Bibliotheken in der Bücherwolke

Die Beweglichkeit der Lettern in der Cloud verändert sogar die gebaute Umwelt. In Lausanne kann man die Digitalisierung sozusagen vom Weltall aus betrachten, per Google Earth: Wie eine Wolke scheint das Bauwerk am Nordufer des Genfer Sees zu schweben. Die neue Bibliothek der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) ist eine futuristische Welle aus Glas und Beton.

Zehn Fachbereichsbibliotheken wurden im „Rolex Learning Center“ zu einem neuen Lesezentrum zusammengelegt. Einsames Büffeln zwischen Stahlregalen war gestern. Die Bibliothek der Zukunft soll als Marktplatz der Ideen dienen.

Der Unterschied zu klassischen Lesesälen wird schon im Eingangsbereich deutlich. Vitrinen mit Elektronik-Schnickschnack der Firma Logitech stehen herum, an den Wänden hängen überdimensionale Rolex-Uhren – ein Zugeständnis an die Sponsoren. In einem Café werden Croissants und Zeitungen auf Englisch, Französisch, Arabisch und Chinesisch angeboten. Ein Laden verkauft „Tim und Struppi“-Bücher und Kitschpostkarten. Sogar ein Nobelrestaurant ist vorhanden. Barrierefrei mäandern die Wege auf und ab, geschwungen wie Skipisten. Die Fenster öffnen sich automatisch, wenn die Luft zu stickig wird. Spatzen flattern dann herein und fliegen zwischen den bunten Sitzkissen umher, in denen Studenten dösen. Unter Designerlampen von Artemide flirten Paare.

Nur Bücher sieht man hier kaum. Bildung sei nicht anstrengend, sondern Spaß, wird den Besuchern suggeriert. „Noch nie wurden so viele neue Bibliotheken errichtet“, erklärt Winfried Nerdinger, Professor für Architekturgeschichte, der 2011 ein Buch zu Vergangenheit und Zukunft der Bibliotheken zusammengestellt hat. Es heißt: „Die Weisheit baut sich ein Haus“.

Die Bibliotheken des neuen Jahrtausends sind oft kathedralenhafte Repräsentationsbauten, erschaffen, um die Zukunftsfähigkeit einer Stadt unter Beweis zu stellen. „Die Liste der Baumeister dieser spektakulären Bücherbauten der letzten Jahre liest sich wie ein ,Who’s who‘ der Architektur“, heißt in Nerdingers Buch. Herzog & de Meuron etwa schufen in Cottbus eine amöbenhaft geschwungene Bücherwabe mit einer bonbonfarbenen Innenarchitektur. Santiago Calatrava baute eine neue Bibliothek in Zürich, Zaha Hadid in Wien, Rem Koolhaas in Seattle, Toyo Ito in Tokio.

In Peking haben deutsche Architekten einen gleichsam schwebenden Erweiterungsbau für die neue Nationalbibliothek in die Höhe wachsen lassen. Der verglaste Unterbau ist als Stütze kaum zu erkennen, die Form des Dachs erinnert an eine große Computerfestplatte. Das Gebäude bietet Platz für zwölf Millionen Bücher.

Sogar Kasachstan hofft auf das Prestige, das eine Nationalbibliothek verspricht. Das Bauwerk in Astana erinnert an die Form eines unendlichen Möbius-Bandes, scheinbar ohne Anfang und Ende – eine bibliophile Fata Morgana, finanziert aus Öl- und Gasverkäufen der ehemaligen Sowjetrepublik.

Es ist ein paradoxer Trend, nicht ohne Ironie. Eigentlich wird das klassische Buch durch die Digitalisierung verdrängt. Die Bücherdepots wandeln sich zu multimedialen Treffpunkten.

Die Rolex-Bibliothek in Lausanne steht dabei für die maximale Verwandlung in Richtung Erlebniszentrum. Noch offener geht nicht, sonst würde sie vollends wie ein Freizeitpark wirken.

„Wir haben hier so etwas wie ein Disneyland des Wissens gebaut“, sagt David Aymonin im Herbst 2011 mit einem ironischen Lächeln. Der bärtige Mann hat den Bau geleitet. Bibliothekare seien nicht mehr so sehr den Büchern verpflichtet, sondern mehr den Nutzern, sagt er. Die Digitalisierung der Bücher und die verkürzten Studienzeiten förderten den Bau neuartiger Bibliotheken. „Viele Studenten verbringen einen Großteil des Tages hier, wir befriedigen daher viele Grundbedürfnisse: Essen, Ausruhen, Einkaufen und natürlich den Zugang zu Lehrbüchern.“ Insbesondere während der Prüfungszeit verdoppelt sich die Nachfrage nach Büchern, Essen und Kaffee.

Wie geht es weiter nach dem derzeitigen Bibliotheks-Boom? Ist er eine letzte Blütezeit einer sterbenden Gebäudegattung – oder der Aufbruch in eine große Zukunft?

„Das einzelne Buch löst sich auf in einem riesigen weltumspannenden elektronischen Dokument, in der Buchwolke“, sagt Frédéric Kaplan, der früher in Paris Aibo-Roboter erforscht hat und nun an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne mit Pädagogen und Programmierern die Zukunft des Lesens erforscht. Kaplan verbindet einen fast schon kalifornisch anmutenden Hang zum Basteln mit französischer Theoriefreude.

Aus Büchern werden Maschinen, sagt er: So wie Landkarten heutzutage durch interaktive Navigationssoftware erweitert werden, saugt die Maschinenwelt auch Texte auf. Aber dieser Prozess sei keinesfalls neu. Kaplan findet Vorläufer der Lesemaschinen bereits in der Aufklärung, als gleichzeitig mit der Blüte des Romans die Enzyklopädien florierten. Alphabetische Nachschlagewerke, auch die auf Papier, sind für ihn bereits Teil einer analogen Bücherwolke. Im Gegensatz zum linearen Lesefluss eines Romans bereiten sie Textblöcke für den raschen, gezielten Zugriff auf. „Klassische Bücher drehen sich um die Kunst, ein Ende zu finden“, sagt er: „Enzyklopädien dagegen expandieren kontinuierlich weiter, sie kennen kein Ende.“

Dass die neuartigen Lesemaschinen zunächst noch auf Papier gedruckt wurden, habe dabei nur kaschiert, dass sich zwischen den Buchdeckeln bereits so etwas wie eine analoge Suchmaschine entwickelte, sagt Kaplan. Ist das nun gut oder schlecht? „Es ist, wie es ist“, sagt Kaplan: „Nun gilt es, das Beste daraus zu machen.“

Für Kaplan ist das Rolex-Center schon heute gnadenlos veraltet, eine permanente Baustelle, brauchbar einzig als ein Labor, um das zu erforschen, was nach der Bibliothek kommen könnte. „Wer ein Buch vor sich liegen hat, kann dabei gut diskutieren, aber ein Laptop-Bildschirm ist eine visuelle Barriere, die die Menschen voneinander trennt“, sagt Frédéric Kaplan. Er wolle den Personal Computer ablösen durch den „Interpersonal Computer“.

Vor ihm steht ein Roboter, der Grafiken und Texte auf Tischplatten projizieren kann. Kaplan träumt von Datenbanken, die sich durch Berührung von Tischplatten gemeinsam durchforsten lassen. „Bücherwissen kann sich jeder allein aneignen, aber es anzuwenden lernt man nur, wenn man diskutiert“, sagt Kaplan. „Wir erforschen hier, wie man kluge Diskussionen herbeiführt.“

Der Harvard-Philosoph David Weinberger („Too big to Know“) drückt das Prinzip so aus: „The smartest person in the room is the room“ – das Text-Netzwerk soll angeblich klüger sein als die Summe seiner Teile. Diesem Ansatz folgend hat Kaplan in Lausanne in einen Tisch Mikrofone eingebaut, die registrieren, an welcher Tischseite am meisten geredet wird. „Wenn ein Gespräch in einen Monolog abdriftet, interveniert der Tisch, indem er sich verfärbt“, sagt Kaplan – und muss über sich selbst lachen: Der Tisch vor ihm leuchtet seit ein paar Minuten alarmrot.