16.

Am nächsten Morgen fuhr ich als Erstes noch einmal zur Mitchell Library. Diesmal traf ich mich nicht mit jemandem, sondern suchte nach einer ganz bestimmten Information.

Bei meiner Suche half mir eine entgegenkommende Bibliothekarin, die auf meine Masche als hilfloser Heini hereinfiel. Sie war brünett, um die dreißig und kleidete sich auf eine ansatzweise bohemehafte Art – gerade so bohemehaft, wie eine städtische Bibliothek es zuließ. Das dunkle Haar trug sie offen. Ich hatte sie quer durch den Lesesaal erspäht. Sie hatte einen beeindruckenden Stapel dicker Nachschlagewerke in den Armen gehabt, und ein gleichsam beeindruckender Vorbau hatte auf den Büchern geruht. Sie erschien mir wie eine Freidenkerin: Ich fand geistige Beweglichkeit bei Frauen anziehend. Wir kamen sofort gut miteinander aus. Natürlich konnte es an unserer gemeinsamen Bibliophilie liegen, aber ich vermutete, es lag eher daran, dass ich mit einem Blick ganz offensichtlich gezeigt hatte, wie sehr ich ihre größten Vorzüge schätzte.

Jedenfalls beschleunigte ihre Mithilfe meine Suche enorm und machte sie viel zielgerichteter, als wäre ich selbst herumgestolpert. Ich brauchte fünfundvierzig Minuten, um die Zeitungsartikel, die Einsatzberichte und die Verlustlisten zusammenzustellen, die ich benötigte. Natürlich gab es Einzelheiten, die ich nicht erfahren würde. Großbritannien neigte zur Geheimniskrämerei. Obwohl das Kriegsende fast zehn Jahre zurücklag, lagerten in den Kellern von Whitehall noch immer Dokumente mit brisanten Details und würden dort noch wenigstens achtzig Jahre bleiben. Aber ich fand genug, mit dem ich weitermachen konnte. Mir gelang es auch, die Adresse meiner brünetten Recherchepartnerin herauszufinden, und die genauen Zeiten, zu denen ich sie besuchen konnte: Trotz ihres bohemehaften Aufzugs trug sie einen Ehering. Ich nahm an, ihr Mann war weder Bohemien noch aufgeschlossen.

Sie ließ mich mit meinem Recherchematerial an einem Tisch zurück. Ich konzentrierte mich auf ein Ereignis und verbrachte zwei Stunden damit, Zeitungsmeldungen und offizielle Berichte über die Katastrophe durchzugehen. Am meisten interessierten mich allerdings die Verlustlisten und die Dienstlisten. Schließlich fand ich, wonach ich suchte: Alain Barnier war Oberleutnant zur See an Bord der Maillé Brézé gewesen. Das erklärte die Verbundenheit des Franzosen mit diesem Teil der Welt. Und auch seine Besuche am Denkmal auf dem Lyle Hill.

Doch Barniers Name auf der Seite ließ mehr unerklärt als erklärt.

Ich kämpfte mich durch die alten Ausgaben des Greenock Telegraph, die sich mit den Anfangsjahren des Krieges befassten. Während des Krieges waren in der Gegend viele französische Seeleute stationiert gewesen, und ich überflog jeden Artikel, in dem die französischen Streitkräfte erwähnt wurden. Zumeist waren es die üblichen patriotischen Beiträge à la »Vergesst Napoleon, wir sind jetzt dicke Kumpel«. Die Schotten besaßen ohnehin ein anderes Verhältnis zu den Franzosen als die Engländer: Einmal hatte die Auld Alliance bestanden, das alte Bündnis zwischen Frankreich, Schottland und Norwegen, das dem Vereinigungsgesetz vorausgegangen war und dem die Schotten eine große romantische Verbundenheit entgegenbrachten. Das Verhältnis zwischen den französischen Seeleuten und den Einheimischen war im Allgemeinen gut gewesen. Auf jeden Fall wurde in der Presse zu Kriegszeiten nichts Gegenteiliges behauptet.

Doch in den Gerichtsakten fand ich etwas Auffälliges. Drei Greenocker Hafenarbeiter, die wegen ihres Berufs vom Militärdienst freigestellt waren, hatten wegen Ruhestörung, Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt vor dem städtischen Gericht erscheinen müssen. Offenbar waren die drei in eine Prügelei innerhalb der Stadt verwickelt gewesen. Die Ortspolizei und Militärpolizisten der Gendarmerie Maritime hatten eine ausgedehnte Schlägerei beenden müssen, die sich von einer Greenocker Bar aus auf die Straßen ausgebreitet hatte. Das Datum fiel ins Auge: 5. Juli 1940 – zwei Tage, nachdem die britische Royal Navy die französische Flotte bei Mersel-Kébir angegriffen hatte, um zu verhindern, dass die Schiffe in deutsche Hände fielen. Zwei Schiffe waren versenkt und fast dreizehnhundert französische Seeleute getötet worden. Der Angriff hatte zu einem diplomatischen Desaster geführt, und die Franzosen hatten sich ernsthafte Gedanken gemacht, wer sich da eigentlich als ihr Freund ausgab ...

Man brauchte nicht besonders versiert im logischen Denken zu sein, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass die Stimmung gereizt gewesen sein musste und irgendein Großmaul etwas gesagt hatte, das einen Kampf zwischen den französischen Seeleuten und den Einheimischen vom Zaun gebrochen hatte. Natürlich musste es so nicht sein. In Westschottland benötigte man keinen großartigen Grund, um eine Prügelei zu beginnen, und wenn man bedachte, wie viele einheimische Mädchen sich den Beinamen »Matrosenmatratze« erworben hatten, standen den Kampfeslustigen stets die guten alten Mittel der sexuellen Eifersucht und des Alkohols zu Gebote.

Ich wollte gerade weiterblättern, als ein Blick auf die Aussage eines Zeugen mich auf den Bericht zurückbrachte. Eine Gruppe französischer Seeleute war von einem Pöbelhaufen Einheimischer umzingelt worden. Die Franzosen wurden von städtischen Polizisten und einem Kommando aus Marinegendarmen und Fusiliers Marins, französischen Marineinfanteristen, befreit. Der Zeuge schilderte, dass einige dieser Franzosen »irgendeine komische Fußkampftechnik« eingesetzt hätten, um die Menge zurückzudrängen.

Ich fragte meine Bibliothekarin, ob sie mir den Bericht fotokopieren könne, und nach ein wenig sanfter Überzeugung und einer Menge Lennox’schem Charme willigte sie ein. Ich müsste jedoch für die Materialkosten aufkommen und mir die Abzüge später persönlich abholen.

***

Wir hatten nun beinahe Mittag, und ich unternahm meinen täglichen Ausflug zu Davey ins Krankenhaus. Sein Gesicht ließ sich schon wieder besser erkennen, aber er wirkte weniger lebhaft, als er es nach dem Überfall gewesen war. Wenn man zusammengeschlagen wird, dauert es seine Zeit, bis der Schmerz sich tief in Muskeln und Knochen festgesetzt und jedes Eckchen gefunden hat, in dem er sich einnisten will. Zumeist gesellen sich Schock und Depression als Zimmergenossen hinzu. Es war nicht zu verkennen, dass in Davey Wallaces geschundenem Körper momentan keine Besenkammer mehr frei war.

Plötzlich kam mir ein Gedanke. Die Frage nach den Ereignissen unmittelbar vor dem Überfall hatte mir immer so sehr auf der Seele gelegen, dass ich Davey nie gefragt hatte, ob ihm während seiner Wache früher an dem schicksalhaften Tag etwas Ungewöhnliches aufgefallen war.

»Haben Sie mein Notizbuch gefunden, Mr. Lennox?«, fragte Davey durch den Drahtverhau seiner zusammengebundenen Zähne – noch etwas, was einem ungefähr eine Woche nach einer Prügelei ziemlich übel zusetzen kann: sich durch ein Röhrchen ernähren zu müssen, weil die Zähne fixiert sind. Wer immer der Verantwortliche war, er hatte bei mir ein Konto eröffnet, und ich war bekannt dafür, wie großzügig ich Zinsen zahlte.

»Nein, Davey«, sagte ich. »Wo der Wagen geparkt war, habe ich keine Spur davon gefunden.«

»Ich hab immer wieder an das Notizbuch gedacht, Mr. Lennox. Ich hab hier viel Zeit zum Nachdenken. Ich verlege nie etwas. Ich bin da sehr gewissenhaft. Trotz allem, was mir passiert ist, trotz des Durcheinanders weiß ich genau, ich hatte das Notizbuch in meiner Jackentasche. Da müsste es immer noch sein, aber es ist weg. Wer immer mich zusammengehauen hat, hat es geklaut. Ich glaube, ich hab irgendwas oder irgendwen beobachtet, ohne es für wichtig zu halten, und sie dachten, ich hätte es mir aufgeschrieben.«

»Und was war das?«

»Darüber zermartere ich mir das Hirn. Mir tut schon der Kopf davon weh.« Davey verzog das Gesicht. Irgendein Schmerz in seinem Körper hatte sich ein bisschen verlagert, nur damit der Junge nicht vergaß, dass der Schmerz bei ihm nach wie vor zur Miete wohnte. »Wie gesagt, ich hab viel Zeit zum Nachdenken. Nur ist an dem Tag nichts Besonderes passiert. Das Einzige, was mir einfällt, ist das Auto, das ich gesehen hab.«

»Jemand, der Kirkcaldy besucht hat?«, fragte ich, zündete eine Zigarette an und hielt sie Davey an die Lippen.

»Nein. Zwei Leute saßen in dem Wagen, aber ich hab sie nicht richtig erkennen können. Ich hab nur den Fahrer ganz kurz gesehen, als sie vorbeifuhren. Ich dachte, sie würden anhalten und zu Mr. Kirkcaldy gehen, aber der Wagen fuhr weiter. Ich weiß, es ist bekloppt, aber ich hatte den Eindruck, dass sie mich vielleicht gesehen haben, wie ich da parkte und das Haus beobachtete, und dass sie deshalb nicht anhalten wollten.«

»Das ist nicht bekloppt, Davey. Das ist Instinkt. Wenn Dex Devereaux hier wäre, könnte er dir sagen, dass jeder Detektiv, jeder Polizist und jeder G-Man vom FBI seinen Instinkt braucht. Hast du die Automarke erkannt?«

»Ich verstehe nicht viel von Autos«, sagte Davey betrübt, als hätte er mich schon wieder im Stich gelassen. »Deshalb hab ich ja nach dem Notizbuch gefragt. Ich hab mir das Nummernschild aufgeschrieben. Aber es war ein großes Auto. Bestimmt teuer.«

»Welche Farbe hatte es?«

»Rot«, antwortete Davey. »Tiefrot. So wie Wein, in der Art.«

»Burgunderrot?«

»Tut mir leid, weiß ich nicht ... ist das wie Wein?«

»Weißt du, wie ein Lanchester aussieht? Oder ein Daimler Conquest?«

»Tut mir leid, Mr. Lennox. Wie gesagt, ich versteh nicht viel von Autos.«

»Macht nichts, Davey. Du hältst dich tapfer. Wirklich. Ich habe so eine Ahnung, wer vielleicht in dem Auto gesessen hat. Danke, du warst mir eine große Hilfe.«

Ich ließ Davey, der sich über mein Lob freute, in aufgehellter Stimmung zurück. Von einem Münztelefon im Krankenhaus rief ich Lorna an. Sie klang noch immer distanziert und kühl, aber ich versuchte, mich so schwatzhaft und formlos zu geben, wie ich konnte, um den wahren Grund meines Anrufs zu verschleiern: eine beiläufige Frage, getarnt im dichten Strauchwerk der Belanglosigkeit.

»Nein«, antwortete sie. »Jack ist im Moment nicht hier. Er verbringt nicht seine ganze Zeit bei uns, weißt du.«

»Hast du eine Idee, wo er sein könnte?«

»Weiß ich nicht. Wahrscheinlich im Büro. Er hat sein Büro über der Boxhalle in Maryhill. Wieso? Woher das plötzliche Interesse an Jack?«

»Hat keinen besonderen Grund«, log ich und fragte mich, wie viele Boxhallen es in Maryhill gab. »Ich wollte mit ihm nur über den Kampf gestern Abend sprechen.«

Ich wechselte das Thema und erkundigte mich, ob ich sie am Abend besuchen kommen solle. Sie sagte, sie gehe früh zu Bett; der Arzt habe ihr etwas zum Einschlafen gegeben. Vielleicht erklärte das, weshalb sie so distanziert klang, aber ihre Kühle hatte nicht nur pharmakologische Ursachen. Vielleicht verlor ich mein Feingefühl. Ich hatte nie begriffen, wie Frauen, die einmal meinem Charme verfallen waren, ihm plötzlich widerstehen konnten. Aber irgendwie schafften sie es sehr gut.

Eigenartig, wie die Dinge sich plötzlich zusammenzufügen schienen: rote Bänder an einem Vardo-Wagen, eine dahingeworfene Bemerkung von Polen-Tony, die Farbe eines Wagens, an den Davey Wallace sich erinnerte, die Erwähnung eines Offiziers der Fusiliers Marins in einem Gerichtsprotokoll aus Greenock und eine zurückhaltende Antwort Lornas.

***

Ich verzettelte mich, indem ich an zwei Fällen gleichzeitig arbeitete, die sich beide als sehr viel größer erwiesen hatten, als sie mir zuerst erschienen waren. Ich hatte geglaubt, Sammy Pollock zu finden wäre ein unkomplizierter Auftrag und würde mich nicht daran hindern, den Fragen um Bobby Kirkcaldy auf den Grund zu gehen, aber eigentlich hätte ich mir denken können, dass nichts im Leben unkompliziert ist. In Wirklichkeit hatte ich schon eine Zeit lang den Verdacht gehegt, dass zwischen beiden Fällen eine Verbindung bestand. Die zeitliche Abfolge war voller merkwürdiger Zufälle.

Sammy Pollocks Verschwinden war mit zwei anderen Dingen zusammengefallen: dem Diebstahl eines oder mehrerer von Alain Barniers Jadedämonen und dem vorzeitigen Ableben von Small Change MacFarlane.

Willie Sneddon war die Sorte Mann, den mein Dad als so krumm bezeichnet hätte, dass man ihm das Grab mit einem Korkenzieher ausheben müsse. Ich hatte noch immer Zweifel, dass Sneddon mir alles gesagt hatte, was es über seine Beziehung zu Bobby Kirkcaldy zu sagen gab. Andererseits hatte ich keinen Grund, die Wahrheit dessen anzuzweifeln, was ich von ihm erfahren hatte. Und das schloss die Tatsache mit ein, dass jemand oder etwas Small Change MacFarlane in Todesangst versetzt hatte, ehe Sneddon sich am Tag seiner Ermordung mit ihm traf.

Für mich ähnelte ein Zufall ein bisschen dem Sozialismus: nette Idee, die aus der Ferne ganz gut aussieht, aber wenn man die Sache ein wenig genauer betrachtet, bringt man es einfach nicht über sich, daran zu glauben. Ich war mir fast sicher, dass der Mord an MacFarlane mit wenigstens einem der Fälle zusammenhing. MacFarlane war ein Mann gewesen, der im Hintergrund die Fäden zog, ein Mann mit Geld, der seine Finger in fast so vielen Kuchen hatte wie Sneddon. Doch im Gegensatz zu Sneddon konnte MacFarlane sich die Finger verbrennen. In meinem Kopf fügte sich ein Bild zusammen. Wie ein Picasso war es ziemlich hässlich und wirr und ergab für mich überhaupt keinen Sinn.

Mein vordringliches und unmittelbares Problem bestand darin, wie ich zwei Personen gleichzeitig überwachen sollte: Alain Barnier und Jack Collins. Dann kam mir eine Idee, aber zuerst musste ich mit Collins sprechen.

***

Collins hatte ein kleines Büro mit einem kleinen Vorzimmer in der ersten Etage eines zweistöckigen Gebäudes, dessen Erdgeschoss die Boxhalle bildete. Das Gebäude war schon älter und leicht verfallen. Ich durchquerte die Tür der Trainingshalle und stieg die Treppe zu den Büros hinauf.

Als ich ins Vorzimmer trat, begrüßte mich eine Sekretärin, bei der ich annahm, dass sie nicht wegen ihrer Stenokenntnisse eingestellt worden war. Ihr Haar zeigte jenes Blond, das aus der Flasche kam, und ihre Figur entsprang dem feuchten Traum eines Teenagers. Ihr Lächeln teilte blutrote Lippen und ließ weiße Zähne aufblitzen, als sie mich ins Büro führte.

Jack Collins saß hinter einem Schreibtisch in einer Wolke aus blaugrauem Zigarettendunst. Als ich hereinkam, fuhr er gerade mit dem Finger eine Spalte in einem Kontenbuch entlang und drehte die Kurbel einer Rechenmaschine. Er war in Hemdsärmeln, und Ärmelschoner direkt über dem Ellbogen und unter dem Bizeps schützten seine Manschetten vor Tintenklecksen. Jack Collins aus der Nähe zu sehen bestätigte den ersten Eindruck, den ich von ihm gehabt hatte: Er war elegant, teuer gekleidet und exquisit frisiert für eine Stadt, in der man es schon für dandyhaft hielt, wenn sich jemand den Kohlestaub von der Mütze klopfte, ehe er mit einem Mädchen in eine dunkle Gasse ging. Er war schlank und hatte ein langes Gesicht, dessen Züge zwar vornehm wirkten, aber auch ein wenig zu fein. Sein schwarzes Haar trug er tadellos aus der breiten, gebräunten Stirn zurückgekämmt, und auf der Oberlippe hatte er ein Menjoubärtchen, das so makellos war, dass er es vor weniger als einer Stunde gestutzt haben musste.

»Jemand will dich sehen, Jacky«, sagte die blonde Sekretärin über meine Schulter hinweg.

»Senga«, sagte er in genervtem Tonfall, wobei er an mir vorbeisah. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst dir erst ihre Namen geben lassen?«

»Mein Name ist Lennox«, sagte ich hilfsbereit.

»Ich weiß, wer Sie sind«, erwiderte er, blickte wieder Senga an und entließ sie mit einer ungeduldigen Gebärde. »Schon gut, mach weiter mit deiner Arbeit. Schließ hinter dir die Tür. – Bitte entschuldigen Sie«, sagte er zu mir. »Ich arbeite sie noch ein.«

»Könnte mir vorstellen, dass es dabei einige Reibereien gibt«, erwiderte ich und setzte mich. Er drückte eine Zigarette aus und zündete sich sofort die nächste an. »Verzeihung.« Er schob das Päckchen zu mir. »Bedienen Sie sich.«

»Nein, danke«, sagte ich, nahm mein Zigarettenetui heraus und steckte mir eine von meinen eigenen an. »Ich rauche nur ohne Filter. Die sind französisch, stimmt’s?« Ich machte eine Kopfbewegung zu dem überquellenden Aschenbecher. Jeder Stummel hatte zwei goldene Ringe um den Filter.

»Stimmt. Montpelliers. Ich rauche sie normalerweise nicht, aber ein befreundeter Importeur hat mir einen Posten davon geschenkt. Sie sind der Bursche, der sich mit Lorna trifft, nicht wahr?«

»Ihre Halbschwester, genau.«

Er blickte mich ruhig und kühl an. »Sie wissen davon?«

»Dass Sie Small Change MacFarlanes Sohn sind? Tut mir leid, aber das ist kein so großes Geheimnis, wie Sie vielleicht glauben. Halb Glasgow weiß Bescheid.«

»Soso. Was kann ich für Sie tun, Mr. Lennox?« Er war noch immer entspannt. Collins war entweder außerordentlich gelassen, oder er war gewappnet, was meinen Besuch anging.

»Ich habe mich mit ein paar Dingen beschäftigt, die mit Bobby Kirkcaldy zu tun haben. Ich dachte, Sie könnten mich ... nun ja, erleuchten.«

»Wirklich? Wieso ich?«

»Sie wissen etwas, Jack ... Es ist Ihnen doch recht, wenn ich Jack zu Ihnen sage? Nun, Jack, ich bin ein ziemlich philosophischer Mensch. Ich reflektiere über die Natur der Dinge, unter anderem über die Natur des Zufalls.«

»Ach?« Er gab sich unbeeindruckt. Vielleicht verstellte er sich nicht einmal.

»Ja. So wie die Natur kein Vakuum erträgt, ertrage ich keine Zufälle.«

»An was für einen Zufall denken Sie denn so?«

»Nun, zuerst einmal sind Sie der halb geheime und vollkommen illegitime Sohn von Small Change MacFarlane. Die Stadt hat mehr als zwei Millionen Einwohner, und doch hat der Mörder Ihres Vaters ausgerechnet in der Boxhalle unter Ihrem Büro trainiert. Seine Verteidigung beruht sogar auf seiner Behauptung, dass er einen anonymen Anruf ausgerechnet an der einzigen Stelle bekam, wo er telefonisch erreichbar war: in ebendieser Boxhalle. Dann hätten wir Bobby Kirkcaldy, der berühmt ist für seine strengen Trainingspläne. Und wo trainiert er? In der Boxhalle unter Ihnen. Dann hätten wir natürlich die Tatsache, dass jeder Buchmacher in der Stadt Zahnschmerzen hat, weil Bobby Kirkcaldy mitten in einem Kampf, den er eigentlich locker hätte gewinnen müssen, zu Boden gegangen ist. Jeder Buchmacher musste seine Goldplomben versilbern, nur Sie nicht.«

»Ich bin ja auch kein Buchmacher.«

»Offiziell nicht, aber Sie und Small Change hatten ein richtig hübsches MacFarlane-und-Sohn-Geschäft am Laufen. Ich nehme an, Sie haben sein Buch an sich genommen. Deshalb hat die Polizei keine Papiere gefunden. Mein lieber Mann, Sie müssen ganz schön schnell reagiert haben. Außerdem kommt es mir so vor, als wäre Ihnen die Trauer um Ihren Vater nicht auf den Geschäftssinn geschlagen.«

»Sie werden beleidigend, Mr. Lennox. Und wie kommen Sie auf den Gedanken, ich hätte nichts verloren? Schließlich hat jeder damit gerechnet, dass der Kampf für Bobby Kirkcaldy ein Spaziergang wird.«

»Ein Freund von mir schien zu glauben, dass jemand vorher wusste, wie der Kampf ausgeht.«

»Sie sollten nicht alles glauben, was Polen-Tony Ihnen sagt«, erwiderte Collins höhnisch. Auf den Kopf gefallen war er nicht.

»Ich verstehe nicht mal alles, was Polen-Tony mir sagt. Und ehe Sie mit dem Finger auf jemanden zeigen ... Ich habe viel herumgefragt. Jeder sagt, Sie wären es, der bei dem Kampf das große Geld macht. Eine Menge Finger zeigen auf Sie

»Was wollen Sie von mir, Lennox?« Er lehnte sich zurück, die Ellbogen auf den Stuhllehnen, die Finger unter dem Kinn verflochten: eine Pose nachdenklicher Konzentration.

»Ich will wissen, was genau Sie, Small Change und Bobby Kirkcaldy ausgeheckt haben. Willie Sneddon hat mich engagiert, um herauszufinden, wer Kirkcaldy einzuschüchtern versucht, und auf seine Investition aufzupassen. Nach dem abgekarteten Kampf gestern Abend sieht es mir ganz danach aus, als hätte der Unbekannte Erfolg gehabt, und Sneddons Investition ist im Klo runtergespült. Entweder das, oder es wurde eine Abmachung getroffen, durch die ihr alle vom Haken seid. Ich will wissen, mit wem.«

Collins musterte mich, während ich redete, noch immer kühl und unbeeindruckt. Ich musste mich dem Verlangen widersetzen, um den Schreibtisch herum zu gehen und ihm den Stuhl unter dem Hintern wegzutreten.

»Wenn das, was Sie sagen, die Wahrheit wäre – was würde Sie das angehen? Warum sollte es Sie interessieren? Sie haben den Auftrag Sneddons erfüllt. Der Kampf ist gelaufen, und das Ergebnis steht fest, ob es Sneddon gefällt oder nicht.«

»Tja, erstens habe ich so ein komisches Gefühl, dass Small Change nicht von irgendeinem desillusionierten Zigeunerschläger umgebracht wurde. Zweitens – und wenn Sie es noch so gelassen aufnehmen – ist Lornas Welt zusammengebrochen, und ich habe das Gefühl, ich bin ihr etwas schuldig. Und Punkt drei macht mich besonders rebellisch.« Ich stand auf, stützte mich mit den Knöcheln auf dem Tisch ab und schob den Kopf vor. »Da liegt ein junger Mann im Southern General, der sein Mittagessen mit dem Strohhalm zu sich nehmen muss, nur weil er vielleicht gesehen hat, wie Sie zu Bobby Kirkcaldy gefahren sind, um mit ihm zu reden. Und da wird es ein bisschen verwirrend. Dass Kirkcaldy und Small Change geschäftlich miteinander zu tun hatten, war kein Geheimnis. Und bei wenigstens einem Vorhaben sind Sie Small Changes Partner gewesen. Deshalb frage ich mich, wer an dem Abend bei Ihnen im Auto war und weshalb er nicht gesehen werden wollte.«

»Hören Sie, Lennox, wenn Sie wirklich Jimmys Tod aufklären wollen, wie Sie behaupten, dann bin ich Ihnen dankbar – aber für mich sieht es sehr danach aus, als hätte die Polizei den Schuldigen gefasst. Ganz abgesehen davon: Glauben Sie im Ernst, ich hätte etwas mit dem Mord an Jimmy zu tun? Wie Sie selbst sagen, er war mein Vater, ob das nun öffentlich bekannt war oder nicht, und er hat sich stets um mich gekümmert. Wir hatten noch sehr viel miteinander vor. Er hatte große Pläne mit mir. Warum sollte ich mit seinem Tod zu tun haben?«

»Das glaube ich ja auch gar nicht. Ich bezweifle, dass Sie für seinen Tod verantwortlich sind, und ich denke nicht, dass Sie seinen Tod wollten. Ich glaube aber, dass Sie Angst haben. Und ich weiß, dass Small Change kurz vor seinem Tod vor Angst halb verrückt gewesen ist. Wer immer ihm diese Angst eingeflößt hat – er hat erreicht, dass Sie spuren, weil Sie wissen, dass Ihnen sonst das Gleiche blüht.«

»Sie reden Blödsinn, Lennox. Weiß der Teufel, wie Sie auf so einen Unsinn kommen. Ich war an dem Tag nicht mal in der Nähe von Kirkcaldys Haus ... und auch an keinem anderen Tag.«

»Welcher Tag? Ich habe nicht gesagt, welcher Tag. Und ich habe auch nicht gesagt, ob es Tag oder Nacht war.«

Collins lachte leise auf. »Sie werden mich nicht durch Tricks dazu bringen, dass ich irgendetwas sage, weil ich nichts zu sagen habe. Sie bellen den falschen Baum an.«

»Wirklich? Ich sehe das anders. Aber es ist schon richtig, ich habe keine Beweise. Noch nicht. Sobald ich etwas habe, wird es interessant sein zu sehen, wer Ihr größeres Problem ist: die Polizei oder Willie Sneddon. In der Zwischenzeit sollten Sie gut nachdenken. Falls Sie zu dem Schluss kommen, dass Sie meine Hilfe brauchen, um rauszukommen, wo immer Sie hineingeraten sind, rufen Sie mich an.« Ich schnippte ihm betont meine Visitenkarte auf den Schreibtisch. Er hob sie betont nicht auf.