5.
Das Britische Weltreich, der habgierigste Fall von Landraub, seit Dschingis Khan zum ersten Mal ein Pony gesattelt hatte, war schon bemerkenswert. Was es besonders bemerkenswert machte, war der Umstand, dass es von den Briten erobert worden war, dem wahrscheinlich reumütigsten Volk auf dem ganzen Planeten. Ich habe sie mir immer als eine Art späte Wikinger mit tadellosem Benehmen vorgestellt, denen all die Notzucht und Plünderei furchtbar peinlich gewesen ist. Mein Interesse an der weltumspannenden Sammlung von Kolonien, Dominions, Mandatsgebieten und Protektoraten rührte wahrscheinlich daher, dass ich ein Produkt davon war: Ich war zwar in Glasgow zur Welt gekommen, bin aber noch als Säugling mit meiner Familie über den Ozean geschippert, und Kanada war für jeden noch immer das »Dominion«. Dann, nach einundzwanzig Sommern, brauchte das »Mutterland«, mit dem mich kein direkter Kontakt, nicht einmal eine Erinnerung verband, plötzlich dringend meine Hilfe. Viertausend Meilen weit weg.
Und jetzt, wieder sechzehn Jahre später, wohnte ich in der »Zweiten Stadt« eines Empire, über dem sehr wohl die Sonne unterging, auch wenn in den Klassenzimmern noch immer das Gegenteil behauptet wurde. Anderthalb Jahrhunderte lang war Glasgow das industrielle Herz des britischen Weltreichs gewesen. Der Zweite Weltkrieg hatte alles verändert. Am Ende des Konflikts war Großbritannien so gut wie pleite. Wäre nicht 1946 ein Darlehen von fast vier Milliarden Dollar aus den USA gekommen, wäre die bezepterte Insel zahlungsunfähig gewesen. Jetzt wurden frühere Feinde rasch zu neuen Konkurrenten im Schiffsbau und in der Schwerindustrie. Die Welt veränderte sich im Eiltempo. Großbritannien veränderte sich noch schneller. Und Glasgow lag an der Spitze.
Nicht dass man dem Hafen etwas davon angemerkt hätte, als ich daran vorbeifuhr. Es war halb elf morgens, und es war schon heiß. Ich hatte beide Seitenfenster des Atlantics heruntergekurbelt, und von den Kais drang der Lärm herüber, den Metall macht, wenn es gehämmert, geschweißt und geschnitten wird. Dumpf, aber laut durchdrang dieser Lärm eine Luft, die so feuchtwarm und voller Schmutz, Staub und Schwebeteilchen war, dass man sie hätte walzen können. Mir kam es so vor, als würde es allein vom Arbeiten immer heißer.
Links von mir drängte sich ein Wald aus Kränen am Wasserrand, schwang unablässig hin und her, belud und entlud Schiffe oder versorgte die Werften mit gewaltigen Platten aus Walzstahl. Ich fuhr an den riesigen Lagerhäusern aus rotem Backstein vorbei, die zum Hafen gehörten; fünf Stockwerke hoch ragten sie hinter hohen Zäunen auf. Ich parkte in der Straße, ging zu Fuß zum Tor und fragte, wo Alain Barnier sein Büro habe. Der Wachmann war ein typischer pensionierter Polizist mit der üblichen Scheißegal-Einstellung; alles, was ich aus ihm herausbekam, war eine Wegbeschreibung zu ein paar kleineren Reedereien, wo man vielleicht mehr wusste. Ich verbrachte eine halbe Stunde mit Herumfragen, ehe ich eine Vorstellung besaß, wo Barnier sein Büro hatte. Als ich dort ankam, war bereits elf Uhr durch.
Wie Jonny gesagt hatte, war es mehr ein Verschlag als ein Büro, eine in einer Reihe halbzylindrischer Wellblechbaracken, die aussahen wie halb in die Erde gesenkte Stämme gefällter Mammutbäume. Auf dem Schild über der Tür stand Barnier und Clement, Import – Export. Ich klopfte an und ging hinein. Als ich drin war, sah ich sofort, dass es keine Scheinfirma war, sondern dass hier wirklich gearbeitet wurde; es herrschte dieses geordnete Chaos, das man unmöglich vortäuschen kann. Eine Theke trennte den Hauptteil der Nissenhütte vom Empfang. Auf der Theke war eine Klingel, daneben ein Papierdorn mit einem hohen Stoß aufgespießter Frachtbriefe; hinter der Theke standen drei Schreibtische, ein halbes Dutzend Aktenschränke und eine Frau.
Die Frau war ungefähr eins fünfundfünfzig und trug ein graues Geschäftskostüm, das sich an Hüften und Brust ein wenig spannte. Sie hatte ein blasses rundes Gesicht und trug ihr schwarzes Haar in einer Dauerwelle, die so kompakt und unnachgiebig wirkte, dass die Frisur wohl auch einen Atombombentest überstanden hätte. Die Frau hatte einen kleinen schlitzförmigen Mund mit schmalen Lippen, denen sie mit rotem Lippenstift mehr Volumen zu geben versuchte.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie, stand von ihrem Schreibtisch auf und kam an die Theke. Dabei verzog sie ihre schmalen Lippen zu einem müden, flüchtigen Lächeln.
»Ich suche Mr. Barnier.«
»Geht es um den Kielan?«, fragte sie.
»Den Kielan?«, fragte ich. »Was ist ein Kielan?«
Sie ging nicht auf meine Frage ein. »Mr. Barnier ist im Augenblick nicht da. Haben Sie einen Termin?«
»Nein. Wann ist er wieder hier?«
»Sie brauchen einen Termin, um Mr. Barnier zu sehen.«
»Meine Augen funktionieren auch ohne Termin. Wann ist er wieder hier?«
Die Frau hatte große, runde grüne Augen in ihrem runden Gesicht, und die benutzte sie nun, um mich anzustarren, als wäre ich von Geburt an schwachsinnig. »Einen Termin ...« Sie sprach es beinahe eine Silbe nach der anderen aus, wie Twinkletoes McBride es so gern tat.
»Auf dem Schild steht Barnier und Clement. Ist Mr. Clement da?«
»Monsieur Clement«, erwiderte sie und korrigierte meine Aussprache auf diese unnachahmliche Art und Weise, in der nur Schotten die französische Sprache ermorden können, indem sie das harte T am Ende des Namens ausließ und ihn »Clemmong« klingen ließ, »arbeitet nicht hier. Er befindet sich in unserer französischen Niederlassung.«
»Ich verstehe.«
In der Theke befand sich die übliche Klappe zum Durchgehen. Ich öffnete sie und trat hindurch auf die Seite der Frau. Ihre runden Augen wurden noch runder.
»Sie dürfen hier nicht ...«
»Ich warte«, unterbrach ich sie, setzte mich an einen Schreibtisch und legte meinen Hut auf einen Papierstapel. »Das ist wohl das Beste, da Sie mir leider nicht sagen können, wann er wieder da ist oder wo ich ihn finden kann.«
Meine untersetzte Freundin mit den schmalen Lippen hob die Klappe wieder, als wollte sie mir die Tür aufhalten. »Sie können nicht warten.«
»Da unterschätzen Sie mich schon wieder. Ich kann warten. Ich habe es schon früher getan. Oft. Ganz unter uns – keiner kann so lange warten wie ich.«
Sie nahm den Hörer vom Telefon auf ihrem Schreibtisch und wählte eine Nummer. Mit dem Rücken zu mir sprach sie mit leiser, aber aufgeregter Stimme in die Muschel. Dann drehte sie sich wieder um und hielt mir wortlos den Hörer hin.
Ich lächelte sie fröhlich an. Wir kamen prima miteinander aus.
»Sie suchen mich?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung sprach perfektes Englisch. Der französische Akzent war deutlich, aber nicht stark.
»Mr. Barnier? Ich hätte gern einen kleinen Plausch mit Ihnen gehalten.«
»Einen Plausch worüber?« Weder Misstrauen noch Wachsamkeit. Nur Ungeduld.
»Ich versuche jemanden zu kontaktieren. Sie können mir vielleicht helfen, den Betreffenden zu finden.«
»Wen?«
»Das würde ich lieber persönlich mit Ihnen besprechen. Und so bald wie möglich, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Nach wem suchen Sie?«, fragte er wieder mit der perfekt erlernten Grammatik eines Nichtmuttersprachlers.
»Sammy Pollock. Sie kennen ihn vielleicht als Sammy Gainsborough.«
An seinem Ende der Leitung trat kurzes Schweigen ein. Dann fragte er im gleichen zusammenziehungsund füllwörterfreien förmlichen Englisch: »Ich habe den Eindruck, Ihr Interesse ist eher beruflicher als persönlicher Natur. Dennoch haben Sie sich Miss Minto gegenüber nicht als Polizeibeamter ausgewiesen.«
»Weil ich keiner bin. Wenn ich es getan hätte, hätte ich ihr etwas vorgespielt, und das kann ich nicht besonders gut. Nur Maurice Chevalier, den kann ich ganz gut nachmachen. Aber weil Sie ja selber Franzose sind, hätten Sie mich bestimmt durchschaut.«
»Ich habe für so etwas keine Zeit. Wie ist Ihr Name?«
»Lennox. Sie kennen Sammy Pollock, stimmt’s, Mr. Barnier?«
»Das stimmt. Allerdings kenne ich ihn nicht allzu gut. Auf jeden Fall nicht gut genug, um etwas über seinen Aufenthalt zu wissen.«
»Ich würde mich trotzdem gern mit Ihnen unterhalten, Mr. Barnier.«
»Ich fürchte, dafür bin ich zu beschäftigt. Ich kann Ihnen bei Ihren Nachforschungen nicht weiterhelfen. Und es sind Nachforschungen, habe ich recht? Ich nehme an, Sie sind eine Art Privatdetektiv.«
»Ich helfe nur jemandem, Mr. Barnier. Sammy Pollock wird vermisst, und ich versuche herauszufinden, wo er ist und wie es ihm geht. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir ein paar Minuten opfern könnten. Es könnte da etwas geben, das Ihnen bedeutungslos erscheint, mir aber erlaubt, Sammy aufzuspüren.«
»Tut mir leid. Wie ich bereits sagte, fehlt mir die Zeit ...«
»Ich verstehe vollkommen. Ich werde es Mr. Cohen erklären. Er hat mir vorgeschlagen, mit Ihnen zu reden.«
Ich bekam, was ich wollte: ein kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Barnier zählte in seinem Kopf zwei und zwei zusammen. Ob er dabei zu einem zutreffenden Bild kam oder nicht, war mir ziemlich egal.
»Kennen Sie das Merchant’s Carvery im Stadtzentrum?«, fragte er schließlich mit einem unterdrückten Seufzer.
»Ja, kenne ich.« Das Merchant’s Carvery war ein schickes Restaurant mit Bar, wo der Pöbel nicht geduldet wurde. Und das in einer Stadt, die voll davon war. Barnier besaß offensichtlich Stil und das nötige Kleingeld, um ihn auszuleben. Ich konnte mir nicht vorstellen, was so jemand mit Sammy Pollock zu tun haben sollte und schon gar nicht mit Abschaum wie Paul Costello. Überprüfen musste ich es trotzdem.
»Wir treffen uns dort um zwanzig Uhr«, sagte er. »In der Bar.«
»Danke, Mr. Barnier. Ich werde dort sein.«
***
Ich fuhr zur Stadt zurück. Ehe ich ins Zentrum kam, bog ich nach Norden in Richtung Aberfoyle ab. Mir tat der Kopf weh; in den Schläfen und hinter den Augen pochte es dumpf und beharrlich. Glasgow hatte einen Vorhang vor die Sonne gezogen, einen dünnen, dunkel gefleckten Wolkenschleier. Trotzdem blieb es heiß, und die Luft wirkte dichter und schwerer als sonst. Ich wusste, dass meine Kopfschmerzen mich vor einem aufziehenden Gewitter warnten. Die Stadt zu verlassen half nicht viel gegen die drückende Luft, die nun auf meinen Nebenhöhlen spielte wie auf einem Akkordeon. Nach einer guten Viertelstunde war ich in Mugdock, wo Glasgow dem offenen, weiten Land wich. Hier standen nur vereinzelte teure Häuser. Die Sonne war wieder durchgebrochen, doch die drückende Schwüle vor dem Unwetter hing weiter in der Luft. Im Westen zeigte der Himmel die Farbe von Schiffbaustahl.
Bobby Kirkcaldy gehörte hier nicht das teuerste einzeln stehende Haus, doch in Anbetracht seiner Herkunft aus Motherwell bedeutete es einen gewaltigen Schritt nach oben. Andererseits war es für Leute aus Motherwell schon ein Riesenschritt aufwärts, wenn es im Haus eine Toilette gab, die man nicht mit vier anderen Familien teilen musste. Ich muss aber zugeben, dass ich den Boxer Kirkcaldy bewunderte. Er hatte als Weltergewichtler angefangen und war später ins Mittelgewicht aufgestiegen, hatte aber eine gewisse Eleganz und Leichtfüßigkeit beibehalten. Zweimal hatte ich ihn schon kämpfen sehen, und es war, als hätte ich zwei völlig verschiedene Boxer vor mir gehabt. Kirkcaldy gehörte zu den Boxern, die eine ausgeprägte Körperintelligenz besitzen, auch wenn sie in anderer Hinsicht wahrscheinlich keine Geistesriesen sind. Sie improvisieren und feinjustieren in jeder Sekunde eines Kampfes, um sich den Bewegungen ihres Gegners anzupassen. Es war, als könnte Kirkcaldy in der ersten Minute der ersten Runde erkennen, was für ein Boxer sein Gegner war, und sich darauf einstellen: Wenn er gegen einen Infighter kämpfte, vergrößerte Kirkcaldy kaum merklich den Abstand und zwang seinen Gegner dadurch, die für ihn beste Kampfentfernung aufzugeben; stand er gegen einen Distanzboxer im Ring, bekämpfte er ihn auf kurze Entfernung mit schnellen Jabs, zwang ihn ständig zum Rückzug und drängte ihn in die Seile.
In einem der beiden Kämpfe, die ich gesehen hatte, war Kirkcaldy gegen Pete McQuillan angetreten. McQuillan war ein harter Schläger, ein Puncher, ein Klotz von einem Mann, der Mühe hatte, sein Gewicht zu halten und im Mittelgewicht zu bleiben. Was seine Technik anging, stand er nur eine Stufe über den mit bloßen Fäusten kämpfenden Pikeys. Um einen Kampf zu gewinnen – und er war bis dahin ungeschlagen gewesen –, musste McQuillan es entweder auf einen Knockout anlegen oder das Gesicht seines Gegners dermaßen verunstalten, dass der Ringrichter den Kampf abbrach.
Dann war McQuillan an Kirkcaldy geraten. Die beiden hatten einen erstaunlichen Anblick geboten: McQuillan schlug wilde Schwinger, die durch die Luft pfiffen, während Kirkcaldy um ihn herumtänzelte und mit gnadenloser Präzision einen Jab nach dem anderen schlug. Damit trieb er McQuillan in eine Position, in der dieser noch nie gewesen war: auf Abstand. Kirkcaldy siegte klar nach Punkten. Jetzt war er der hohe Favorit für die Europameisterschaft im Mittelgewicht beim Kampf gegen den Westdeutschen Jan Schmidtke. Und ich würde dabei sein. Ich hatte eine Eintrittskarte.
Das Haus war ungefähr so groß wie das von MacFarlane in Pollokshields, aber noch nicht so alt; es stammte aus den Zwanziger- oder Dreißigerjahren und profitierte von einer prestigeträchtigeren Umgebung. Außerdem war es weiß gestrichen, was es im Sonnenlicht hell und fremdartig aussehen ließ. Die Haustür ging nach Süden, bekam aber Schatten vom Art-déco-Vordach aus roten Ziegeln. Die weiß getünchten Hauswände unter dem roten Dach und die Terrakottaziegel stellten den ehrgeizigen Versuch dar, dem Haus ein mediterranes Flair zu verschaffen, was in Schottland ungefähr so einfach ist, als wollte man Lon Chaney wie Clark Gable aussehen lassen.
Als ich den Knopf der elektrischen Klingel drückte, wurde die Tür beinahe sofort geöffnet. Ich hatte den Eindruck, drinnen hatte man gehört, wie mein Atlantic sich die Auffahrt hinaufknirschte. Sie hielten nach Besuchern Ausschau, willkommenen und anderen, vermutete ich. Es war nicht Bobby Kirkcaldy, der mir öffnete, sondern jemand, der noch mehr nach Boxer aussah, ein älterer Mann in dunklem Anzug mit dünner Wollkrawatte. Er war schlank und wirkte fies, ja bösartig; er machte den Eindruck, als wäre er aus den härtesten Grundstoffen zusammengesetzt, die man hatte finden können. Er hatte weißes borstiges Haar und ein ledriges Gesicht mit tiefen Runzeln, das mehr als nur vom Wetter verwüstet war; alles, was irgendwelche Schäden anrichten konnte, schien sich in seinem Gesicht ausgetobt zu haben. Sein platter Riechkolben zeigte dieses dicke, gummöse, formlose Aussehen, das darauf hindeutete, dass die Nase zu oft gebrochen gewesen war, als dass noch Knorpel übrig sein konnte, um ihr eine erkennbare Gestalt zu geben. Der Schaden sprang einem nicht nur ins Auge, er war auch zu hören: Als der Mann sprach, klang seine Stimme gedämpft und näselnd, noch stärker als beim typischen Glasgower.
»Was woll’n Sie?«, fragte er.
»Ein ruhiges Leben, Geld, eine schöne Frau und inneren Frieden.«
Er sah mich ausdruckslos an. Man hatte ihm eindeutig nicht nur den Verstand, sondern auch den Humor aus der Birne geprügelt.
»Ich bin hier, um Bobby zu sprechen«, seufzte ich. Ich spürte, ich war hier nicht willkommen. »Mein Name ist Lennox. Ich werde erwartet.«
Er musterte mich von oben bis unten. Ich tat bei ihm das Gleiche. Sein Alter ließ sich nur schwer schätzen. Er hätte ein malträtierter Fünfziger oder ein fitter Siebziger sein können. Ganz offensichtlich war er ein ehemaliger Boxer, aber mir kam es vor, als hätte sein Gesicht außerhalb des Rings genauso viel eingesteckt wie während seiner Kämpfe. Ich neigte den Kopf zur Seite und lächelte ungeduldig. Der alte Krieger trat zur Seite und ließ mich ins Haus. Ich wollte ihm schon meinen Hut reichen, behielt ihn aber in der Hand und folgte ihm durch eine lange Diele mit Terrakottafliesen und geschmackvollen Bildern an den Wänden, darunter einige Originale. Da ich nicht davon ausging, dass ein in Motherwell aufgewachsener Boxer wie Kirkcaldy irgendeinen Kunstgeschmack hatte, schob ich die häusliche Ästhetik auf einen guten Innenarchitekten.
Der alte Boxer führte mich in ein großes Wohnzimmer mit riesigen Terrassentüren, durch die man über einen landschaftsbegärtnerten Garten hinweg auf die fernen grünen Hügel blicken konnte. Hier war es wirklich schön. Eine Schönheit, die man nur für eine Menge Geld bekommt. Dem Durchschnittsschotten wäre Bobby Kirkcaldys Haus wie ein Szenenaufbau in Hollywood erschienen. Alles, was ich sah, war beste Qualität. Wenn die Möbel nicht original Bauhaus oder Le Corbusier oder Eames waren, handelte es sich um sehr gute Kopien. Ein Bücherschrank nahm eine ganze Wand ein. Entweder war Kirkcaldy belesen, oder er hatte seinem Innenarchitekten befohlen, ihn klüger aussehen zu lassen, als er war. Wie in der Diele wirkten die Bilder an den Wänden des Wohnzimmers wie Originale. Die meisten waren modern und kantig – abstraktes Zeug –, doch sie hatten etwas an sich, das mir gefiel. Wie die Möbel waren die Gemälde neu.
Bobby Kirkcaldy stand auf, als wir hereinkamen. Er hatte auf einer Ledercouch an den Terrassentüren gesessen. Als er sich erhob und das Zimmer durchquerte, tat er es mit der gleichen mühelosen Geschmeidigkeit, mit der er sich im Ring bewegte. Er hatte dichtes dunkles Haar, und anders als bei dem alten Knaben neben mir zeigten sich in seinem Gesicht nicht die üblichen verräterischen Spuren einer Boxkarriere. Seine Nase war offenbar noch nie gebrochen gewesen, und man sah nur einen Anklang der hohen Jochbeine und der Kantigkeit des Kämpfergesichts. Er trug ein am Hals offenes Hemd und leichte Hosen. Die Kleidung wirkte unauffällig, aber man sah ihr den Herrschneider in der Jermyn Street an.
»Sie sind Lennox?«, fragte Kirkcaldy. Er lächelte nicht, verhielt sich aber auch nicht offen feindselig. Er gab sich geschäftsmäßig nüchtern.
»Ja. Sie wissen, weshalb ich hier bin?«
»Um sich den Unsinn anzusehen, der passiert ist. Sie wurden von Willie Sneddon engagiert. Um ehrlich zu sein, ich glaube, dieser ganze Scheiß macht Sneddon mehr Sorgen als mir.« Kirkcaldys Stimme war hell und klang beinahe sanft, doch als er Willie Sneddons Namen aussprach, gelang es ihm, eine Andeutung von Abscheu hören zu lassen. Er sprach ruhig und selbstsicher; die Herkunft aus Motherwell war ihm weniger anzuhören, als ich erwartet hatte. Wenn man ihn aus der Nähe betrachtete und nicht aus der Entfernung, die eine Boxhalle vorgab, sah man Intelligenz in seinen Augen. Da war allerdings noch etwas, das ich nicht benennen konnte. Aber kaum hatte ich es entdeckt, mochte ich den Mann plötzlich nicht mehr.
Ich drehte mich um, schaute den alten Sandsack an, der mich hereingeführt hatte, und wandte mich dann wieder Kirkcaldy zu.
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Kirkcaldy. »Vor Onkel Bert können Sie offen reden. Er hat mich schon als Junge trainiert.«
Onkel Bert sah mich ausdruckslos an. Ihm war die Beweglichkeit der Muskulatur, die man brauchte, um eine Miene hervorzubringen, wahrscheinlich schon vor Jahren aus dem Gesicht geprügelt worden. Ich fragte mich insgeheim, was ihn als Boxtrainer qualifizierte, wenn ihm offenbar niemand beigebracht hatte, was das Wort »ducken«, bedeutete.
»Okay«, sagte ich. Ich blickte mich im Zimmer um, wie man es tut, wenn man an dem Punkt angelangt ist, wo man eigentlich aufgefordert werden sollte, sich zu setzen, nur dass einem noch kein Platz angeboten wurde. »Hübsches Haus. Mir gefallen die Bilder. Ich war mir allerdings nie sicher, wo der abstrakte Expressionismus aufhört und die lyrische Abstraktion beginnt.«
»Sie sind keines von beidem«, entgegnete Kirkcaldy. »Ich misstraue allen -ismen, egal ob politisch oder künstlerisch. Ich kaufe einfach, was mir gefällt und was ich mir leisten kann. Und leisten kann ich es mir nur, weil ich boxe.« Kirkcaldy redete nicht wie der durchschnittliche, von der Straße in den Ring aufgestiegene Faustvirtuose. Mir kam der Verdacht, dass die Bücher vielleicht doch nicht reine Schau waren. Ein bestimmter Typ von Schotten aus der Arbeiterschicht behandelte Wissen, das ihm in der Kindheit vorenthalten wurde, wie pures Gold. Für mich stand fest, dass die Körperintelligenz, die Kirkcaldy im Ring zeigte, nur Teil eines größeren Ganzen war.
Er wies auf ein Sofa, das dicht über dem polierten Parkett schwebte. Ich ließ mich darauf nieder.
»Verstehen Sie viel von Kunst, Mr. Lennox?«, fragte er dann und setzte sich in den Eames-Sessel mir gegenüber. Onkel Bert blieb stehen, vermutlich aus Macht der Gewohnheit: In der Vergangenheit – im Ring – hatte er ganz schön bluten müssen, um stehen zu bleiben.
»Ein bisschen«, sagte ich. »Vor dem Krieg habe ich mich dafür interessiert. Dann wurde von mir erwartet, dass ich mich für den Krieg interessiere. Aber hin und wieder gehe ich in Galerien.«
Kirkcaldy lächelte nickend. Sein Lächeln war genauso leer wie bei Sheila Gainsborough. »Ihnen ist aber klar, dass die Sache purer Blödsinn ist, oder?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Für mich hört es sich danach an, als würde jemand versuchen, Ihnen vor dem großen Fight Angst einzujagen. Viele Leute bieten viel Geld auf den Kampf, so oder so. Und einige dieser Leute schrecken nicht vor dreckigen Tricks zurück, um ihre Investition zu schützen.«
»Dass jemand versucht, mir Angst einzujagen, liegt auf der Hand, aber es klappt nicht. So leicht bekomme ich keine Angst, und jeder, der mich kennt, müsste wissen, dass ich eher mit dem Boxen aufhöre, als mich auf Schiebung einzulassen.«
»Hat jemand Ihnen so etwas nahegelegt? Telefonanrufe, unter der Tür durchgeschobene Zettel und dergleichen?«
»Nein. Nichts. Wie Sie schon sagten, nur Einschüchterung. Jemand versucht, meine Vorbereitung auf den Kampf zu stören.«
Ich nickte und machte mir Notizen. Vielleicht würde man Sneddon berichten, dass ich genickt und mir Notizen gemacht hatte. Das hier war ein genauso fruchtloses Unterfangen wie die Sache mit Small Changes Terminkalender. Mich überraschte daran nur, wie bereitwillig Kirkcaldy die Vorstellung akzeptierte, dass jemand versuchte, ihn vor dem Kampf aus dem Tritt zu bringen. Wie Jonny Cohen beschlich mich immer mehr das Gefühl, dass es eigentlich um etwas ganz anderes ging. Ich beschloss, ihn mit dieser Frage zu konfrontieren.
»Gibt es vielleicht etwas anderes, das diese Geschichten erklären könnte? Jemand, der Ihnen etwas nachträgt? Oder ein Streit, in den Sie verwickelt sind?«
Er spitzte die Lippen und dachte kurz darüber nach. »Nein. Ich wüsste niemanden, der so etwas aus persönlichen Gründen tun würde.«
»Gut«, sagte ich. Ich fand es interessant, dass er erst nachdenken musste, bevor er antwortete. So, als hätte er diese Möglichkeit nie in Betracht gezogen. Wir sprachen noch eine halbe Stunde miteinander, und ich notierte mir dabei alles, was passiert war, mit Datum und Uhrzeit. Kirkcaldy gab mir die Informationen, als hakte er eine Liste ab. Ich fragte ihn, ob ich den Wagen sehen könne, der mit roter Farbe bespritzt worden war, doch Kirkcaldy hatte ihn bereits neu lackieren lassen. Die Henkerschlinge hatte er weggeworfen, den toten Vogel natürlich auch.
»Was für ein Vogel war das?«, fragte ich.
»Keine Ahnung. Irgendein Vogel. Eine Taube, glaube ich. Ich weiß nur, dass er weiß war. Schneeweiß. Also war es wahrscheinlich eine Taube.«
»Woran ist er gestorben?«
»Woher soll ich das wissen?« Er war gereizt, und das Motherwell in seiner Stimme wurde deutlicher. »Was haben Sie jetzt vor?«
»Tja, ich habe nichts, dem ich nachgehen könnte. Sie sagten, Sie wüssten nicht, wer etwas Persönliches gegen Sie haben könnte. Ich kann nicht allzu viel tun, außer ein Weilchen auf Sie aufzupassen.«
»Ich kann selber auf mich aufpassen«, erwiderte er und warf einen vielsagenden Blick auf Onkel Bert.
»Okay. Wenn Sie nichts dagegen haben, behalte ich die Dinge im Auge. Natürlich kann ich nicht ständig hier sein. Wenn also etwas passiert, erreichen Sie mich normalerweise unter einer dieser Nummern.« Ich schrieb ihm meine Bürotelefonnummer auf und die zu Hause, dazu die Nummer des Fernsprechers hinter der Theke im Horsehead.
***
Als ich Kirkcaldys Haus verließ, war der schlachtschiffgraue Himmel noch dunkler geworden und die Luft noch drückender. Es herrschte eine Hitze wie in einem Dampfbad, und ich spürte den Druck wie ein Band um meinen Kopf, das straffer gezogen wurde. Ich war erst ein paar Minuten unterwegs, als das Gewitter losbrach.
Wenn es etwas gibt, was Glasgow wirklich gut kann – besser als irgendein Ort, den ich kenne –, dann ist es, Regen auf sich niedergehen lassen. Ich sah zwei grelle, hässliche Blitze am Himmel, und der Regen prasselte gegen meine Windschutzscheibe, ehe der ohrenbetäubende Donner über mich hinwegrollte. Das war nicht bloß Regen. Es war, als triebe eine wild gewordene Furie dicke, schwere Regengeschosse vor sich her, die wütend auf das Dach meines Wagens trommelten und für das letzte Aufgebot meiner Scheibenwischer nur Spott übrig hatten. Als ich in die Nähe von Blanefield kam und nach Bearsden hineinfuhr, musste ich den Wagen fast auf Schleichtempo abbremsen, weil ich kaum zwei Meter Sicht hatte.
Mir blieb noch Zeit, ehe ich den Franzosen traf, also fuhr ich zur Argyle Street. Der Wolkenbruch hatte noch nicht aufgehört, aber ich hatte das Glück, einen Parkplatz zu finden, von dem es nur ein Dreißig-Sekunden-Sprint bis zur nächsten Teestube war. Ich ging hinein, schüttelte den Regen von meinem Hut und beklagte mich beim Kellner, dem ich den Hut reichte, über den plötzlichen Wetterumschwung. Nur zwei andere Tische waren besetzt, und ich saß in düsterem Schweigen da. Als ich mein Lammkotelett mit Kartoffelbrei gegessen hatte, trank ich einen Kaffee und rauchte eine Zigarre, während ich durch das Fenster brütend den Regen betrachtete.
Ein fruchtloses Unterfangen. Ganz egal, wie oft ich darüber nachdachte, der Bobby-Kirkcaldy-Auftrag blieb ein fruchtloses Unterfangen. Willie Sneddon wälzte sich nachts aus Sorge um seine Investitionen schlaflos herum. Doch mehr als draußen vor Kirkcaldys Haus zu sitzen, konnte ich kaum tun. Und wenn es auf eine Überwachung rund um die Uhr hinauslief, käme es Sneddon teuer zu stehen. Sollten doch Twinkletoes oder Tiny Semple da draußen parken. Oder Singer. Das war eine Arbeit für Gorillas. Etwas anderes könnte ich Sneddon nicht sagen.
Nachdem ich an der Kasse bezahlt und meinen Hut geholt hatte, ging ich nach draußen in den Regen. Er war beträchtlich schwächer geworden, und mit seinem Nachlassen hatte er auch ein wenig die abgestandene Hitze aus der Luft genommen. Doch Glasgow blieb Glasgow, gekleidet in Regen und Grautöne.
Ich brauchte nur ein paar Minuten bis zum Merchant’s Carvery im Geschäftsviertel der Stadt. Weil ich immer noch zu früh dran war, beschloss ich, bis kurz vor acht im Wagen zu warten. Das Merchant’s Carvery war Glasgows Vorstoß zur gehobenen Klasse: Es stand inmitten georgianischer und viktorianischer Häuserreihen am Rande eines Parks. Wie der Name andeutete, hatten einmal die reichen Kaufleute und Industriellen der Stadt die umstehenden Häuser bewohnt; heute waren die meisten zu Büros umgebaut. Während ich im geparkten Auto davor wartete, wettete ich mit mir selbst, dass ich Barnier erkennen würde, sobald er auftauchte. Doch die einzigen Leute, die ich in das Restaurant gehen sah, war ein Paar mittleren Alters. Beide trugen Tweed.
Das Merchant’s Carvery gehörte zu den Lokalen, die darauf ausgelegt sind, den Gast einzuschüchtern, genauer gesagt, sie sind entsprechend ausgestattet und eingerichtet. Man soll sich dort fehl am Platze fühlen. Auf mich wirkte es sehr übertrieben. Das feudale rote Leder der Sitznischen war ein klein wenig zu feudal und viel zu rot. Wäre das Carvery in Edinburgh gewesen, hätte es nicht ganz so übertrieben gewirkt.
Ich ging hinein und händigte wieder meinen Hut aus. Diesmal reichte ich ihn einem Diener in weißer, taillenlanger Jacke und Pillboxmütze. Er war ohne Zweifel der altersschwächste Piccolo, den ich je gesehen hatte, und ich machte mir Sorgen, dass er unter dem Gewicht meines Fedoras zusammenbrechen könnte. Ich sagte zu ihm, ich sei mit Mr. Barnier verabredet, und er nickte in Richtung eines großen Mannes, der mit dem Rücken zu mir an der Bar stand. Es hätte ein Weltzeitalter gedauert, mich von dem Pagen durch die Lounge führen zu lassen; deshalb bedankte ich mich bei dem greisen Piccolo und gab ihm zwei Shilling Trinkgeld, denn das Gewicht einer halben Krone würde ihn wahrscheinlich in mehr als nur einer Hinsicht zum Schwanken bringen.
»Monsieur Barnier?«, fragte ich den Rücken des Mannes, und er drehte sich zu mir um. Alain Barnier sah nicht so aus, wie ich es erwartet hatte. Zum einen war er groß und hellhaarig, aber nicht richtig blond, und hatte grünliche Augen. Mir kam er eher wie eine Skandinavier oder ein Deutscher vor, weniger wie ein Südfranzose. Auch seine Haut war nicht dunkel, sondern nur leicht gebräunt, obwohl er ein paar Jahre in Glasgow gelebt hatte, wie ich wusste. Andererseits konnte niemand so blass sein wie ein Glasgower. Schotten sind die weißesten Menschen auf diesem Planeten, und Glasgower haben einen blassblauen Teint, wenn sie nicht scharlachrot gebrannt sind, weil sie auf völlig ungewohnte Weise der großen Feuerkugel am Himmel ausgesetzt waren, die bis vor zwei Stunden einen geheimnisvollen sommerlichen Auftritt gehabt hatte. Barnier war ein stattlicher, gut aussehender Mann mit tiefen Fältchen unter den Augen, die darauf hindeuteten, dass er oft lachte, aber seine Züge hatten auch etwas leicht Grausames. Ich schätzte ihn auf ungefähr vierzig.
Von dem leicht goldenen Hautton abgesehen gab es noch zwei andere Dinge, die verrieten, dass Barnier Ausländer war. Seine Kleidung war teuer, aber nicht protzig. Und nicht aus Tweed. Sein Anzug war außerordentlich gut maßgeschneidert, aus blassgrauem, leichtem Flanell, durch das sich ein kaum sichtbarer weißer Nadelstreifen zog. Der Schnitt wirkte nicht britisch. Außerdem war der Mann makellos frisiert und trug einen sauber gestutzten Schnurrbart sowie ein Ziegenbärtchen, das seinem Kinn eine Spitze verlieh.
»Mein Name ist Lennox, Monsieur Barnier«, sagte ich auf Französisch. »Wir haben heute Nachmittag telefoniert.«
»Ich habe Sie erwartet. Etwas zu trinken?« Er winkte den Barkeeper mit jener beiläufigen Autorität herbei, die Schotten so schwerfällt. »Zwei Cognac«, sagte er auf Englisch.
Dann wandte er sich wieder mir zu. »Bitte ...«, fuhr er fort, wobei er wieder in seine Muttersprache verfiel, und wies auf eine der feudalen Sitznischen im hinteren Teil der Lounge-Bar. Wir setzten uns. »Sie sprechen sehr gut Französisch, Monsieur Lennox. Aber, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sie haben einen starken Akzent. Und Sie sprechen langsam wie ein Bretone. Ich nehme an, Sie sind Kanadier.«
»Richtig. Aus New Brunswick. Die einzige offiziell zweisprachige Provinz Kanadas«, sagte ich und war erstaunt über den Stolz, der in meiner Antwort mitschwang.
»Aber Sie selbst sind kein Frankokanadier?«
»Ist das so offensichtlich?«
Barnier zuckte mit den Schultern und verzog das Gesicht. Er war Franzose. Ich hatte es erwartet. »Nein ... nicht offensichtlich. Aber Sie haben einen starken Akzent. Deshalb nahm ich an, dass Englisch Ihre erste Sprache ist.«
»Woher stammen Sie, Monsieur Barnier?«
Unsere Cognacs kamen. »Toulon. Das heißt, ursprünglich aus Marseille.«
Ich trank den Cognac und spürte, wie sich etwas Warmes, Goldenes in meiner Brust ausbreitete.
»Gut, nicht wahr?«, fragte er. Sein Lächeln ließ die Fältchen um seine Augen tiefer werden. »Ich liefere ihn. Er gehört zu den Besten.«
»So schmeckt er auch. Ich habe Bourbon getrunken, den Sie Jonny Cohen geliefert haben. Auch der war ausgezeichnet.«
»Ach ja. Sie erwähnten, dass Sie Monsieur Cohen kennen ...« Barnier musterte mich über den Rand seines Cognacschwenkers hinweg. »Übrigens haben Sie meine Miss Minto sehr erzürnt.«
»Wirklich?« Ich zog die Augenbrauen hoch und versuchte so unschuldig auszusehen wie im Alter von sechzehn, als mein Vater mich zu verschwundenen Zigaretten und fehlendem Whisky vernommen hatte. »Dabei schienen wir so gut miteinander auszukommen. Ich habe ein neues Wort gelernt – Kielan – oder sind es zwei Wörter?«
Etwas an meiner Frage schien Barnier tief zu treffen, doch er verbarg es rasch. »Sie sollten Miss Minto nicht Unrecht tun. Sie ist eine sehr entschlossene Dame, die unverzichtbar ist für den effizienten Ablauf im Büro.«
»Warum hat sie mich gefragt, ob ich wegen des Kielan da sei? Spreche ich es richtig aus?«
»Sie meinte damit einen Artikel, den wir kürzlich importiert haben. Miss Minto nahm wahrscheinlich an, dass Sie mich deswegen sprechen wollten.«
»Ich bin geschmeichelt, dass Miss Minto geglaubt hat, ich könnte mir diesen Artikel leisten.«
»Das hat sie nicht geglaubt. Der Artikel ist beim Versand verloren gegangen. Wir vermuten, dass er in die falsche Kiste gepackt und falsch deklariert wurde. Offenbar hielt Miss Minto Sie für einen Vertreter der Versicherungsgesellschaft.« Barnier ließ sein Lächeln fallen, und sein Tonfall deutete an, dass das Vorgeplänkel beendet war. »Was genau wünschen Sie von mir, Monsieur Lennox?«
»Ich bin beauftragt, das Verschwinden von Sammy Pollock zu untersuchen. Sie kennen ihn vielleicht als Sammy Gainsborough.«
»Ich kenne ihn unter beiden Namen kaum. Monsieur Pollock war ein Bekannter, nicht mehr. Ich hatte so unregelmäßig mit ihm zu tun, dass ich mich kaum entsinnen kann, wann ich ihn zum letzten Mal gesehen habe. Warum fragen Sie ausgerechnet mich nach ihm?«
»Schaffen Sie es? Sich zu entsinnen, meine ich?«
Barnier ging ostentativ sein gedankliches Inhaltsverzeichnis durch. Er zupfte leicht an seinem Ziegenbärtchen und strich es zu einer nach unten weisenden Spitze glatt.
»Es muss vor zwei oder drei Wochen gewesen sein. An einem Freitag. Er war zur gleichen Zeit im Pacific Club wie ich. Eine Spelunke ... bitte verraten Sie Monsieur Cohen nicht, dass ich das gesagt habe, schließlich schätze ich ihn als Kunden. Aber das Lokal ist wirklich entsetzlich. Ich gehe dorthin, weil Monsieur Cohen an Freitagen recht gute Jazz-Darbietungen präsentiert. Wie auch immer, dort sah ich den jungen Monsieur Pollock. Er ist dort aufgetreten und hat ein paar Lieder gesungen. Er war Ersatzmann für jemanden, der nicht erschienen ist. Pollock war mit einem Mädchen da, wenn ich mich recht entsinne. Aber wir haben an diesem Abend nicht miteinander gesprochen.«
»Und Sie haben ihn seitdem nicht mehr gesehen?«
»Hören Sie, Mr. Lennox.« Barnier wechselte in sein makellos artikuliertes, grammatisch perfektes Englisch. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich ihn seither gesehen habe oder nicht. Sammy Pollock ist kein Mann, der in meinem Bewusstsein eine große Rolle spielt. Es ist möglich, dass ich ihn gesehen habe, ohne es zu registrieren. Nun wiederhole ich meine Frage: Wieso fragen Sie mich nach diesem jungen Mann?«
»Sie müssen entschuldigen, Monsieur Barnier, aber heute bin ich an der Reihe mit dem Nach-dem-Strohhalm-greifen. Mir wurde gesagt, dass Sammy Pollock gelegentlich in Ihrer Gesellschaft gesehen wurde. Nun scheint er verschwunden zu sein, und ich mache mir ziemliche Sorgen um sein Wohlbefinden. Bisher habe ich nicht den kleinsten Hinweis entdeckt, wo er sein könnte.« Ich sah dem Franzosen ins Gesicht. Dort gab es nichts zu lesen. Vielleicht nahm er mir nicht ab, dass ich im Dunkeln tappte. Oder es interessierte ihn nicht.
»Hatten Sie geschäftlich mit Pollock zu tun?«, fragte ich.
»Nein.«
»Bei den Gelegenheiten, bei denen Sie ihn gesehen haben ... kannten Sie die Personen in seiner Gesellschaft?«
»Nein. Hören Sie, ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich glaube nicht, dass ich Ihnen behilflich sein kann.« Er trank sein Glas leer. Die Geste setzte einen Schlusspunkt – unser Gespräch hatte eine Vollbremsung gemacht.
»Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Monsieur Barnier«, sagte ich auf Französisch.
Ich ließ Barnier im Carvery zurück, ließ mir von dem altersschwachen Piccolo meinen Hut geben und trat hinaus auf die Straße. Der Regen hatte aufgehört, aber der Himmel sah noch immer schlecht gelaunt aus. Damit war er nicht alleine.
Es war ein fruchtloser Tag gewesen, und ich war zu müde, um zu Sneddons Haus in Bearsden zu fahren oder ihn auch nur anzurufen. Willie Sneddon zu sagen, dass man nicht tun kann, was er von einem will – so etwas sollte besser von Angesicht zu Angesicht und in der richtigen Geisteshaltung erfolgen. Ich stieg nicht sofort in den Wagen, sondern ging zur Telefonzelle an der Ecke, warf ein paar Pennys in den Apparat und rief die Londoner Nummer an, die ich von Sheila Gainsborough bekommen hatte. Der englische Akzent am anderen Ende erklärte mir, er sei Sheilas Agent; sie selbst sei nicht da.
»Ich weiß«, sagte ich. »Sie hat mir die Nummer gegeben, damit ich mich mit ihr in Verbindung setzen kann.«
»Ich verstehe. Sie sind Lennox?« Seine Stimme war eine Spur zu hoch und klang ein bisschen weichlich. Ich lachte kurz auf bei dem Gedanken, dass ich offenbar erwartet hatte, Theateragent sei ein Beruf für robuste Kerle, so wie Stahlarbeiter oder Bergmann.
»Der bin ich«, sagte ich.
»Nun, Lennox ... haben Sie etwas zu berichten?«
Mannomann, mit diesem Tonfall verlor er meine Sympathie im Eiltempo.
»Deshalb rufe ich an«, sagte ich.
»Und?«, fragte er. Er sprach mit mir, als wäre ich ein Laufbursche – was ich ja auch war, um fair zu sein. Das galt aber auch für ihn.
»Miss Gainsborough sagte mir, ich könne sie unter dieser Nummer erreichen. Ich nehme an, Sie sind Whithorn ... Sehen Sie sie heute Abend?«
»Ich sehe Miss Gainsborough fast jeden Abend«, erwiderte er. Besitzergreifend. »Sie kommt in etwa einer halben Stunde.«
»Sagen Sie ihr, Lennox hätte angerufen. Und dass ich mich heute Abend noch einmal melde. Gegen zehn. Sie möchte es bitte einrichten, den Anruf anzunehmen.«
»Sagen Sie mir doch einfach, was Sie zu melden haben, und ich gebe es an sie weiter.«
Ich lachte wieder kurz auf, aber diesmal so laut, dass er es hören konnte. »Verschwiegenheitspflicht gegenüber dem Klienten, mein Freund. Ich dachte, mit diesem Konzept wären Sie vertraut.«
»Ich bin nicht nur Miss Gainsboroughs Agent, Mr. Lennox, ich bin ihr Berater. Ihr Freund.«
»Ich rufe um zehn noch mal an.« Ich legte auf, denn ich wollte erst einmal ein Gesicht mit der Stimme am anderen Ende der Leitung verbinden. Doch ich hatte bereits beschlossen, dass Humphrey Whithorns Gesicht mir in dem Augenblick missfallen würde, in dem ich es sah.
Ich ging zu meinem geparkten Auto zurück. Dem Wolseley, der drei Wagen hinter meinem Atlantic stand, schenkte ich keine besondere Aufmerksamkeit, bis ein großer Mann in einem formlosen Regenmantel und zu kleinem Filzhut ausstieg und mir den Weg verstellte. Ein zweiter Mann erschien neben mir, kleiner, aber stämmig und mit einer Visage gestraft, mit der man in einer Kneipe auf keinen Fall Blickkontakt aufnehmen würde. Und überall sonst auch nicht. Der zweite Kerl packte mich fest am Oberarm, genau über dem Ellbogen. Ich merkte den beiden sofort an, dass sie keine Polizisten waren. Sie waren die Gorillas von irgendjemandem.
»Okay, Lennox«, sagte der Regenmantel. »Mr. Costello will Sie sehen. Sofort.«
Ich empfand Erleichterung. Gewissermaßen. Sich mit Gorillas abgeben zu müssen ist ermüdend, aber die Burschen sind es gewöhnt, dass man tut, was sie sagen, sobald sie verraten, wer hinter ihnen steht. Doch Costello hatte nicht genügend Einfluss, und ich machte ein gelangweiltes, gereiztes Gesicht.
»Ach, will er das?«, entgegnete ich. Aus irgendeinem Grund trat mir Barniers unscheinbare, aber beharrliche Sekretärin vor Augen, und ich beschloss, ihrem Beispiel zu folgen. »Ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Sagt Costello, er soll einen Termin machen.«
Die Finger schlossen sich fester um meinen Arm, und ich drehte mich dem zweiten Gorilla zu und lächelte. Es waren harte Kerle, deren Beruf es war, anderen wehzutun. Doch Jimmy Costello war nicht gerade als kriminelles Genie bekannt, und sein Mangel an Grips wirkte sich auch auf die Auswahl seiner Gorillas aus. Sie hatten mich wahrscheinlich den ganzen Tag beschattet, ohne dass ich sie im Regen bemerkt hätte. Den Kerlen hatte sich ein Dutzend geeignete Stellen geboten, um mich einzukassieren, aber wir befanden uns an keiner davon. Stattdessen hatten sie sich so ziemlich den dämlichsten Ort dazu ausgesucht, mitten im Geschäftsviertel vor einem renommierten Esslokal. Nur zwei Häuserblocks entfernt befand sich ein Polizeirevier. Nein, eine dümmere Wahl hätten sie wirklich nicht treffen können. Es gab keine Stelle, an der ich bessere Chancen gehabt hätte davonzukommen. Doch die Typen waren zu beschränkt, um das zu erkennen. Der Gorilla mit dem Schraubstockgriff um meinen Arm wirkte genauso selbstsicher wie sein Partner.
»Also«, sagte er mit einem hässlichen Grinsen. »Kommen Sie artig mit, oder machen Sie Theater?«
Im Krieg habe ich etwas über mich herausgefunden. Hätte ich nie davon erfahren, hätte ich mein ganzes restliches Leben wunderbar verbringen können, ohne es je zu vermissen. Denn es war etwas Hässliches, Düsteres. Manchmal lag ich nachts schlaflos da und fragte mich, ob der Krieg es erschaffen hatte oder ob es die ganze Zeit da gewesen war, ohne den Krieg aber nie erwacht wäre. Als ich nun auf dieser Straße stand, während zwei gewalttätige harte Burschen mich in ihren Wagen zu drängen versuchten, spürte ich, wie es sich tief in mir regte und mich als alten Freund begrüßte.
»Passt mal auf, Jungs«, sagte ich freundlich, aber leise. So leise, dass sie sich anstrengen mussten, mich zu verstehen. »Ich komme nicht mit. Und wenn ihr versucht, mich zu zwingen, wird jemand verletzt. Sagt Costello, wenn er mich sprechen will, soll er zum Telefonhörer greifen wie jeder andere auch. Wenn er sauer ist, weil ich seinem Jungen eins auf die Nuss gegeben habe, dann sagt ihm, es tut mir leid ... aber es ist mir scheißegal.«
»Was haste gesacht?« Der große Kerl im Regenmantel zog ein finsteres Gesicht und beugte sich vor. Genau das hatte ich von ihm gewollt. Ich hatte nur einen Arm frei, also trat ich ihm an die Stelle seines Regenmantels, unter der ich seinen Familienschmuck vermutete. Ich traf genau ins Ziel, und er klappte zusammen. Der Kerl, der meinen Arm hielt, riss mich nach hinten, aber genau damit hatte ich gerechnet. Ich folgte seiner Bewegung. Abstand zum Angreifer zu halten ist im Handgemenge nicht immer die beste Taktik; deshalb rammte ich ihn und drückte ihn nach hinten auf die Motorhaube des Wolseley. Ich fiel auf ihn, Nase an Nase. Er schlug zu und streifte mich mit der Faust am Schädel. Für einen Moment tanzten mir weiße und schwarze Funken vor den Augen. Mit der freien Hand packte ich meinen Hut, als er mir durch den Hieb vom Kopf zu rutschen drohte. Ich drückte ihn meinem Gegner ins Gesicht und bedeckte seine Augen, dann zog ich den Hut weg, bevor meine Stirn auf seine Nase krachte.
Ich beglückwünschte mich gerade im Stillen, wie ausgezeichnet ich die Situation gehandhabt hatte, als mich ein Maultiertritt rechts vom Rückgrat traf, genau über der Niere. Ich hörte, wie mir zwei Lungenflügelfüllungen Luft durch die Kehle schossen, und geriet sofort in diesen panischen, atemlosen Zustand, wo das Bedürfnis, dem Körper Sauerstoff zuzuführen, das gesamte Universum ausfüllt. Der große Kerl im Regenmantel, der mich getreten hatte, packte meine Arme und zog mich von seinem Partner weg, der auf der Motorhaube ausgebreitet lag. Ich rang noch immer um Atem. Wenn ich mich nicht schnellstens in den Griff bekam, ging ich zu Boden und wurde zusammengetreten.
Plötzlich ließ der große Bursche mich los. Ich beugte mich vor, die Hände auf die Knie gestützt, und holte tief und gierig Luft. Als ich mich umdrehte, sah ich etwas, das keinen Sinn ergab: Alain Barnier war dabei, den Gorilla im Regenmantel nach Strich und Faden zu verprügeln.
Ich zerbrach mir nicht weiter den Kopf darüber, sondern wandte meine Aufmerksamkeit dem Typen mit dem blutüberströmten Gesicht zu, der sich von der Motorhaube des Wolseleys hochzustemmen versuchte. Ich machte einen Schritt nach vorn, bereit, dem Burschen noch eins zu verpassen, sobald er sich aufrichtete. Doch er war nicht ganz so dumm, wie ich angenommen hatte, denn er sah an meiner Bewegung, was ich vorhatte, stützte sich mit den Ellbogen auf der Motorhaube ab und trat nach mir. Es war ein gemeiner Tritt, aber er verfehlte sein Ziel, und ich konnte sein Fußgelenk packen. Ich riss fest an dem Bein, und er rutschte von der Motorhaube wie ein Schiff, das vom Stapel läuft, und knallte hart aufs Pflaster. Mit einem widerwärtigen Geräusch prallte sein Schädel gegen die Bordsteinkante. Dann lag er ganz still da, und einen Augenblick machte ich mir aufrichtig Sorgen, ich könnte ihn umgebracht haben. Dann beruhigte er mich mit einem leisen Stöhnen.
Hinter mir dauerte der Kampflärm an: Barnier gegen Regenmantel. Ich vermutete, dass der Gorilla Barnier mehr als gewachsen wäre, doch als ich mich umdrehte, sah ich, dass ihm der zu kleine Filzhut vom Kopf geschlagen worden war. Aus einer Platzwunde an seiner Schläfe rann Blut, und aus seinem zerschmetterten Mund ebenfalls. Barnier war es, der mich faszinierte: Fast ungerührt trat er von seinem Gegner zurück. Ich konnte sehen, wie seine Augen sich bewegten und ständig die Hände des großen Kerls beobachteten, seine Füße, sein Gesicht, auf jede Reaktion vorbereitet. Der Gorilla taumelte vor und schlug ungelenk und verzweifelt einen Haken nach Barnier, der lässig zurücktrat, als würde er auf dem Bürgersteig einer älteren Dame den Vortritt lassen. Dann beugte er sich mit dem ganzen Körper nach hinten, riss ein Bein hoch und schwang es herum. Seine Fußkante schnitt wie eine Sense durch die Luft. Sie traf den großen Mann seitlich am Schädel. Wie ein gefällter Baum stürzte Costellos Gorilla zu Boden.
Ich machte ein paar Schritte nach hinten, bis ich Schulter an Schulter neben Barnier stand; wir waren beide bereit für den Fall, dass unsere Spielgefährten sich vom Pflaster erheben sollten. Hinter uns auf den Stufen des Carvery drängten sich die Leute, und aus der Ferne hörte ich das schrille Klingeln eines Streifenwagens.
»Ich habe die Polizei verständigt«, sagte Barnier auf Französisch, ohne sich zu mir umzudrehen. Er war wirklich ein eiskalter Kunde. »Wir sollten uns eine Geschichte zurechtlegen.«
Der Gorilla, dessen Schädel ich gegen die Rinnsteinkante hatte knallen lassen, zog sich langsam an der Autotür hoch. Er blickte zu Barnier und mir hinüber. Seine Augen waren noch ein bisschen glasig, aber er sah scharf genug, um erkennen, dass wir bereit zu weiterem Ringelpiez mit Anfassen waren, und entschied, dass für ihn die Pausenglocke klingelte. Er nahm den Filzhut seines Partners auf und stieß diesen mit dem Fuß an, während er etwas von der Polizei murmelte. Die beiden Schläger stiegen unbeholfen in den Wolseley und jagten davon.
»Wer waren Ihre Freunde?«, fragte Barnier, wieder auf Französisch.
»Unzufriedene Kunden«, erwiderte ich.
»Sie kommen wohl besser wieder herein und machen sich sauber.«
Ich nickte und wollte ihm ins Carvery folgen, ohne auf den Polizeiwagen zu achten, einen schwarzen Wolseley 6/80. Als wir die Eingangstür erreichten, gab Barnier mich in die Obhut des greisen Pagen, der mich eine mit rotem Teppich belegte Treppe hinunter zum Herrenwaschraum führte. Der Toilettenmann schaute mich entsetzt an; wahrscheinlich sah mein Gesicht ziemlich scheußlich aus. Doch als ich mich im Spiegel über den Handwaschbecken betrachtete, fand ich es gar nicht so schlimm und fragte nach einem feuchten Handtuch, das ich mir an die Wange halten konnte, damit sie nicht allzu sehr anschwoll und blau wurde. Während ich auf das Handtuch wartete, wusch ich mir Hände und Gesicht, schöpfte ein wenig Wasser und ließ es mir über den Nacken laufen. Ich musste mich vorsichtig vom Waschbecken hochdrücken, eine Hand behutsam in mein Kreuz gedrückt, wo der Regenmantel mich getreten hatte. Ich wurde zu alt für so was.
Ich trocknete mich ab, zog Schlips und Kragen zurecht und ließ meinen ältlichen Piccolo im Affenjäckchen mein Jackett abbürsten, ehe er mir hineinhalf.
»Absolut schrecklich, Sir«, sagte er aufrichtig bestürzt. »Absolut schrecklich, dass man Angst haben muss, auf offener Straße überfallen und ausgeraubt zu werden.«
Ich nickte und lächelte müde. Offenbar hatte Barnier ihnen diese Geschichte aufgetischt, als er sie aufgefordert hatte, die Polizei zu rufen. Ich drückte mir das nasse Handtuch an die Wange. Der alte Page war die Treppe hinaus verschwunden und kam kurz darauf mit Eis zurück, das in eine Serviette eingewickelt war. Ich war beeindruckt, dass er sich so schnell bewegen konnte. Ich lehnte mich an die porzellangekachelte Wand und drückte mir den Eisbeutel an die Wange. Ein paar Minuten später gab ich dem Piccolo und dem Toilettenmann ein Trinkgeld und stieg die rot ausgelegte Treppe hinauf in die Lounge. Dort stand Barnier an der Eingangstür und sprach mit zwei Polizeibeamten. Die Vorschriften des Hauses verlangten, dass Uniformierte an der Tür blieben; sie durften ihre Vernehmungen nicht einmal in einem Personalraum oder Büro abhalten. Was immer Barnier ihnen weisgemacht hatte, sie gaben sich damit zufrieden und gingen zu ihrem Streifenwagen zurück, ohne von mir eine Aussage zu verlangen. An Barnier fiel mir auf, dass er keinen Kratzer abbekommen hatte und der elegante graue Flanellanzug noch immer tadellos saß. Er kam zu mir, schlug mir auf die Schulter und grinste.
»Ich glaube, Sie könnten jetzt noch einen Cognac vertragen, nicht wahr?«
»Ich könnte noch einen vertragen, das stimmt«, erwiderte ich.
Wir gingen wieder hinein und setzten uns in die gleiche Nische. »Was haben Sie gesagt, um die Polizei loszuwerden?«, fragte ich.
»Ich habe gesagt, dass Sie mein Cousin aus Quebec seien und kein Wort Englisch sprächen. Ich sagte, die beiden Kerle da draußen hätten versucht, Sie auszurauben, und dass der Geschäftsführer und ich von hier das Ganze beobachtet hätten. Ich habe ihnen eine falsche Beschreibung des Wagens gegeben und sie fortgeschickt.«
»Sie wollten nicht mit mir reden?«
»Ich habe ihnen gesagt, dass Sie nur Französisch sprechen und in ein paar Tagen abreisen. Anzeige zu erstatten oder Ihre Reise hinauszuschieben wären Komplikationen, die Sie nicht brauchen könnten.«
»Und damit haben sie sich begnügt?«
»Wir sprechen hier von der Polizei, mein Freund. Mit einem Ausländer umzugehen, der kurz vor der Abreise steht, ist kompliziert. Und wenn ich über die Polizisten auf der ganzen Welt eines gelernt habe, dann, dass sie Komplikationen nicht mögen. Warum erzählen Sie mir nicht, worum es eigentlich ging? Hatte es mit dem Verschwinden des jungen Mr. Pollock zu tun?«
»Ja, in gewisser Weise. Sammy Pollock war viel mit Paul Costello zusammen. Paul ist der Sohn von Jimmy Costello. Haben Sie von Jimmy Costello gehört?«
Barnier schüttelte den Kopf.
»Costello ist ein Ganove und Schläger. Ein kleiner Fisch, sicher, aber er hat eine Bande. Unsere beiden Tanzpartner waren Vollmitglieder. Costello hat außerdem einen missratenen Sohn. Man muss sich schon große Mühe geben, damit man in der Unterwelt als Enttäuschung gilt, aber der junge Paul hat es geschafft. Jedenfalls hat er sich mit Sammy Pollock herumgetrieben, ehe dieser verschwunden ist. Er hatte auch einen Schlüssel zu Sammys Wohnung. Ich habe ihm den Schlüssel abgenommen, und wir haben uns offen unsere Meinung gesagt. So offen, dass er vielleicht einen angeknacksten Knochen hat.«
»Und Papa Costello ist nicht begeistert?«
»Anscheinend nicht. Aber wenn ich ehrlich sein soll, ich glaube nicht, dass es ihn sonderlich interessiert. Das da draußen kam von ihm. Er tut, was man von ihm erwartet. Vielleicht stört es ihn gar nicht besonders, dass ich seinem Sohnemann ein paar geknallt habe, aber er muss zumindest pro forma Anstoß daran nehmen. Für unsere Freunde in der Bruderschaft der Kriminellen steht der äußere Anschein ganz oben.«
»Nun, ich könnte mir denken, dass Sie einen Anschlussbesuch Ihrer Freunde erhalten. Oder ihrer Kollegen.« Er wölbte eine Augenbraue.
»Vielleicht sollte ich mich in Ihrer Nähe halten. Das war ziemlich gute Fußarbeit.«
»Savate. Französisches Fechten mit Füßen und Fäusten. Manchmal nennt man es das Jeu Marseillais, weil es im letzten Jahrhundert in Marseille sehr beliebt war. Bei Seeleuten, wissen Sie? Diese Technik soll dazu dienen, dass man beim Kampf an Bord eine Hand frei hat, um sich festzuhalten, falls das Schiff krängt, Sie verstehen?«
»Durchaus«, sagte ich. Ich hatte von Savate gehört, aber was er mir auf der Straße gezeigt hatte, war mehr. »Ich dachte nur, Savate wäre eine Art Straßenkampftechnik für Schauerleute und Matrosen. Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, Sie kommen mir nicht vor wie jemand, der sich in seiner Jugend in den Gassen von Marseille geprügelt hat.«
»Nein?«, erwiderte Barnier. »Vielleicht haben Sie recht. Aber die Menschen sind selten die, für die wir sie halten. Das ist eine der wichtigsten Regeln, die ich im Leben gelernt habe. Wie auch immer, im Laufe der Jahre wurde Savate gesellschaftsfähiger. Ein Sport. Alexandre Dumas der Jüngere hat sich eingehend damit befasst.« Ich musterte das grausame, gut aussehende Gesicht des Franzosen. Das Lächeln auf seinen Lippen, das sein gestutzter Schnäuzer und der gepflegte Spitzbart einrahmten, hatte etwas Wissendes. Und es strahlte ein wenig Melancholie aus. Barnier kam mir vor wie ein müder, trauriger Satan.
»Na ja, wo immer es herkommt«, sagte ich, »ich war froh darüber. Danke für Ihre Hilfe da draußen. Und bei der Polizei.«
Barnier deutete ein Achselzucken an.
Wir schienen uns nichts weiter zu sagen zu haben, und meine Füße trugen mich wieder auf die Straße und zu meinem Auto. Diesmal warteten keine Gorillas auf mich. Vorerst. Denn früher oder später müsste ich die Sache mit Costello bereinigen.
Als ich die Tür des Atlantics öffnete, schaute ich zum Merchant’s Carvery zurück. Barnier stand am Fenster der Bar und blickte mir nach, genau wie er es getan haben musste, um beobachten zu können, wie Costellos Männer mich einkassieren wollten.
Aus Barnier wurde ich nicht schlau. Ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, was er mir über sein Verhältnis zu Sammy Pollock gesagt hatte, oder besser: dessen Nichtvorhandensein. Was mich ins Grübeln brachte, hatte vermutlich nichts damit zu tun. Dieser Franzose hatte irgendetwas an sich. Er schleppte irgendeinen Schatten mit sich herum. Und für einen Weinhändler wusste er sich seiner Haut sehr gut zu wehren.
***
Auf dem Weg zu meiner Wohnung fuhr ich bei Lorna vorbei. Ich hoffte, die kalte Kompresse hätte verhindert, dass die eine Seite meines Gesichts allzu sehr anschwoll und blau wurde, aber sie war noch immer empfindlich, und Lorna sah es sofort, als ich ankam.
»Was ist passiert?«, fragte sie, als sie mich hereinließ, doch ihre Sorge war von der Trauer abgestumpft, und sie gab sich zufrieden, als ich es mit einem Schulterzucken und einem gemurmelten »nichts weiter« abtat.
Wir setzten uns ins Wohnzimmer. Wir waren allein. Maggie MacFarlane war ausgegangen. Sie wollte Vorbereitungen treffen, hatte sie Lorna gesagt. Ich fragte mich, wie weit sie bei dem Idol der Nachmittagsvorstellungen, das ich am Tag zuvor gesehen hatte, schon war.
Lorna sah müde aus, und ihre Augen hatten rote Ränder vom Weinen. Ich sprach leise und besänftigend mit ihr und tat alles, was man als einfühlsamer Freier so tun sollte. Nach einiger Zeit, als der Augenblick es zu gestatten schien, fragte ich sie nach dem Besucher in dem Lanchester oder Daimler. Sie blickte mich einen Augenblick verständnislos an.
»Groß, dunkles Haar, Schnurrbart«, sagte ich.
Ein Ausdruck stumpfen Begreifens legte sich auf ihr Gesicht. »Ach ja ... Jack. Jack Collins. Er war Dads Partner. Und er ist ein Freund der Familie.«
»Partner? Ich hätte nicht gedacht, dass dein Vater einen Partner hatte.«
»Nicht im Buchmachergeschäft. Jack Collins hat mit Boxen zu tun. Er organisiert Kämpfe. Ich glaube, er ist eine Art Agent oder Veranstalter für Boxkämpfe. Er und mein Vater wollten gemeinsam ein paar Kämpfe organisieren. Sie hatten eine Firma gegründet. Jack und mein Dad standen sich nahe. Jack gehört wirklich schon fast zur Familie.«
»Mit dem Kampf zwischen Kirkcaldy und Schmidtke hatten sie aber nichts zu tun, oder?«
»Nein, nichts so Großes. Warum fragst du?«
»Reine Neugierde«, sagte ich. »Wieso war er gestern hier?«
»Er hilft uns bei ein paar geschäftlichen Angelegenheiten.«
»Verstehe. Er hilft deiner Stiefmutter?«
Lorna schaute mich verwirrt an. Dann dämmerte es ihr. »Oh ... nein, so ist es nicht. Glaub mir, ich würde das bei Maggie nicht ausschließen. Ich würde bei ihr gar nichts ausschließen. Trotzdem glaube ich nicht, dass Jack sich auch nur im Geringsten für sie interessiert. Offenbar hat er einen ganzen Harem glamouröser Freundinnen.« Sie versuchte sich an einem schalkhaften Lächeln, doch ihre Traurigkeit spülte es weg, als wäre es in den Sand gezeichnet gewesen. »Wie schon gesagt, Jack und Dad standen sich sehr nahe. Auf keinen Fall würde Jack ...«
»Was hat er gewollt? Gestern Abend, meine ich.«
»Er wollte nur schauen, ob er helfen kann. Und er hat irgendwelche Papiere von Dad gesucht.«
»Hat er sie gefunden?«
»Nein, ich glaube nicht.«
Ich trank einen mit Lorna, und als ich ging, klammerte sie sich wieder an mich. Ich kämpfte gegen die Gereiztheit an, die in mir aufwallte. Wieder verstieß Lorna gegen unsere Übereinkunft, nichts von dem anderen zu verlangen. Du bist echt ein Prachtstück, sagte ich mir.
Als ich wieder nach Hause kam, rief ich vom Apparat auf dem Flur Sheila Gainsborough unter der Nummer ihres Agenten an. Am anderen Ende meldete sich die gleiche helle, weibische Stimme. Ich bat darum, Miss Gainsborough zu sprechen. Ich hörte ein Seufzen, dann Stille, und schließlich kam Sheila ans Telefon. Ich berichtete ihr von meinen Fortschritten, was nicht lange dauerte. »Haben Sie etwas von Sammy gehört?«, fragte ich dann.
»Nein«, antwortete sie. »Nichts.« Die transatlantische Stimme klang müde und angespannt. »Ich hatte gehofft ...«
»Ich suche weiter nach ihm, Miss Gainsborough. Ich habe mit dem Franzosen gesprochen, mit Barnier. Er scheint Sammy doch nicht so gut zu kennen.«
»Nicht?« Sie klang überrascht. Aber nur ein bisschen. »Sammy hat ihn ein paar Mal erwähnt. Ich dachte, sie kennen einander.«
»Oh, er weiß, wer Sammy ist. Sie kennen sich nur nicht gut.«
Wir sprachen noch ein paar Minuten miteinander. Sheila konnte mir kaum noch etwas sagen und ich ihr noch weniger. Ich versprach, sie über meine Fortschritte auf dem Laufenden zu halten.
Nachdem ich aufgelegt hatte, spürte ich in meiner Brust etwas Totes, Bleiernes. Jedes Mal, wenn ich an Sammy Pollock dachte, verdunkelte sich das Bild ein wenig mehr.