bedeutet das für ein Buch, für den Autoren? Ohne das zu planen, habe ich in den letzten Jahren an einem Versuch im elektronischen Publizieren teilgenommen, als Mitherausgeber des Buchs „Mekkas der Moderne – Pilgerorte der Wissenschaft“.

Es begann an einem Abend im Sommer des Jahres 2005 im British Museum in London. Vom Eingang aus gleich links, vorbei am Souvenir-Laden mit den Sarkophagen aus Schokolade, steht das berühmteste Stück der Sammlung, der Stein von Rosette. Eine Stele, dreisprachig beschrieben, auf Griechisch, Demotisch und in Hieroglyphen-Schrift. In jeder Sprache lobt ein selbstverliebter Gottkönig sich selbst. Die Stele ist nicht wegen dieser Geschichte berühmt, sondern weil die beiden auch der Nachwelt bekannten Sprachen, Griechisch und Demotisch, wie eine Art Wörterbuch dabei halfen, die Bedeutung der ägyptischen Hieroglyphen zu entziffern, die in Vergessenheit geraten waren. Die steinernen Lettern waren noch absolut unbeweglich – und das war gut so, denn so konnten sie sich lange halten.

Auch an diesem Abend standen die Besucher andächtig um die Stele. Die Erwachsenen flüsterten, wie in einer Kirche. Eine Gruppe Kinder tobte durch den Raum, mit Schlafsäcken unter dem Arm, sie durften ausnahmsweise im Museum übernachten. Was für ein inspirierender Ort, dachte ich.

Nach diesem Abend suchte ich nach einem Buch, das mich zu ähnlichen Orten führen könnte, zu den Ursprüngen der modernen Wissenschaft, wenn man so will. Ich fand es nicht. Also beschlossen wir – die Biogeochemikerin Hildegard Westphal aus Bremen, der Rechtshistoriker Milos Vec aus Frankfurt und ich – es selbst anzuschieben. Wir starteten eine Art Salonspiel, wir suchten nach Orten, die uns inspirierten.

Wir trafen uns manchmal persönlich, zwischendurch blieben wir über Skype und Telefon in Kontakt und schrieben unsere Ideen in eine Datei, die wir mit Hilfe des Programms Google Docs anlegten und auf die jeder von uns stets zugreifen konnte.

Etwa drei Jahre nach meinem Abend im British Museum veröffentlichten wir ein paar erste Kapitel auf dem SPIEGEL ONLINE-Portal einestages.de und sammelten weitere Ideen. Wir führten grundsätzliche Debatten. „Mekkas der Moderne“ hatten wir unser Projekt genannt. Klang das nicht ein bisschen zu groß? Steckte hinter unserer Suche eine Art religiöser Impuls, dem wir eigentlich widerstehen sollten?

Gleichzeitig kamen immer mehr Ideen zusammen. Die Galápagosinseln! Das Teilchenforschungszentrum Cern! Der Louvre! Das Goethehaus in Weimar! Die Antarktis!

Teils meldeten sich Autoren von sich aus mit eigenen Ideen, teils luden wir sie ein. Manche Entscheidungen und Überlegungen, die früher eher hinter verschossenen Türen getroffen wurden, diskutierten wir nun oft in aller Öffentlichkeit, über das Internet.

Ich schrieb und redigierte in meiner Freizeit in einem Café in Venedig, in einem Hotel in São Paulo, auf einer Berghütte in über 3000 Metern mit Blick auf das Matterhorn. Die meisten Bücher und Aufsätze, in denen ich etwas nachschlagen wollte, fand ich online. Auch wenn ich zuhause arbeite und ein Buch hinter mir im Regal steht, suche ich mir inzwischen die Stellen, die ich noch einmal lesen möchte, meist lieber über einen Dienst wie Google Books heraus.

Die Aussicht, ein echtes Buch aus der Artikelsammlung zu machen, übte auf manche Autoren einen Sog aus, den wir nur mit einem Blog vielleicht nicht erreicht hätten. Es half auch dabei, uns zu fokussieren, auszuwählen.

Das Buch erschien 2010, fünf Jahre nach der ersten Idee, im Wissenschaftsverlag Böhlau, ein Sammelband, 76 Kapitel auf mehr als 400 Seiten, ein Coffeetable-Buch für fast 25 Euro. Wir stellten es im Naturkundemuseum in Berlin vor, unter dem dreizehn Meter hohen Skelett des Brachiosaurus. Klassischer geht es kaum, fossiler sozusagen. Eine dicke Papierschwarte unterm Dinoschwanz.

Aber die gedruckte Ausgabe war nicht das Ende des Projekts, sondern nur eine Zwischenphase. Unsere Texte haben sich wieder verflüssigt, über fünfzig Kapitel haben wir in Zeitungen und auf Websites veröffentlich, sie mit einer Weltkarte verlinkt, mit Videos und Interviews ergänzt. Insgesamt erreichten wir, wenn man die einzelnen Abdrucke zusammenzählt, weit über 100 000 Abrufe einzelner Kapitel, allein über unser Blog waren es über 30 000. Das gedruckte Buch bekam einige gute Rezensionen, aber in den Buchhandlungen habe ich es nur selten gesehen. Immer, wenn online ein Kapitel erschien, rutschte das Buch in der Amazon-Verkaufsliste zumindest etwas nach oben.

Die Gegnerschaft zwischen Papier und Netz wird meist übertrieben. Bei unserem Projekt jedenfalls befeuerten sich die beiden Medien gegenseitig. Allerdings kann das Netz auch keine Wunder vollbringen, manche Themen eignen sich einfach nicht für Bestseller. Für jeden Verkaufshit wie „Fifty Shades of Grey“ dürfte es tausende von ökonomisch mäßig erfolgreichen Projekten geben, von denen man nicht viel hört. Gerne würde ich mal eine Überblicksstudie lesen über die Anatomien erfolgreicher und gefloppter digitaler Buchprojekte, um zu sehen welche Texte sich für neue Digitalformate eignen und welche eben nicht. Als ich vor zwanzig Jahren den ersten Hypertext las, gab es deutlich mehr Theorie als Praxis zu diesem Genre. Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt. Teilweise würde etwas mehr Reflexion nicht schaden. Das gilt wohl auch für dieses E-Book. Aber noch fehlt eine gute Datenbasis all der Experimente, die derzeit neu entstehen. Es ist schon schwer genug, überhaupt einen groben Überblick zu behalten.