13.

Die Fahrradlampe war bereits aus und lag wieder in meiner Tasche. Ich kauerte mich hinter Miss Mintos Schreibtisch und duckte mich in die Öffnung für die Knie. Zu versuchen, durch die Tür zu verschwinden, hatte keinen Sinn: Wen immer ich da gehört hatte, er stand vor der Tür. Wieder spielte ich alle Möglichkeiten in meinem Kopf durch. Es konnte nur wieder der Nachtwächter sein, der eine zweite Runde durch diesen Teil der Zollfreizone machte; vielleicht hatte er aber auch bemerkt, dass das Vorhängeschloss fehlte, und die Polizei gerufen.

Ich öffnete langsam den Reißverschluss der Reisetasche, sodass ich darin herumfingern konnte, bis ich meinen Schlagstock in der Hand hielt. Möglicherweise steckte ich in einer Situation, in der ich nicht gewinnen konnte. Wenn ich da einen Nachtwächter vor der Tür hörte, war es mit ziemlicher Sicherheit ein alter Mann, und dann müsste ich den Schlagstock sehr dosiert einsetzen. Ein zu harter Hieb, und ich sah mich einer Mordanklage gegenüber. Außerdem hatte ich zwar eine unangenehme Neigung zur Gewalt, vermied es aber, sie gegen Unschuldige zu richten. Wenn sich jedoch herausstellte, dass ich einen Polizisten vor mir hatte, müsste ich ihn hart treffen und dann die Beine in die Hand nehmen. Einen Glasgower Polizisten niederzuschlagen erwies sich für den Angreifer normalerweise als insgesamt erheblich schmerzhafter als für den Angegriffenen; die Jungs in Blau gaben im Revier einen hübschen Empfang für Typen, die einen der ihren verprügelt hatten. Angeblich wurde man dabei nackt ausgezogen und in eine triefnasse Wolldecke gehüllt. Aus irgendeinem physiologischen Grund, der mein Begriffsvermögen überstieg, verhinderte die nasse Decke blaue Flecke, wenn ungefähr zwanzig Highlander-Jungs mit ihren Stiefeln und Schlagstöcken loslegten. Das zweite schmerzhafte Element war gerichtlicher Natur: Ein Angriff auf einen Polizeibeamten wurde meist mit einer Knaststrafe im Verein mit körperlicher Züchtigung bestraft. Prügel mit Birkenruten. Man wurde an einen Tisch gebunden und mit getrockneten Zweigen gepeitscht. Herzerwärmend altmodisch, aber unglaublich schmerzhaft.

Ich überlegte, welche Möglichkeiten mir blieben, und kauerte mich tiefer in die Beinmulde des Schreibtisches. Einen Moment lang erhellte eine Taschenlampe die Ecken und Winkel der Nissenhütte. Dann wurde die Lampe wieder ausgeknipst, und die Neonröhre über mir sprang knisternd und flackernd an.

»Du hattest recht, Billy.« Die Stimme besaß den Singsang der Highlands. Ein Bulle. Möglichkeit zwo. Ich vermutete, bei dem angesprochenen Billy handelte es sich um den Nachtwächter. »Jemand hat das Schloss geknackt.«

Schweigen. Ich blieb reglos unter dem Schreibtisch und atmete flach, ohne auf das Donnern meines Herzschlags in meinen Ohren zu achten. Während meiner gesamten Zeit in Glasgow hatte ich es geschafft, einer Strafanzeige aus dem Weg zu gehen. Für diese Sache hier käme ich hinter Gitter. Es sei denn, ich kam an dem Bullen und dem Nachtwächter vorbei.

»Also gut!«, rief der unsichtbare Highlander in die Nissenhütte. »Hier spricht die Polizei. Ich weiß, dass Sie da drin sind.« Nein, weißt du nicht, dachte ich. Ich merkte es an seiner Stimme. »Zeigen Sie sich, und machen Sie keine Umstände.«

Schweigen. Ich saß regungslos und völlig still da und umfasste den Schlagstock so fest, dass ich spürte, wie der Herzschlag in meinen Fingerspitzen im gleichen Takt pochte wie der Puls in meinen Ohren.

»Kommen Sie, lassen wir den Blödsinn ...« Wieder klang die Stimme, als wäre der Bursche überzeugt, ein leeres Zimmer vor sich zu haben. Ich hörte Holz auf Holz: Die Klappe in der Empfangstheke wurde umgelegt. Jetzt würde der Bursche hindurchtreten, den Schlagstock gezückt. Schottische Polizeischlagstöcke bestanden aus karibischem Guajakholz, einem der härtesten Hölzer der Welt, knochenbrechend und muskelbetäubend hart. Was immer ich tat, ich musste unbedingt einen Schlag gegen den Kopf vermeiden. Ich hörte seine Schritte. Er stand am Nachbarschreibtisch. Er trat weiter vor. Einen Schritt. Zwei. Er atmete langsam, regelmäßig. Angst hatte er nicht. Dann bewegte sich ein Stuhl oder dergleichen. Er stand jetzt neben meinem Schreibtisch, konnte mich aber nicht sehen. Noch nicht.

»Sieht nicht so aus, als wäre etwas angerührt worden«, sagte er. »Vielleicht hast du sie verscheucht, Billy. Anscheinend ist keiner mehr hier.« Seine Schuhe knirschten auf dem Boden. Er blickte sich um. Sieh nicht unter den Schreibtisch! Ich strahlte den Gedanken zu ihm ab. Was immer du tust, du großer, dreckiger Schluchtenscheißer, sieh nicht unter den Schreibtisch!

»Billy, geh mal den Besitzer anrufen«, sagte er in seinem Singsang. »Ich bleibe hier, bis er kommt.«

»Ja, gut, Iain. Mach ich.« Eine ältere Stimme, diensteifrig. Autoritätsergeben. Gut, dachte ich, einer weniger. Aber wenn ich an dem Bullen vorbei wollte, musste ich kämpfen.

Ich hörte, wie der Nachtwächter hinter sich die Tür schloss. Der Polizist stand weiterhin nur eine Armlänge von mir entfernt. Innerlich ging ich die Möglichkeiten durch. Bis Barnier hier eintraf, verging wenigstens eine halbe Stunde, aber woher sollte ich wissen, dass bis dahin nicht noch ein Polizist kam?

Plötzlich knarrte über mir der Schreibtisch. Beinahe wäre ich aus meinem Versteck gesprungen, doch ich blieb ruhig: Der Polizist hatte sich auf die Schreibtischkante gesetzt. Ich hörte, wie ein Streichholz angerissen wurde; dann roch ich Zigarettenrauch. Ich hörte ein gedämpftes Klirren: ein Telefonhörer wurde abgehoben. Wählen. Iain, den ich noch nicht gesehen hatte, wollte den Sergeanten vom Dienst sprechen. Er meldete ihm, dass er sich um einen versuchten Einbruch kümmere, und nannte die Adresse. Versuchter Einbruch! Der Trottel hatte das Büro nicht ansatzweise durchsucht, schien aber schon überzeugt davon zu sein, dass sich hier niemand außer ihm aufhielt. Im Stillen dankte ich der Glasgower Polizei aus tiefster Seele, dass sie so gern Highlander einstellte.

Mein Herz schlug schneller. Ich wusste, dass ich handeln musste, sobald der Bursche auflegte. Er glaubte nicht, dass jemand hier war ... nun, ich würde ihn überraschen. Dummerweise war ich in der denkbar ungünstigsten Position, um ihn anzugreifen. Ich lauschte auf jedes Wort, das er in den Apparat sprach.

»Alles klar, Sergeant«, sagte er. Ich hörte das Klicken, als der Bakelithörer auf die Gabel gelegt wurde.

Ich wollte gerade loslegen, als ich hörte, wie Bleistifte auf den Boden klapperten. Es knarrte, als der Polizist sich von der Schreibtischkante erhob. Ich vermutete, dass er die Bleistifte vom Tisch gestoßen hatte. Statt aufzuspringen, schob ich mich vorsichtig und lautlos unter dem Schreibtisch hervor, drehte mich um und richtete mich langsam auf. Der Bursche trug Uniform, ganz wie erwartet, hatte sich gebückt und las die Bleistifte vom Boden auf, wobei er so poetisch fluchte, wie nur Highlander es können. Dann richtete er sich auf und drehte sich ahnungslos zu mir um.

Er hatte nicht genügend Zeit, um Überraschung oder Erschrecken zu zeigen. Ich zog ihm den Schlagstock über die linke Schläfe, und er brach zusammen. Hinter dem Hieb lagen kompliziertere Berechnungen, als Einstein sie in die Relativitätstheorie investiert hatte. Wenn ich einen Bullen umbrachte, würde ich hängen. Und wenn sie mich nicht fanden, würde irgendein armer Kerl dafür baumeln. Der Gerechtigkeit musste Genüge getan werden. Andererseits musste ich Iain so lange schachmatt setzen, wie ich brauchte, um zu verschwinden.

Ich musterte ihn. Er war gelähmt, nicht bewusstlos. Perfekt. Ich schnappte mir meine Tasche, machte einen Satz über Iain hinweg, huschte zur Tür und knipste das Licht aus. Ich hätte alles getan, um meinen benommenen Schafschänder zu verwirren.

Ich sah Billy, den Nachtwächter mit der flachen Mütze, den das Licht der einen Laterne beschien, ungefähr hundertfünfzig Meter entfernt. Ich wandte mich in die andere Richtung und brüllte in meiner bestmöglichen Glasgower-Imitation einem nicht vorhandenen Komplizen zu, der bereits außer Sicht war: »Hau ab, Jimmy! Der Nachtwächter!«

Dann sprintete ich auf die Stelle zu, wo ich das Loch in den Zaun geschnitten hatte. Ich warf meine Tasche hinüber und robbte unter dem Maschendraht durch.

Ich blickte hinter mich: Keine Spur von dem Polizisten, und der alte Nachtwächter würde nicht riskieren, zwei Desperados aus Drumchapel nachzusetzen.

Ich rannte die Kopfsteinpflasterstraße entlang und sprang in die Sträucher an der Bahnunterführung. Ein weiterer Blick nach hinten. Nichts. Ich zog den Pullover aus, wischte mir damit das Gesicht ab und entfernte so viel Korkkohle wie möglich. Dann warf ich mein Einbruchshandwerkszeug in den Kofferraum, streifte das Jackett über und schwang mich hinters Steuer. Ohne Licht setzte ich auf die Hauptstraße zurück. Ich fuhr langsam, ohne die Scheinwerfer einzuschalten, bis ich das Ende der South Street erreichte. Erst dort schaltete ich das Licht ein und beschleunigte.

Ich fuhr hinaus aufs Land und verließ den Zuständigkeitsbereich der Stadtpolizei von Glasgow. Ironischerweise nahm ich die Greenock Road. Mir begegnete nur ein Auto, das in die andere Richtung fuhr. Zu dieser Tageszeit verwunderte es nicht weiter, dass die Straßen wie ausgestorben waren. Ich fragte mich, ob in dem entgegenkommenden Wagen Barnier gesessen hatte, der von seinem Haus in Langbank zum Schauplatz des Einbruchs fuhr.

Dann schoss mir ein anderer Gedanke durch den Kopf: Ich würde in Langbank vorbeischauen, denn jetzt wusste ich mit Sicherheit, dass Barnier nicht zu Hause war. Und ich hatte alles dabei, was ich zum Einbrechen brauchte. Dann aber redete ich mir die Idee wieder aus. Ich wusste nicht, ob Barnier allein lebte oder nicht, und ich hatte für eine Nacht genügend Kapriolen gemacht. Also fuhr ich an Langbank vorbei und bog nach Süden auf eine einspurige Straße ab, die durch Wälder und Äcker führte. Schließlich fand ich mich an einem Stausee wieder, auf dessen seidigem, ruhigem Wasser sich die Samtwolken spiegelten. Am Rand des Sees stand ein Bauernhaus. Ich fuhr am Ufer entlang bis zur gegenüberliegenden Seite. Dort parkte ich den Wagen unter Bäumen und machte ein Kissen aus meinem Rollkragenpullover. Obwohl mir das Adrenalin noch in den Adern pochte und trotz der Unbequemlichkeit war ich nach wenigen Minuten eingeschlafen.

***

Als ich aufwachte, versuchte ich übellaunig wieder in den Schlaf zurückzufinden und weiterzuträumen. Von mir und Fiona White und einem neuen Leben in Kanada. Oder waren es ich und Sheila Gainsborough gewesen? Meine Nackenschmerzen und das nachdrückliche Stechen der Handbremse in meiner Seite verwehrten mir die Rückkehr in den Traum.

Knarrend klappte ich mich auseinander. Als ich im zu hellen Morgenlicht in den Innenspiegel blickte, bemerkte ich in den Falten und Runzeln meines Gesichts noch immer die Korkkohle: Ich sah aus, als trüge ich Donald Wolfits Bühnenmaske. Ich rollte meine Hemdsärmel hoch und ging über die Straße ans Ufer des Stausees. Mit beiden Händen schöpfte ich Wasser und wusch mir Gesicht und Hals.

Als ich sicher war, alle Spuren meiner nächtlichen Eskapade beseitigt zu haben, fuhr ich zurück in die Stadt. Dabei kam ich mir ziemlich gut vor. Einen Polizisten niederzuschlagen war in Glasgow keine Kleinigkeit, aber ich war mittlerweile überzeugt, dass Billy, der alte Nachtwächter, auf das Grab seiner Mutter schwören würde, dass es zwei Einbrecher gewesen waren, von denen einer Jimmy hieß. Der Bobby, dem ich eins verpasst hatte, konnte nur einen flüchtigen Eindruck von meinem korkgeschwärzten Gesicht bekommen haben. Ich war mir sicher, dass er nur zu bereitwillig bekunden würde, dass es zwei Typen gewesen waren, weil ein Einzelner ihn niemals überwältigt hätte.

Verschleierung konnte ein wahrhaft befriedigender Zeitvertreib sein.

Das selbstgefällige Grinsen verging mir allerdings schnell, als ich an meiner Bleibe auf der Great Western Road vorbeifuhr, denn vor dem Haus stand ein blitzblank polierter schwarzer Wolseley 6/90 und funkelte in der Morgensonne. Besonders beeindruckend fand ich den strahlenden Glanz, den die Werkstatt auf das rechteckige Schild vor dem Kühlergrill des Wagens gezaubert hatte: silberne Buchstaben auf dunkelblauem Grund, die das Wort POLICE bildeten.

Ich fuhr weiter und um die Ecke bis an den Zeitungsstand. Dort kaufte ich die Morgenausgabe des Herald und fuhr zurück. Ich parkte gleich hinter der Ecke. Mein Jackett ließ ich im Wagen, löste meine Krawatte und krempelte mir die Hemdsärmel hoch. Dann schlenderte ich zu meiner Wohnung zurück und versuchte so unbefangen auszusehen wie nur möglich. Vermutlich hatten die Polizisten die Unschuldsmasche schon tausendundeinmal gesehen, aber ich musste es so aussehen lassen, als wäre ich die ganze Nacht zu Hause gewesen und hätte nur einen Morgenspaziergang gemacht, um mir die Zeitung zu holen. Alles hing natürlich davon ab, ob der Polizeiwagen hier nicht schon eine halbe Stunde oder länger wartete.

Als ich näherkam, öffneten sich beide Hintertüren des Polizeiautos. Superintendent Willie McNab stieg auf der einen, Jock Ferguson auf der anderen Seite aus. Ich setzte meine beste erstaunte Miene auf, die vermutlich genauso überzeugend war wie bei ihrer letzten Benutzung, als meine Mutter mir zum Geburtstag den Wollpullover schenkte, den ich sie drei Wochen lang hatte stricken sehen.

»Gentlemen ... was kann ich für Sie tun?«

»Sie sind Frühaufsteher, Lennox«, sagte McNab säuerlich.

»Sie wissen ja, was man so sagt von Gold im Mund und so weiter.«

»Steigen Sie ein, Lennox.« McNab trat zur Seite und hielt mir die Tür auf. Ich stellte mir vor, dass es die erste von vielen Türen wäre, die hinter mir ins Schloss fielen. Mein Mund war trocken, und mein Herz pochte wie verrückt, aber ich gab mich nach außen so ungerührt, wie ich konnte.

»Darf ich mir noch meine Jacke holen?« Mit dem Daumen zeigte ich in Richtung des Hauses. Dabei sah ich Fiona White am Fenster ihrer Wohnung stehen.

»Gehen Sie mit«, sagte McNab zu Ferguson, der mir achselzuckend ins Haus folgte.

Als wir die Treppe hinaufstiegen, nutzte ich die Gelegenheit. »Was soll das Ganze?«, fragte ich.

»Das werden Sie schon sehen«, erwiderte er.

Ich wusste, dass er recht hatte.

***

Der Streifenwagen fuhr nicht zum Polizeipräsidium am St. Andrew’s Square. Während ich zwischen McNab und Ferguson gezwängt auf der Rückbank saß, merkte ich sehr schnell, dass es zum Fluss und zur Zollfreizone ging.

»Wohin fahren wir?«, fragte ich, als hätte ich nicht die leiseste Ahnung. Wir bogen auf die Kopfsteinpflasterstraße und erreichten den Brückenbogen, unter dem ich den Atlantic versteckt hatte.

Wir hielten nicht, sondern fuhren weiter, bis wir einen Streifenbeamten mit den Zebramanschetten der Verkehrspolizei über der Uniformjacke sahen. Er schien an einem Grasstreifen zu stehen. Als wir näher kamen, gab er uns ein Zeichen zum Einbiegen. Die kaum erkennbare Einmündung einer weitgehend überwucherten, gepflasterten Zufahrtstraße, gerade breit genug für den Wolseley, öffnete sich vor uns, und wir holperten den Weg bis zum Flussufer hinunter. Der Weg verbreiterte sich zu einem kahlen Uferstreifen. Offenbar war hier einmal ein Kai gewesen, doch die deutsche Luftwaffe hatte ihn gekonnt für den Rest des Jahrhunderts unbrauchbar gemacht. Gewaltige Betonklötze ragten wie Zahnstummel aus dem Gras, und rostige Stahlstangen lugten verborgen aus den Bruchkanten hervor. An einer Ecke des Geländes stand ein Bagger; seine Schaufel ruhte schwer auf dem Boden. Wo offenbar die Ladezone des Kais gewesen war, standen dicht am Wasser vier Polizeiautos und ein Krankenwagen, der es auf der Zufahrt schwer gehabt haben musste. Was immer hier los war, es sah nicht danach aus, als ginge es um meinen Einbruch in Barniers Büro.

McNab und Ferguson führten mich zu den geparkten Fahrzeugen.

»Er wurde hier heute Morgen von Arbeitern gefunden, die das Gelände für weitere Zolllagerhäuser freiräumen sollten«, sagte Ferguson. »Wir nehmen an, dass er seit mindestens einem Tag tot ist.«

»Wer? Und was hat das mit mir zu tun?«, fragte ich ehrlich verwirrt. Die hintere Ladetür des Rettungswagens stand offen; auf der Trage darin lag ein Körper, bedeckt mit einer grauen Decke.

»Was es mit Ihnen zu tun hat?« McNab musterte mich höhnisch. »Das will ich von Ihnen wissen. Wie uns zu Ohren gekommen ist, suchen Sie den Kerl schon über eine Woche. Und jetzt finden wir ihn tot auf.«

Meine Eingeweide machten einen Hüpfer. Für ein paar Sekunden reiste ich geistig in die Zukunft und malte mir aus, wie ich vor Sheila Gainsborough stand, nach Worten suchend, um ihr zu sagen, dass ich ihren Bruder gefunden hatte. Tot.

Also war John Largo kein Spuk. Keine Schattengestalt ohne Substanz. Und er hatte Sammy Pollock doch noch eingeholt.

McNab zog die Decke zurück. »Sie kennen ihn, vermute ich?«

»Sie vermuten richtig«, sagte ich resigniert, während ich auf die Leiche schaute. Hinter der stillen Resignation versteckte ich mein Erstaunen und meine Erleichterung. »Das ist Paul Costello.«

Costellos Augen standen weit offen. Staubkörner und Erdkrümel lagen darauf; bei dem Anblick wollte man unwillkürlich blinzeln. Sein Gesicht war bleich, sein Haar wirr. Die Blässe seiner Haut stand in schroffem Kontrast zu der lebhaften Farbe der klaffenden Wunde, die sich wie das Lächeln eines Clowns über seine Kehle zog. Er war tot, sehr tot.

»Warum haben Sie Costello gesucht?«, fragte McNab. Er schlug die Decke wieder über das tote Gesicht.

»Sein Vater, Jimmy Costello, hat mich darum gebeten«, antwortete ich wahrheitsgemäß, wenn auch nicht vollständig. »Paul Costello ist vor ein paar Tagen verschwunden. Ohne Ankündigung und vor allem ohne Geld.«

»Aye«, sagte McNab. Seine Stimme triefte vor Misstrauen. »Inspector Ferguson hier sagt, das hätten Sie ausgesagt, als er Sie mit diesem Yank besucht hat, mit diesem Devereaux.«

»Genau.«

»Und das hat er getan, weil Sie ständig den Namen Largo fallen ließen. Halten Sie das hier für Largos Werk?«

Ich blickte auf den bedeckten Leichnam. »Das weiß ich wirklich nicht. Aber wenn Largo ein so großer und gefährlicher Gangster ist, wie Dex Devereaux zu glauben scheint, würde ich vermuten, dass es so ist.«

»Ach? Na, vielen Dank für Ihre unschätzbaren Einsichten, Lennox. Nächste Frage: Wer zum Teufel ist Ihr prominenter Klient? Ein Verwandter des anderen Vermissten?«

Ich seufzte. »Wie ich Inspector Ferguson schon sagte, kann ich meine Klienten nicht preisgeben.«

»Das interessiert mich einen Scheißdreck, Lennox.« McNab trat einen Schritt auf mich zu. Ich brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass seine Hände bereits zu Fäusten geballt waren. Was immer hier geschah, es war erst der Anfang.

»Wenn ich es Ihnen sagen, halten Sie sie dann heraus?«

McNab lachte. Es war ein hässlicher, spöttischer Laut. »Glauben Sie etwa, ich muss mit Ihresgleichen verhandeln, Lennox? Ich tue, was ich will, und ich rede, mit wem ich will. Ich führe eine Morduntersuchung, Sie Clown!«

»Und das ist noch lange nicht alles. Jemand veranstaltet in dieser Stadt ein sehr großes Spiel, Superintendent. Größer als alles, was die hiesigen Talente so aufzubieten haben. Jetzt können Sie mich natürlich niedertrampeln und sich wie ein großer Macker fühlen. Ich tue dann genau das, was Sie wollen, und lasse die Finger von der Sache. Mir ist es egal. Aber wenn wir zusammenarbeiten, rechnet man Ihnen vielleicht an, dass Sie den größten Fall geknackt haben, den es seit Kriegsende in dieser Stadt gegeben hat. Vergessen Sie nicht, dass Dex Devereaux hier keine Verhaftung vornehmen kann.« Ich blickte Ferguson vielsagend an. »Ja, Jock, ich weiß, dass Devereaux vom FBI ist. Ich wusste es in dem Augenblick, in dem Sie mit ihm zur Tür hereinspaziert kamen.« Ich wandte mich wieder an McNab. »Ich will Ihnen nicht komisch kommen, aber bei diesem Fall geht es um Dinge, die Ihnen nicht klar sind. Und zwar deshalb nicht, weil in Glasgow noch nie so ein Mist an Land gespült wurde. Also gut: Meine Klientin ist Sheila Gainsborough, die Sängerin. Jetzt können Sie mich entweder weiterermitteln lassen, oder Sie können Ihr Flecke auf den Teppich machen. Aber wenn Sie das tun, können Sie mich abschreiben.«

»Ich bin Polizist, Lennox.« McNab sah mich an wie etwas Unappetitliches, das er sich gerade von der Schuhsohle gepult hatte. »Bedeutet Ihnen das denn gar nichts? Ich brauche mich nicht mit Ihresgleichen zu arrangieren. Ich kann auf Hunderte von Beamten zurückgreifen. Richtige Polizisten. Keine Klugscheißer aus Kanada.«

»Okay«, sagte ich achselzuckend. »Ihre Entscheidung.«

»Augenblick mal ...« Jock Ferguson trat zwischen uns. »Lennox hat da nicht ganz unrecht, Sir. Und wir haben niemanden wie ihn, den wir hinzuziehen könnten.«

»Er arbeitet für Gangster, Herrgott noch mal! Woher wissen wir, dass er nicht sie informiert statt uns?«

»Ich arbeite für einen der Drei Könige«, gab ich zu. »Aber nicht in dieser Sache, sondern bei etwas anderem. Und was ich für ihn erledige, ist eine Ermittlung im Rahmen des Gesetzes. Ich weiß, dass Sie keine gute Meinung von mir haben. Das nehme ich Ihnen nicht übel; manchmal geht es mir genauso. Trotzdem, ich bin kein Gauner. Wer mich engagiert, der weiß, dass ich für ihn nicht gegen das Gesetz verstoße.« Ich schwieg. Was für eine hübsche Ansprache. Mir gefiel vor allem das Finale, in dem ich meine Gesetzestreue beschwor. Ausgeschlossen waren nur Dinge wie Einbruch, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Angriff auf Polizeibeamte.

»Sheila Gainsborough?«, fragte McNab. »Wie kommen Sie an so eine Klientin?«

»Ich verkehre in den besten Kreisen, Mr. McNab. Kann ich mich also um den Teil der Sache kümmern, der Sammy Pollock und Sheila Gainsborough betrifft?«

McNab musterte mich lange und eingehend. »Fürs Erste, Lennox. Aber denken Sie immer daran, dass es sich jetzt um eine Mordermittlung handelt.«

Ich blickte zu Paul Costellos Leiche. Bei ihm würde ich mich nicht mehr revanchieren können. »Das werde ich kaum vergessen«, sagte ich.

***

McNab blieb am Fundort, während Jock Ferguson und ich wieder in den polierten Wolseley-Streifenwagen stiegen.

»Ich bringe Sie nach Hause«, sagte er. »Ich muss auf dem Weg nur einmal anhalten, wenn das okay ist.«

»Ich bin froh, dass ich mitfahren darf«, sagte ich.

Ich blieb nicht lange froh. Wir fuhren nur ein kurzes Stück die South Street entlang; dann durchquerten wir das Tor vor den Nissenhütten, in denen diverse Import-Export-Firmen ihre Büros hatten.

»Es dauert nicht lange«, sagte Ferguson, als wir hielten. Vor dem Büro von Barnier und Clement, Import-Export. »Ein dämlicher Einbruch. Ich hätte nichts damit zu tun, wenn so ein blöder Plattfuß es nicht geschafft hätte, sich niederschlagen zu lassen.«

»Nur keine Eile.« Ich lächelte. Das war eine beeindruckende Leistung, denn ein kleiner, älterer Mann in abgewetzter Tweedjacke und einer flachen Mütze musterte mich durch die Heckscheibe des Polizeiwagens: Billy, der Nachtwächter. Er drehte sich gerade eine Zigarette. Auch wenn ich ihn nicht aus der Nähe gesehen hatte, erkannte ich ihn an seiner gebeugten Haltung und der breiten, schmuddeligen Mütze. Ich hoffte, er erwies mir nicht die gleiche Ehre. Ich saß im Fond des Wagens, der uniformierte Fahrer vorn. Dadurch wirkte ich wie ein festgenommener Verdächtiger. Ich musste sichergehen, dass Billy mich nicht identifizierte: Er hatte mich nur von Weitem gesehen. Aber mit dem visuellen Fingerzeig, dass ich scheinbar in polizeilichem Gewahrsam war, zog er vielleicht den richtigen Schluss.

»Ich glaube, ich vertrete mir ein bisschen die Beine«, sagte ich zu dem Fahrer und stieg aus. Ich zündete mir eine Zigarette an. Billy musterte mich genauer. Dann kam er zu mir, ein wenig unsicher, die dünne Selbstgedrehte zwischen den Lippen. Wenigstens rief er nicht gleich die Bullen zu Hilfe. Unter der Krempe seiner schmuddeligen flachen Kappe hatte er die Augen zusammengekniffen.

»’tschuldigung, Officer«, sagte er. »Geben Sie mir mal Feuer?«

»Klar«, sagte ich, plötzlich sehr fröhlich, und riss ihm ein Streichholz an. »’ne Menge Aufregung heute.«

»Aye«, sagte er mit gut gelaunter Traurigkeit. »Zu viel Aufregung für mich.«

»Der Einbruch?«, fragte ich.

»Aye. Diese Rowdys haben den jungen Polizisten niedergeschlagen.«

»Haben Sie die Kerle gesehen?«

»Aye. Aber nicht sehr gut. Um ehrlich zu sein, hatte ich meine Brille vergessen. Dabei ist sie brandneu, von der Krankenkasse. Zwei Stück hab ich davon. Und ausgerechnet in der Nacht, in der was passiert, wo ich gucken muss, lass ich die Mistdinger zu Hause liegen.« Er schüttelte den Kopf, und ich widerstand dem Impuls, ihn zu küssen. »Aber gesehen hab ich die Burschen. Sie sind weggerannt. Zwei waren’s.« Er beugte sich verschwörerisch vor. »Teddy Boys. Die Typen machen nichts als Ärger. Die beiden hatten Glück, dass ich sie nicht erwischt hab.«

Ich lächelte. Diesmal war es ein aufrichtiges Lächeln. Ein von Herzen kommendes, dankbares, fröhliches Lächeln. Bisher war es ein höllischer Morgen gewesen; eine Achterbahnfahrt der Emotionen. Alles, was hatte passieren können, um mich zu beunruhigen, war passiert. Jetzt fehlte mir nur noch, dass mein Schlag auf den Kopf dem Polizisten ein fotografisches Gedächtnis beschert hatte. Andererseits war er ein Highlander-Bulle: Was nutzt ein fotografisches Gedächtnis, wenn kein Film in der Kamera ist.

Als ich über die Mütze meines neuen besten Freundes, des Nachtwächters, hinwegschaute, erblickte ich eine kleine, stämmige Frau, die entschlossenen Schrittes vom Haupttor auf das Büro zugeschritten kam. Sie trug eine Frisur, die man nur als aggressive Dauerwelle bezeichnen konnte. Miss Minto.

Ich konnte sehen, wie sie die Polizeiwagen musterte und offenbar vermutete, dass etwas geschehen war, das ihr kleines, aber eifersüchtig gehütetes Reich der absoluten Ordnung bedrohte. Wenn ich eines nicht gebrauchen konnte, dann dass Miss Minto mich entdeckte – oder mich im Beisein Jock Fergusons fragte, was ich hier schon wieder zu suchen hätte.

»Entschuldigen Sie mich«, sagte ich zu Billy und wandte der näher kommenden Miss Minto den Rücken zu. So beiläufig ich konnte, schlenderte ich zwischen die Nissenhütten, als wollte ich die Rückseite auf Schäden untersuchen. Ich hörte Miss Mintos entschlossene Schritte hinter mir auf dem Kies, dann auf den Holzstufen vor dem Büro. Ich drehte mich rasch um, schnipste die Zigarette weg und ging zum Streifenwagen zurück. Er war für mich die beste Möglichkeit, außer Sicht zu bleiben. Ich hoffte nur, Miss Minto kam nicht wieder aus dem Büro und entdeckte mich im Polizeiauto.

Ich lehnte mich zwischen die Sitze vor, legte die Ellbogen auf die Lehnen und stützte mit der rechten Hand meinen Kopf, was hoffentlich mein Gesicht vor der Bürotür verdeckte. Als Entschuldigung dafür, dass ich in sein Territorium eindrang, hielt ich einen Plausch mit dem Fahrer. Leicht war das nicht: Er war nur unwesentlich gesprächiger als Singer. Nach einer halben Ewigkeit kam Jock Ferguson aus dem Büro und stieg in den Wagen.

»Tut mir leid«, sagte er. »Jetzt fahren wir Sie nach Hause.«

»Kein Problem«, sagte ich fröhlich. »Wie kommt es eigentlich, dass Sie bei Einbrüchen ermitteln, Jock?«

Ferguson zuckte mit den Schultern. »Die Schweine haben einen Polizisten niedergeschlagen. Das ändert alles. Niemand bringt einen von uns ins Krankenhaus und kommt ungestraft davon.«

»Das ist wohl richtig«, sagte ich und versuchte vorauszudenken. Aber nicht zu weit.