3.

Es ist schon komisch: Damals dachte ich von der Woche nach dem Mord an Small Change gar nicht als »die Woche nach dem Mord an Small Change«. Ich hatte mir über andere Dinge Gedanken zu machen und andere Dinge zu erledigen. Oft begreift man erst im Rückblick, wie sehr ein bestimmter Moment das Leben beeinflusst hat. Wenn man ihn erlebt, kommt es einem vor wie der gleiche alte Mist, und man stolpert hindurch, ohne zu ahnen, dass man am besten ein Tagebuch führen oder alles fotografieren sollte. Dann konnte man später im Leben zurückblicken und sich sagen: Mann, hätte ich damals nur gewusst, was wirklich Sache war.

In dieser Woche besuchte ich Lorna natürlich jeden Tag. Und natürlich hielt ich die Pfoten von ihren Schlüpfern fern. Ich bin schließlich ein Gentleman. Außerdem wusste ich aus Erfahrung, dass die Trauer auch bei der begeistertsten Bettgenossin die Leidenschaft arg zusammenschmelzen lässt. Nicht der Tod als solcher bewirkt das, sondern die Trauer. Im Krieg habe ich gelernt, dass Tod und Gewalt für beide Geschlechter sehr wirksame Aphrodisiaka sein können. Belassen wir es dabei, dass ich der fürsorglichste und züchtigste Freier war, den man sich denken kann.

Um ehrlich zu sein, hatte ich Ablenkung.

Man sagt, Eskimos hätten hundert verschiedene Wörter für Schnee. Glasgower müssen doppelt so viele Begriffe für die verschiedenen Sorten Regen besitzen, der im Laufe eines Jahres so auf ihre Stadt niedergeht. Im Winter liegt Glasgow unter feuchtkaltem Trommelfeuer; im Sommer fällt der Regen in schmierigen, lauwarmen Klecksen, als schwitzte der Himmel auf die Stadt.

In diesem Jahr erlebte Glasgow einen völlig untypisch trockenen und sengend heißen Sommer. Die Hälfte der Einwohnerschaft verbrachte den Großteil dieses Sommers damit, den Kopf zu heben, blinzelnd zum Himmel zu blicken und zu versuchen, das Wort »blau« zu bilden.

Mich brachte das heiße Wetter ganz durcheinander. Normalerweise wird in Glasgow jeder Sonnenschein von einem rußigen Schleier abgeschwächt, den die Fabrikschlote und Hausschornsteine in die Luft pusten; in diesem Sommer jedoch erlebte ich desorientierende Augenblicke, in denen der Himmel aufklarte und die Hitze und das Licht mich an den Sommer zu Hause in New Brunswick erinnerten. Doch jedes Mal handelte es sich um eine flüchtige Illusion, immer wieder zerschmettert von der durch dunkle Rauchwolken geprägten Wirklichkeit der Stadt um mich her.

Wenigstens konnte ich leichte Anzüge tragen, die besser saßen. Was Stoffe betraf, bevorzugten die Schotten jahrein, jahraus Tweed, je kratziger und dichter, desto besser. Ein schottischer Bekannter hat mir mal versichert, dass Tweed von der Isle of Harris weniger kratze; das komme daher, dass der Stoff nach alter Tradition mit menschlichem Urin getränkt werde. Vielleicht bin ich ein bisschen penibel, aber ich bevorzuge Couture, die nicht von irgendeinem inzestuösen Bauerntrampel bepisst worden ist.

Ich hatte drei Tage damit verbracht, alles über Sneddons Boxer herauszufinden, was sich herausfinden ließ. Bobby Kirkcaldy war in Glasgow geboren, aber in Lanarkshire aufgewachsen, zuerst in einem Waisenhaus, dann bei einer Tante. Beide Elternteile waren früh an Herzanfällen gestorben, als Bobby noch ein Kind war. Das ist tragisch, aber nicht ungewöhnlich: Wenn Herzkrankheiten eine Sportart wären, käme in dieser Disziplin das gesamte britische Olympiateam aus Glasgow.

Der junge Bobby Kirkcaldy hatte sich mit seinen Fäusten aus dem Slum von Motherwell heraus nach oben gekämpft. Diesen Erfolg muss man im Zusammenhang sehen: Jeder in Motherwell würde bis aufs Blut kämpfen, um dort herauszukommen. Ich hatte inzwischen herausgefunden, dass Bobby seine Kohle gut investiert hatte und dass er clever beraten wurde, was die Versorgung für die Zeit nach seinem Rückzug aus dem Ring betraf. Oder er selbst war im Investieren so geschickt wie mit dem Boxhandschuh. Für jemanden, der sich dem Höhepunkt seiner Boxkarriere näherte, war Bobby mit den Gedanken – und mit dem Geld – jedenfalls ganz schön bei anderen Dingen.

Mein Büro war drei Treppen hoch an der Gordon Street gegenüber dem Hauptbahnhof, und bis Donnerstag hatte ich alles erledigt, was ich am Telefon erledigen konnte. Den Nachmittag wollte ich für einen Ausflug zum jungen Mr. Kirkcaldy nutzen. Ich beschloss, einen Kaffee zu trinken und die Zeitung zu lesen, ehe ich aufbrach. Ich halte mich gern auf dem Laufenden. Man konnte ja nie wissen, wann der Premierminister mich um Rat anging.

Sämtliche Nachrichten waren düster. Großbritannien war nicht das einzige Land, das gegen den Verlust eines Imperiums kämpfte: Die Franzosen bekamen in Indochina von den Vietminh die Hucke voll. In Gorbals hatten die Schlitzerbanden Krieg. Und vor der Stadt war ein Mann vom Zug überrollt worden. Die Polizei gab keinen Namen heraus. Das Einzige, was mich aufheiterte, war eine Anzeige, in der mir mitgeteilt wurde, dass nur eine einzige Amplex-Chlorophylltablette am Morgen mir Atem- und Körperfrische für den ganzen Tag garantierte – der offensichtliche Versuch, in einen unausgeschöpften Markt vorzudringen.

Ich war mitten im Rip-Kirby-Comic, als ich angenehm überrascht wurde. Eine sehr freudige, eins sechzig große, blonde Überraschung. Obwohl wir einander noch nie begegnet waren, erkannte ich sie in dem Augenblick, in dem sie mein Büro betrat. Sie kleidete sich mit einer Eleganz, wie man sie in Glasgow nicht einmal anstrebte: cremefarbene Seidenbluse, figurbetonter himmelblauer Bleistiftrock, lange Waden in reiner Seide. Um ihren Hals hing eine Kette aus Perlen, die so dick waren, dass der Taucher sie eine nach der anderen an die Oberfläche gebracht haben musste. Dazu passende Ohrringe. Sie trug einen kleinen weißen Pillboxhut, weiße Handschuhe und eine zum Rock passende Jacke über dem gleichen Unterarm wie die Handtasche, die in einem früheren Leben mal im Nil oder in den Everglades von Florida geschwommen hatte.

Ich stand auf und bemühte mich um ein Lächeln, das kein anzügliches Grinsen war. Wahrscheinlich wirkte es einfach nur belämmert. Aber Sheila Gainsborough war es vermutlich gewöhnt, dass Männer sie belämmert anlächelten.

»Hallo, Miss Gainsborough«, sagte ich. »Bitte nehmen Sie Platz. Was kann ich für Sie tun?«

»Sie kennen mich?« Sie zeigte das Lächeln eines berühmten Menschen, dieses höfliche, mechanische Entblößen der Zähne, das nichts zu bedeuten hat.

»Jeder kennt Sie, Miss Gainsborough. Auf jeden Fall jeder in Glasgow. Ich muss sagen, bei mir kommen nicht besonders viele Prominente ins Büro spaziert.«

»Nicht?« Sie zog ein befremdetes Gesicht, indem sie ihre makellos gewölbten Augenbrauen senkte und auf ihrer ansonsten spiegelglatten Stirn ein Fältchen erzeugte. Auch das Fältchen war perfekt. »Ich hätte gedacht ...« Sie verwarf den Gedanken und das Stirnrunzeln mit einem Heben der Schultern und setzte sich. Ich nahm ebenfalls wieder Platz. »Ich war noch nie bei einem Privatdetektiv. Ich habe sogar noch nie einen gesehen, außer Humphrey Bogart im Film.«

»Im wirklichen Leben sind wir größer.« Ich grinste über meine eigene Bemerkung. Belämmert. »Und ich nenne mich nicht Detektiv, sondern Rechercheagent. Tja, dann ... was führt Sie zu mir?«

Sie öffnete die Sechs-Guineas-Krokotasche und reichte mir ein Foto, eine professionelle Farbaufnahme, die »Showbusiness«, schrie. Den jungen Mann auf dem Bild erkannte ich nicht, aber ich wusste augenblicklich, dass ich ihn nicht mochte. Sein Lächeln war gespielt und zu selbstsicher. Er trug sein teuer aussehendes Hemd am Hals offen und mit den Kragenspitzen über einem noch teurer wirkenden hellgrauen Jackett. Sein kastanienbraunes Haar war gut geschnitten und leicht eingefettet. Er sah gut aus, aber auf eine allzu glatte und durch das schwache Kinn weichliche Art. Trotz des dunklen Haares hatte er die gleichen eindrucksvollen, hellblauen Augen wie Sheila Gainsborough.

»Das ist mein Bruder Sammy. Mein jüngerer Bruder.«

»Ist er auch im Showbusiness, Miss Gainsborough?«

»Nein. Das heißt ... jedenfalls nicht richtig. Manchmal singt er. Er hat aber schon jedes Geschäft probiert. Einige davon waren wohl nicht ganz ehrlich.« Sie seufzte, beugte sich vor und stützte die Unterarme auf die Kante meines Schreibtisches. Ihre Haut war gebräunt. Sie war nicht dunkel, sondern hellgolden. Das süße Stirnrunzeln war wieder da. »Vielleicht bin ich an allem schuld. Ich verwöhne ihn und ich gebe ihm mehr Geld, als ihm guttut.« Ich bemerkte, dass sie mit einem leicht amerikanisierten Einschlag sprach. Ich sprach genauso, aber bei mir kam es daher, dass ich in Kanada aufgewachsen bin. Soweit ich wusste, war Sheila Gainsborough nie weiter nach Westen gekommen als bis Dunoon. Ich nahm an, dass sie Sprachunterricht erhalten hatte, damit ihr Glasgower Einschlag irgendwo mitten im Atlantik versank, dort, wo es schön tief war.

»Steckt Sammy in Schwierigkeiten?« Ich beugte mich ebenfalls mit besorgter Miene vor und ergriff die Gelegenheit, ihr in die Bluse zu schielen.

»Er ist verschwunden«, sagte sie.

»Wie lange schon?«

»Eine Woche. Vielleicht zehn Tage. Wir hatten einen Termin bei der Bank, weil er das Konto überzogen hat, das ich ihm eingerichtet habe, aber er ist nicht aufgetaucht. Das war letzten Donnerstag. Ich ging zu seiner Wohnung, aber er war nicht zu Hause. Hinter der Tür lag Post von zwei Tagen.«

Ich nahm einen Notizblock aus der Schreibtischschublade und machte mir ein paar Notizen. Es war pure Show; den Leuten tut es gut, wenn sie sehen, wie man sich Notizen macht. Irgendwie sieht es dann so aus, als nähme man das Ganze ein wenig ernster. Weise zu nicken, während man schreibt, ist ebenfalls eine gute Idee.

»Hat Sammy so etwas schon mal gemacht? Zu verschwinden, ohne Ihnen Bescheid zu geben?«

»Nein. Jedenfalls nicht so. Nicht für eine ganze Woche. Gelegentlich macht er eine Sauftour. Einen oder zwei Tage lang, mehr nicht. Und wenn ich in der Stadt bin – Sie wissen schon, wenn ich nicht auf Tournee bin oder in London –, treffen wir uns jeden Samstag und essen im Cranston’s Tea Rooms auf der Sauchiehall Street zu Mittag. Das verpasst er nie.«

Ich notierte. Ich nickte. Weise. »Sie erwähnten, er habe sein Konto überzogen. Hat es weitere Abhebungen gegeben, seit er verschwunden ist?«

»Das weiß ich gar nicht ...« Plötzlich wirkte sie verdutzt, als hätte sie ihn im Stich gelassen – als hätte sie mich im Stich gelassen –, indem sie es nicht überprüft hatte. »Können Sie das herausfinden?«

»Ich fürchte, nein. Sie sagen, Sie sollten zusammen mit ihm an dem Banktermin teilnehmen?«

»Ich bin Mitinhaberin des Kontos«, sagte sie. Auf ihrer ansonsten makellosen Stirn stand jetzt wieder die nachdenkliche Falte. Aus gutem Grund, dachte ich. Offenbar war ihr Bruder gewöhnt, mit Geld um sich zu werfen. Auf großem Fuß zu leben. Wenn er nicht versucht hatte, von seinem bereits überzogenen Konto weitere Beträge abzugeben, warf er nicht mehr mit Geld um sich und lebte nicht mehr auf großem Fuß. Oder lebte vielleicht gar nicht mehr.

»Dann können Sie es nachprüfen«, sagte ich. »Ihnen wird die Bank es mitteilen, aber mir nicht. Selbst die Polizei bräuchte dazu eine richterliche Verfügung. Sind Sie bei der Polizei gewesen, Miss Gainsborough?«

»Ich habe noch abgewartet. Ich habe mir immer gesagt, dass Sammy vielleicht noch auftaucht. Als er dann doch nicht wiederkam, dachte ich, ich ziehe besser einen Privatdetektiv hinzu ... einen Rechercheagenten, meine ich.«

»Wieso mich?«, fragte ich. »Ich meine, wer hat Sie auf mich aufmerksam gemacht?«

»Mein Tourneemanager. Jack Beckett. Er sagt, er kennt Sie.«

Ich runzelte die Stirn. »Ich wüsste nicht.«

»Oder er weiß zumindest von Ihnen. Er hat gesagt ...« Sie zögerte, als wäre sie nicht sicher, ob sie den Rest des Gedankens in Worte fassen wollte. »Er sagte, Sie seien verlässlich, aber Sie hätten Kontakt zu ... na ja, dass Sie Leute kennen, die eher von der Sorte sind, mit der Sammy sich abgibt.«

»Verstehe«, sagte ich. Ich versuchte den Namen Jack Beckett noch immer einzuordnen und nahm mir vor, ihm für sein glühendes Charakterzeugnis zu danken, falls ich ihm je über den Weg laufen sollte.

Schweigen setzte ein. Auf der Gordon Street hupte ein Taxi. Stimmen perlten von der Straße herauf und drangen durch das Fenster, das ich in der vergeblichen Hoffnung, kühlere Luft ins Büro zu bekommen, offen gelassen hatte. Ich sah, wie an Sheila Gainsboroughs schlankem Hals feine Schweißperlen hinunterliefen.

»Mit was für Menschen genau gab sich Sammy denn ab? Sie sagten, er hätte sich an nicht ganz ehrlichen Geschäften beteiligt. Was meinen Sie damit?«

»Wie ich schon sagte, ist Sammy eigentlich nicht richtig im Showbusiness. Aber hin und wieder bekommt er ein Engagement als Sänger. Er singt nicht besonders gut, wenn ich ehrlich bin, aber gut genug für Glasgow. Er hat in Nachtclubs gesungen und ist dort in schlechte Gesellschaft geraten. Er hat auch zu spielen angefangen. Wahrscheinlich ist dabei viel Geld verschwunden.«

»In welchen Clubs?«

»Das weiß ich nicht ... nicht die, in denen ich angefangen habe. In einen ist er oft gegangen. Ich glaube, dort hat er auch gesungen. Der Pacific Club unten am Fluss.«

»Ach, der«, sagte ich. Ach du Scheiße, dachte ich. Jonny Cohens Club.

»Sie kennen ihn?«

»Ich kenne den Besitzer. Ich kann mit ihm reden.«

»Haben Sie je vom Poppy Club gehört?«, fragte sie.

»Kann ich nicht behaupten. Wieso?«

»Als ich zu Sammys Wohnung ging, lag neben dem Telefon ein Zettel, auf dem ›The Poppy Club‹ stand. Sonst nichts. Keine Nummer. Ich habe ins Telefonbuch geguckt, aber weder in Glasgow noch in Edinburgh gibt es ein Lokal, das so heißt.«

Ich schrieb den Namen in mein Notizbuch. Beruhigend. »Wie ist Sammys voller Name?«, fragte ich.

»James Samuel Pollock.«

»Pollock?«

»Das ist mein richtiger Name. Das heißt, es war mein richtiger Name. Ich habe ihn per einseitiger Erklärung geändert.«

»Sie hießen also Sheila Pollock?«

»Ishbell Pollock.«

»Ishbell?«

»Mein Agent fand, dass Ishbell Pollock nicht gerade nach dem Namen einer Starsängerin klingt.«

»Im Ernst?«, fragte ich, als könnte ich nicht fassen, wie jemand blind sein konnte gegenüber dem Reiz, den ein Name wie Ishbell Pollock ausübte. Man hatte gute Arbeit an ihr geleistet. Eine Glasgower Clubsängerin, eine unter Tausenden. Aber man hatte tolles Rohmaterial bekommen. Sheila Gainsborough hatte das Aussehen – ganz sicher das Aussehen – und die Stimme, die man brauchte, um aus der Masse hervorzuragen. Ein Talentsucher hatte sie gefunden, aufgebaut, neu verpackt, gemanagt. Vielleicht hatte sie das Aussehen und die Stimme besessen, aber der Name Ishbell Pollock und der Glasgower Akzent waren schneller fallen gelassen worden als eine Strumpfhose auf Bedarfskarten am Tag des Sieges in Europa.

Ich schrieb mir Sammys vollen Namen ins Notizbuch. »Wann haben Sie Sammy zuletzt gesehen?«

»Beim Mittagessen in den Tea Rooms am Samstag vor einer Woche.«

»Was ist mit Freunden oder Freundinnen? Leuten, mit denen er sich trifft? Und Sie haben gesagt, er sei in schlechte Gesellschaft geraten. Haben Sie irgendwelche Namen?«

»Er hat einen Freund, einen Franzosen namens Barnier. Sammy hat ihn ein paar Mal erwähnt. Ich glaube zumindest, dass sie Freunde sind, aber ihr Verhältnis kann auch rein geschäftlicher Natur sein.«

»Vorname?«

Sie schüttelte den Kopf. »Sammy hat immer nur von Barnier gesprochen. So viele Franzmänner wird es in Glasgow nicht geben.«

»Ich weiß nicht recht«, erwiderte ich. »Unsere gute Küche lockt sie wahrscheinlich scharenweise her.« Wir grinsten beide. »Sonst noch jemand?«

»Als ich einmal bei ihm in seiner Wohnung war, bekam er einen Anruf von einem Mädchen. Sie redeten ziemlich vertraut miteinander. Ich habe nur den Vornamen des Mädchens mitgekriegt. Claire. Aber er kannte auch ein paar Kerle, die mir nicht gefallen haben. Raue Typen.«

»Namen?«

»Tut mir leid. Ich habe sie nur einmal gesehen, wie sie vor dem Club auf Sammy gewartet haben. Sie sahen aus, als ob ... ich weiß nicht ... als ob sie nicht gesehen werden wollten. Ende zwanzig, einer ungefähr eins siebzig groß, dunkles Haar, der andere ein bisschen kleiner, rotblondes Haar. Der mit dem dunklen Haar hat eine Narbe auf der Stirn, die aussieht wie ein Halbmond.«

Ich sah sie gedankenverloren an. Sie erwiderte meinen Blick eifrig, offensichtlich beruhigt, dass sie tiefe ermittlerische Überlegungen angeregt hatte. Tatsächlich überlegte ich mir, wie es wohl wäre, sie auf meinem Schreibtisch flachzulegen.

»Okay. Danke«, sagte ich, als das Bild vollständig war. »Könnten wir vielleicht zur Wohnung Ihres Bruders fahren? Ich würde mich dort gern ein wenig umsehen.«

Sie blickte auf die Uhr. »Ich muss heute Abend den Schlafwagen nach London erwischen. Vorher habe ich noch viel zu tun. Könnten wir gleich gehen?«

Ich stand lächelnd auf. »Mein Wagen parkt um die Ecke.«

***

Der Atlantic hatte in der Sonne gestanden, und ich kurbelte die Fenster hinunter, ehe ich die Tür aufhielt, damit Sheila Gainsborough einsteigen konnte. Dabei ertappte ich mich, wie ich einen Blick die Straße hoch und runter warf in der verzweifelten Hoffnung, dass irgendein Bekannter – egal wer – beobachtete, wie diese wunderschöne, reiche und berühmte Frau in mein Auto stieg. Zwei Jungen gingen vorbei, ohne hinzusehen, gefolgt von einem alten Mann mit Arbeitermütze, der trotz der Hitze eine schwere, dicke blaue Jacke und ein Halstuch trug. Er blieb nur kurz stehen, um auf den Gehsteig zu spucken. Ich nahm nicht an, dass er mir damit seine Anerkennung ausdrücken wollte.

Selbst bei offenen Fenstern war es drückend heiß im Wagen, und in der Enge stieg die Luft mir zu Kopf: heißes Holz und Leder, vermischt mit dem Lavendel aus Sheilas Parfüm und dem Hauch Moschus von ihrem Körper.

Sammy Pollocks Wohnung lag am Westrand des Stadtzentrums, aber nicht ganz im Westend. Wir folgten wortlos der Sauchiehall Street zu der Stelle, wo die Hausnummern in die Tausender zu klettern begannen. Sheila forderte mich auf, nach links abzubiegen. Ein schmaler Park durchbrach das Einerlei der dreistöckigen georgianischen Reihenhäuser. Auf dem Gras spielten ein paar Kinder; ihre Mütter saßen, die Kinderwagen neben sich, träge auf den Parkbänken, ausgelaugt von Sommerhitze und Mutterschaft.

Pollocks Wohnung erstreckte sich über zwei Etagen eines dieser halbschicken, ein wenig düsteren Reihenhäuser. Früher hätten die Mauern aus Sandstein golden gefunkelt. Über der Tür war ein Bogen aus einstmals strahlend buntem Glas und Bleirahmen, das beinahe wienerisch anmutete. Doch Glasgow ist eine Stadt der unablässigen Arbeit. Schmutziger Arbeit. Die endlosen Wolken aus Rauch und Ruß hatten den Stein geschwärzt und das Glas stumpf gemacht. Das Haus sah aus wie ein Pfarrer in Gehrock und Kniebundhosen, nachdem man ihn ein paar Schichten lang in die Mine geschickt hatte.

»Hatten Sie immer einen Schlüssel?«, fragte ich Sheila, als sie aufschloss.

Sie seufzte. »Mr. Lennox, ich weiß doch, dass Sie längst gemerkt haben, wie der Hase läuft. Die Wohnung gehört mir. Ich habe sie gekauft und eingerichtet und lasse Sammy darin wohnen. Ich gebe ihm auch ein Taschengeld.«

»Wie alt ist Sammy?«

»Dreiundzwanzig.«

»Verstehe«, sagte ich. Ich stellte mir einen Dreiundzwanzigjährigen vor, der von einer Schwester alles geschenkt bekam, die selbst noch keine dreißig sein konnte. Ich dachte an die Zeit, als ich dreiundzwanzig gewesen war und mich mit einer nur vagen Hoffnung, einmal vierundzwanzig zu werden, durch Europa gekämpft hatte. Sammy Pollock war nur dreizehn Jahre jünger als ich, aber er gehörte einer ganz anderen Generation an und lebte in einer völlig anderen Welt.

Sheila las meine Gedanken. »Sie missbilligen Sammys Lebensweise?«

»Ich beneide ihn um seine Lebensweise. Ich wünschte, ich hätte in dem Alter auch so was gehabt. Sie sind eine sehr großzügige Schwester.«

»Sie müssen etwas wissen.« Sie ließ die Hand auf dem Türgriff ruhen und sah mich mit ihren strahlenden blauen Augen ernst an. »Ich bin fünf Jahre älter als Sammy. Unsere Eltern sind tot, und ich ... nun ja, ich fühle mich für meinen Bruder verantwortlich. Und ich habe Glück gehabt. Bin groß rausgekommen. Das versetzt mich in die Lage, dem einzigen Menschen auf der Welt, der mir etwas bedeutet, weiterzuhelfen. Sammy ist kein übler Junge. Er ist nur manchmal leichtsinnig. Unreif. Ich fürchte, dass er sich mit schlechten Leuten eingelassen hat. Dass er in Schwierigkeiten geraten sein könnte.«

»Ich verstehe.« Ich nickte zu der Tür, die sie noch immer nicht geöffnet hatte. »Wollen wir?«

Sheila nickte und schloss auf.

»Jemand ist hier gewesen«, sagte sie als Erstes, als wir ins Wohnzimmer kamen. Sicher, es herrschte ein völliges Durcheinander. Einiges davon war typisch Junggeselle – überquellende Aschenbecher, Bierflaschen mit klebrigen Böden und Whiskygläser, die sich nicht von den teuren Nussbaumtischchen lösen lassen wollten, ein Jackett, das unordentlich über einer Sessellehne hing, ein paar schmutzige Teller und eine halb leere Kaffeetasse. So was war mir selbst nicht ganz unbekannt. Doch die Unordnung hatte noch etwas anderes an sich, ein fremdes, zweckgerichtet wirkendes Element. Als hätte jemand nach etwas gesucht, und zwar in aller Eile.

»Sammy?«, rief Sheila und durchquerte das Wohnzimmer rasch in Richtung Korridor. Ich machte zwei schnelle Schritte und hielt sie auf, indem ich sie am Arm packte. Ihre Haut fühlte sich an meinen Fingerspitzen warm und geschmeidig an.

»Lassen Sie mich schauen«, sagte ich. »Sie warten hier.« Ich hatte die andere Hand bereits um den Totschläger aus lederbezogenem Federstahl geschlossen, den ich in der Tasche trug. Als ich im Flur war, außer Sicht von Sheila, zog ich den Totschläger hervor.

»Mr. Pollock?«

Nichts.

Ich folgte dem Gang. Ein elfenbeinfarbenes Telefon stand auf einer brusthohen Wandkonsole, daneben noch ein voller Aschenbecher. Mir fiel auf, dass einige Stummel Filter hatten, die man nicht oft sah, und einen Rand aus rotem Lippenstift trugen. Einen Stummel steckte ich mir in die Jackentasche. Dann ging ich weiter und schaute in jedes Zimmer, an dem ich vorbeikam. Die Wohnung war hell und teuer möbliert, aber jedes Zimmer war auf den Kopf gestellt worden. Papiere und anderer Krempel lagen auf den Fußböden verstreut. Ich stieg die Treppe hinauf. Im Obergeschoss bot sich mir das gleiche Bild. Schließlich kam ich zu Pollocks Schlafzimmer. Der Boden war mit allem möglichen Zeug übersät. Etwas Glänzendes fiel mir ins Auge; es funkelte im Sonnenlicht. Als ich sicher war, dass wir allein in der Wohnung waren, rief ich nach unten und bat Sheila hochzukommen.

»Sie haben gesagt, Sie wären sicher, dass jemand hier gewesen ist. Die Wohnung hat also nicht so ausgesehen, als Sie zuletzt hier waren?«

Sie schüttelte den Kopf. »Sammy war nie häuslich, aber so was ... hier sieht es aus, als wäre eingebrochen worden.«

Ich machte eine Kopfbewegung zum Nachttisch. Darauf standen ein Aschenbecher aus Bleikristall und ein ziegelsteingroßes goldenes Tischfeuerzeug. »Kein Einbrecher würde so etwas stehen lassen. Das war kein Einbruch, das war eine Durchsuchung.« Ich bückte mich und hob den glitzernden Gegenstand vom Boden auf, der mir aufgefallen war. Es war eine kleine polierte Blechdose mit Stahlscharnieren, die offen auf dem Boden gelegen hatte. Ich sah, dass der Inhalt auf den Fußboden ausgekippt worden war.

»Hat Ihr Bruder eine Krankheit, von der ich wissen sollte?« Ich legte Spritze und Kanüle in die Blechdose zurück und hielt sie Sheila hin. »Ist er zuckerkrank?«

Sheila schaute in die Dose. Ihr Gesicht lief rot an. »Nein. Er hat nichts.«

»Aber das hier sagt Ihnen was?«, fragte ich.

Sie schaute mir einen Augenblick lang ins Gesicht; dann antwortete sie: »Ich habe viel mit Musikern zu tun. Geht ja nicht anders bei meiner Arbeit. Musiker und Künstler ... nun ja, sie experimentieren mit Drogen.«

»Mit Rauschgift, meinen Sie?«

»Ja. Aber ich glaube nicht ... ich hatte jedenfalls nie einen Grund zu glauben, dass Sammy bei so einem Blödsinn mitmacht.«

Einen Augenblick lang musterten wir beide schweigend die Spritzendose aus Blech in meiner Hand, als würde sie uns ihre Geheimnisse mitteilen, wenn wir sie nur lange genug anstarrten.

»Natürlich könnte Sammy die Wohnung selbst verwüstet haben«, sagte ich und steckte die Spritzendose ein. Ich hätte überzeugender klingen können. »Vielleicht ist er zurückgekommen, um etwas abzuholen. Sich eine Tasche zu packen.«

»Ich schaue in den Schränken und Schubladen nach«, sagte Sheila dumpf. »Vielleicht fällt mir auf, ob etwas fehlt. Wenn er Kleidung mitgenommen hat ...« Sie drängte sich an mir vorbei. Im Zimmer war es heiß und stickig, und als sie an mir vorbeikam, fing ich wieder einen Hauch Lavendel und Moschus auf: die Garnitur und ihre Haut. O Junge, dachte ich, diesmal hat es dich aber schlimm erwischt.

Wir hörten ein Geräusch von unten und erstarrten. Jemand öffnete die Wohnungstür. Sheila hatte sie hinter sich ins Schloss fallen lassen. Wer immer hereinkam, besaß also einen Schlüssel. Ich hielt Sheila auf, als sie zur Schlafzimmertür wollte – offensichtlich, um den Namen ihres Bruders zu rufen. Ich legte einen Finger auf die Lippen, schob mich an ihr vorbei und stieg die Stufen hinunter, so rasch und so leise ich konnte. Wieder zog ich den Totschläger aus der Tasche. Als ich das untere Ende der Treppe erreichte, öffnete ein junger Mann mit schwarzem Haar und dunklem Teint die Tür und betrat den Korridor.

»Hallo«, sagte ich mit einem freundlichen Lächeln, ohne den Totschläger sehen zu lassen. Der Dunkelhaarige blickte mich an, die Augen vor Erstaunen aufgerissen.

»Wer sind Sie? Was tun Sie hier?« Er kniff die Augen zusammen, als sein Erstaunen dem Misstrauen wich. Ich lächelte weiter und verstärkte den Griff um den Totschläger.

»Sie kennen doch diese Filme«, erwiderte ich, »wo jemand sagt: Ich stelle hier die Fragen! Tja, dieser Jemand bin ich. Fangen wir mit der Frage an, wieso Sie einen Schlüssel für eine Wohnung haben, die Ihnen nicht gehört und die Sie nicht gemietet haben, in der Sie anscheinend aber kommen und gehen, wie es Ihnen gefällt.«

»Sind Sie ein Bulle?«, fragte er.

»Sagen wir einfach, ich untersuche das Verschwinden von Sammy Pollock.«

»Aber Sie sind kein Bulle ...« Er kniff die Augen noch enger zusammen. Plötzlich wirkte er unsicher. »Schickt Largo Sie?«

»Wer ist Largo?«

Einen Moment wirkte er erleichtert. Dann kehrte die Härte in seine Augen zurück. Er zog den Kopf ein wenig zwischen die Schultern und schob eine Hand in die Seitentasche seines Jacketts.

Sheila musste sich die Treppe heruntergeschlichen haben. Ein Brett knarrte. Mein dunkelhaariger Kumpel warf einen Blick in die Richtung des Geräuschs und wirkte nicht mehr ganz so selbstsicher. Offenbar vermutete er, ich hätte Verstärkung in der Hinterhand. Mich ärgerte ein wenig, dass er glaubte, ich bräuchte Unterstützung, um mit ihm fertig zu werden.

»Wenn du kein Bulle bist, dann leck mich am Arsch.« Er drehte sich um und ging zurück in den kleinen gekachelten Vorraum. Er bewegte sich rasch, aber nicht panisch.

»O nein, du bleibst hier.« Ich packte ihn an der Schulter. »Nur ein Minütchen.«

Er war gute zehn Zentimeter kleiner als ich; deshalb verrechnete er sich bei dem heimtückischen Stoß nach hinten mit dem Ellbogen. Statt mich im Gesicht oder an der Kehle zu erwischen, traf er mich schmerzhaft gegen die Brust und schleuderte mich zurück. Immerhin hatte er dadurch Zeit, die Wohnungstür zu öffnen. Er wollte gerade abhauen, als ich ihm nachsetzte und gegen die Tür trat. Mein ganzes Gewicht lag hinter dem Tritt. Die Türkante traf ihn an der Schulter, glitt ab, erwischte ihn an der Wange und klemmte seinen Kopf zwischen Tür und Rahmen ein. Er war sofort benommen. Auf seiner Wange bildete sich eine dicke blutige Schwellung und verwandelte sich in einen Sturzbach, der ihm an Gesicht und Hals herunterlief und sein Hemd knallrot färbte.

»Oh, tut mir leid«, sagte ich. »War die Tür im Weg?«

Seine Hand tastete nach der Tasche und dem, was immer er darin hatte, aber seine Bewegungen waren schwerfällig und fahrig. Ich verpasste ihm zwei kräftige Dinger mit dem Totschläger. Der erste Treffer zerbrach etwas in seinem Handgelenk, der zweite erwischte ihn im Nacken. Er verlor das Bewusstsein und ging zu Boden wie ein Sack Kartoffeln. Dann lag er in der Tür, halb in der Wohnung, halb draußen. Ich packte ihn beim Hemdkragen und zerrte ihn ganz hinein.

Als ich mich umdrehte, stand Sheila auf halber Höhe der Treppe. Sie hatte die Augen aufgerissen und eine Hand vor den Mund geschlagen.

»War das wirklich nötig?«, fragte sie, als sie sich halbwegs berappelt hatte.

»Er hatte seine Chance«, erwiderte ich. »Außerdem hat er irgendeine Waffe in der Tasche, nach der er greifen wollte.« Ich bückte mich und zog ein Schnappmesser heraus. Ich drückte den Knopf und hielt Sheila die Klinge hin. »Sehen Sie? Das war reine Selbstverteidigung.«

»Selbstverteidigung scheint Ihnen Spaß zu machen, Mr. Lennox.«

Ich zuckte die Schultern und zog die zusammengesunkene Gestalt hoch. Der Dunkelhaarige war noch immer groggy, starrte mich aber hasserfüllt an. Das gefiel mir so wenig, dass ich ihm einen Schlag mit dem Handrücken versetzte. Gleich zweimal, auf die unverletzte Hälfte seines Gesichts. Man musste Grenzen setzen.

»Um Himmels willen, Lennox, das reicht.« Sheila trat vor und starrte mich wütend an. Sie hatte recht. Es reichte. Ich war schon übers Ziel hinausgeschossen. In der Brust spürte ich das altbekannte heiße, beengte Gefühl. In mir schlummerte immer noch der Wunsch, andere zu verletzen, wie ich es im Krieg gelernt hatte.

Sheila starrte den Kerl an. Es war nicht zu verkennen, dass sie ihn nicht mochte. Wenigstens in der Hinsicht waren wir uns einig: Ich konnte den Burschen auch nicht besonders leiden.

Ich schleifte unseren Gast in die Wohnung und zerrte ihn in einen Sessel. Sheila folgte uns und lehnte sich gegen die Wand, steckte sich eine Zigarette an und sog den Rauch gierig ein. Davon abgesehen war sie ruhig und gefasst. Beeindruckend.

Ich musterte den Mann im Sessel: Mitte zwanzig, zweireihiger blauer Nadelstreifenanzug, nicht billig, aber auch nicht teuer. Gleiches galt für Hemd und Schlips. Mir fiel auf, dass seine braunen Lederschuhe nicht die neuesten waren. Am liebsten hätte ihn dafür noch einmal geohrfeigt: Zu blauen Nadelstreifen trägt man schwarze oder burgunderrote Schuhe, aber niemals braune.

»Wie heißt du?«, fragte ich.

»Leck mich am Arsch«, sagte er undeutlich und hielt sich das verletzte Handgelenk.

»Du bist in Gesellschaft einer Dame«, entgegnete ich und krallte die Faust in den Burton-Nadelstreifen. »Pass auf, was du sagst, sonst verhätschle ich dich noch ein bisschen mehr.«

Er blickte zu Sheila und murmelte etwas, das wie eine Entschuldigung klang.

»Also, wie heißt du?«

»Costello.«

»Sehr komisch. Abbott steht draußen Schmiere, was?« Ich drehte die Faust, dass die Nähte seines Anzugs krachten.

»Nein, es stimmt. Paul Costello. So heiße ich wirklich.«

Ich ließ ihn los und richtete mich auf. »Du bist Jimmy Costellos Junge?«

»Ja.« Plötzlich wirkte er wieder selbstsicher. »Du hast von meinem Dad gehört? Dann weißt du auch, dass es ihm nicht sehr gefallen wird, wenn er hört, was du mit mir gemacht hast.« Er hielt die Hand hoch und wandte mir die blutige Wange zu.

»Warum hast du einen Schlüssel zu dieser Wohnung?«, fragte ich.

»Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten. Ich rufe jetzt meinen Alten an, und der wird dir ein für allemal Bescheid stoßen.«

Ich nickte. »Miss Gainsborough, könnten Sie im Wagen auf mich warten?« Ich hielt ihr die Autoschlüssel hin, aber sie nahm sie nicht.

»Was haben Sie vor?«, fragte sie. Ihre Stimme klang missbilligend und misstrauisch zugleich.

»Keine Sorge«, sagte Costello. »Der wird gar nichts machen. Er hatte keine Ahnung, mit wem er sich eingelassen hat, das arme Arschloch. Jetzt weiß er’s. Deshalb wird er jetzt versuchen, sich rauszureden. Aber das kann er sich von der Backe putzen.« Er sah mich höhnisch an.

»Wie Mr. Costello schon sagt, müssen wir uns ein bisschen unterhalten. Aber ich muss allein mit ihm sprechen.« Ich schüttelte die Autoschlüssel, als läutete ich eine Glocke. »Darf ich bitten?«

Mürrisch nahm Sheila die Schlüssel, verließ die Wohnung und knallte die Tür hinter sich zu. Als sie verschwunden war, blickte Costello mich hämisch an.

»Jetzt hast du die Hose voll, was? Du weißt genau, wer mein Vater ist. Du solltest lieber gucken, mit wem du’s zu tun hast, bevor du Scheiße baust.« Er verzog das Gesicht und hielt sein verletztes Gelenk mit der gesunden Hand. »Ich glaube, du hast mir das Handgelenk gebrochen.«

»Lass mal sehen.« Ich beugte mich vor. Costello beäugte mich misstrauisch. »Na komm schon, lass mal sehen.«

Er streckte die Hand vor, und ich betastete vorsichtig das Gelenk. Er schrie auf.

»So schlimm ist es nicht. Vielleicht ein paar Knochen angeknackst, mehr nicht.«

»Mehr nicht? Mann! Warte, bis mein Vater davon hört!«

»Du hast recht«, sagte ich, den Blick noch immer auf das Handgelenk gerichtet. »Man sollte genau gucken, mit wem man es zu tun hat, ehe man sich mit ihm anlegt. Nimm mich, zum Beispiel.«

Costello zuckte zusammen, als ich einen empfindlichen Punkt an seinem anschwellenden Handgelenk fand und mit dem Daumen zudrückte. Vielleicht hatte ich die paar Knochen doch mehr als nur angeknackst.

»Ich weiß genau, wer dein Vater ist.« Ich drückte fester zu. Er kreischte. »Und es ist mir scheißegal. Glaubst du wirklich, dass ich vor deinem irischen Schweinearsch von Vater Angst habe?«

Er versuchte, die Hand wegzuziehen, schaffte es aber nicht, weil ich wieder gemein zudrückte. Er schrie wie am Spieß.

»Die Sache ist nämlich die, dass ich für die Drei Könige arbeite. Kennst du die Drei Könige?«

Costello nickte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf das Handgelenk, das er nicht aus meinem Griff lösen konnte.

»Weiß du, ich arbeite hin und wieder für sie. Ich kenne deinen Vater. Wenn du das Gesamtbild betrachtest, ist er ein Nichts. Ein Niemand. Hammer Murphy könnte deinen Alten zerquetschen wie eine fette Wanze. Wenn du also mit deinen Geschichten zu Papa rennst, laufe ich zu Hammer Murphy. Haben wir uns verstanden?« Ich unterstrich meine Frage mit einem weiteren üblen Druck auf sein Handgelenk. Er zappelte. Sein Gesicht fiel in sich zusammen. Als ich den Griff lockerte, nickte er sehr nachdrücklich.

»Gut«, sagte ich. »Nachdem wir uns jetzt verstehen, sollten wir uns mal unterhalten. Also, wie kommst du an den Wohnungsschlüssel?«

»Sammy ... hat mir einen gegeben.«

»Warum?

»Wir ... sind Freunde.«

»Was meinst du mit Freunde? Gute-Kumpel-Freunde oder Hinterlader-Freunde?«

»Was soll denn der Schei ...«

Ich unterband den vulgären Ausdruck mit einem leichten Druck aufs Handgelenk.

»Ich bin doch kein warmer Bruder!«, protestierte er, als er wieder atmen konnte. »Sammy und ich sind Kumpels!«

»Du wirst es vielleicht kaum glauben«, entgegnete ich, »aber ich habe selber viele Freunde, und keiner von denen hat einen Schlüssel zu meiner Wohnung. Versuch’s noch mal, Mr. Costello ... junior.«

»Das ist die Wahrheit! Sammy lässt mich hin und wieder hier pennen! Ich arbeite auch im Club!«

»Im Club? Dem Poppy Club?«

»Poppy Club? Nie davon gehört. Ich arbeite im Riviera ... der gehört meinem Alten. Sammy singt da hin und wieder.«

»Im Riviera?« Mein Lachen kam als Schnauben heraus. »Sehr glamourös. Und wo genau an der ligurischen Küste residiert der Club deines Vaters?«

Costello sah mich an, als hätte ich Japanisch gesprochen. In Glasgow ist es besser, alle kulturellen Anspielungen möglichst schlicht zu halten. »Wo ist der Riviera Club?«

»In Partick ... am Fluss«, sagte er.

Diesmal kam mein Schnauben als ausgewachsenes Lachen heraus.

Costello wirkte beleidigt. »Der Laden hat Klasse.«

»Da bin ich mir sicher. Steht auf jedem Reiseplan der Reichen und Schönen bestimmt ganz oben. Ich möchte wetten, Prinzessin Margaret geht bei euch ein und aus.«

»Leck mich am Arsch!«

»Na, na, Junior. Jetzt werd mal nicht kiebig, sonst halten wir wieder Händchen. Apropos Händchen halten: Wieso bist du eigentlich so dicke mit Sammy Pollock? Ich hätte nie gedacht, dass ihr zusammengehört.«

»Wir haben Ideen ... Geschäftsideen. Er hat die Nase voll davon, bloß Sheila Gainsboroughs Bruder zu sein, und mir reicht es, immer nur Jimmy Costellos Sohn zu sein.«

»Bitte, hör auf. Mir kommen sonst die Tränen. Wann hast du Sammy zuletzt gesehen?«

»Vor zwei Wochen. Ich war nicht in der Stadt.«

»Wo warst du denn?«

»Was geht Sie das an?«

Ich grinste und drückte zu. Er zuckte zusammen und sah mich flehend an.

»In London ...«, quetschte er durch die Zähne. »Ich war zwei Wochen in London.«

»Also hast du nicht gewusst, dass er vermisst wird?« Ich ließ sein Handgelenk los und steckte mir eine Zigarette an.

»Die Scheiße macht Ihnen Spaß, was?« Trotz seiner Schmerzen lächelte er boshaft. »Menschen wehzutun. Das ist für Sie was ganz Tolles, stimmt’s?«

»Ach, ich würde das nicht so verallgemeinern ...« Ich machte ein beleidigtes Gesicht; dann grinste ich gewinnend. »Mir macht es keinen Spaß, Menschen wehzutun, aber mir macht es Spaß, dir wehzutun. Sagen wir einfach, es ist etwas nur zwischen uns beiden. Also.« Mein Grinsen verschwand, als ich mich vorbeugte. »Hast du gewusst, dass Sammy verschwunden ist?«

»Verschwunden? Ist er denn verschwunden? Ich weiß, dass er nicht da ist. Das heißt noch lange nicht, dass er verschwunden ist. Ich hab ein paar Mal versucht, ihn aus London anzurufen. Ich dachte, ich hätte Pech gehabt und ihn verpasst. Deshalb bin ich heute vorbeigekommen.«

»Was für Geschäfte?« Ich blies ihm Rauch ins Gesicht.

»Wie?«

»Auf was für Geschäfte wollen du und Sammy euch einlassen?«

»Ich weiß nicht ... als Agenten ... für Künstler. Wir werden ein paar von den Musikern vertreten, die in den Kneipen und Clubs arbeiten. Die besseren Musiker. Wir kennen viele von denen. Deshalb wollten wir ihnen anbieten, für sie als Agent zu arbeiten.«

»Seid ihr sicher?«

»Wieso?« Costello sah mich irritiert an.

»Ich habe mich gefragt, ob ihr vielleicht eher ins Pharmageschäft einsteigen wollt.« Ich nahm die Spritzendose aus der Tasche, öffnete sie und hielt sie Costello hin.

»Soll mir das jetzt irgendwas sagen?«

»Ich habe nur überlegt, ob du und Sammy eure Musikerfreunde vielleicht mit mehr versorgen wollt als nur mit Karrieretipps.«

»Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden.« Wenn Costello log, verstellte er sich gut. Allerdings war der hauptsächliche Ausdruck in seinem Gesicht der von Schmerz. Offenbar stritt seine Wange mittlerweile mit seinem Handgelenk um seine Aufmerksamkeit.

»Wer ist Largo?«

»Was?«

»Erst hast du geglaubt, ich wäre ein Bulle, dann hast du gedacht, mich hätte jemand namens Largo geschickt.«

»Largo? Ach so. Das hat nichts zu bedeuten. Das ist jemand, dem ich Geld schulde. Ich dachte, er hätte Sie geschickt, um zu gucken, ob ich hier auftauche.«

»Kennt Sammy diesen Largo? Schuldet er ihm auch Geld?«

»Nein ...« Costello wich meinem Blick nicht aus. Er machte nicht den Eindruck, als lüge er, aber bei einem Schleimer wie ihm konnte man nie wissen.

»Du hast meine Frage nicht beantwortet. Wer ist Largo? Ich habe noch nie von ihm gehört.«

»Niemand Besonderes.«

»Niemand Besonderes, der Leute losschickt, um seine Schulden einzutreiben.«

»Hören Sie ... Largo hat mit Sammy nichts zu tun. Die beiden kennen sich nicht mal.« Er verzog das Gesicht und drückte sich das Handgelenk mit der gesunden Hand vorsichtig an die Brust.

»Gib mir den Schlüssel«, sagte ich und steckte die Spritzendose wieder ein.

»Was?«

»Gib mir den Schlüssel. Sammy Pollock gehört diese Wohnung nicht, und du hast hier nichts zu suchen. Also her damit.«

Nachdem er mir mit seiner guten Hand den Schlüssel übergeben hatte, zog ich ihn hoch und führte ihn aus der Wohnung. Die Hitze traf uns wie ein Schlag, kaum dass wir auf die Straße kamen.

»Das hat noch ein Nachspiel.« Costello funkelte mich an, das verletzte Gelenk in der gesunden Hand. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, und er huschte in die entgegengesetzte Richtung davon.

***

Sheila Gainsborough stand am Wagen. Die Sonne fing sich im Gold ihres Haares.

»Na, konnten Sie die Wahrheit aus ihm herausprügeln?«

»Hören Sie zu, Miss Gainsborough, ich glaube, wir müssen einiges klarstellen. Der junge Mr. Costello, dessen Bekanntschaft wir gerade gemacht haben, ist alles andere als ein angenehmer Mensch. Ich kenne seinen Vater oder weiß zumindest über ihn Bescheid. Jimmy Costello ist sogar noch unangenehmer als sein Sohnemann. Er ist ein Gangster. Sie, Miss Gainsborough, sind mit einem Problem zu mir gekommen. Ihr Bruder ist verschwunden, und als Erstes finden wir heraus, dass jemand seine Wohnung auf den Kopf gestellt hat. Dann erscheint Costello junior mit einem Schlüssel zu der Wohnung, für die Sie bezahlen. Offenbar kommt und geht der Junge, wie es ihm passt. Tut mir leid, wenn Ihnen meine Methoden ein bisschen direkt vorkommen, aber nachdem ich die Bekanntschaft vom jungen Mr. Costello gemacht habe, mache ich mir um Ihren Bruder sehr viel größere Sorgen als noch vor einer Stunde.«

Sheila Gainsborough setzte wieder ihr niedliches Stirnrunzeln auf. »Hat Costello Ihnen erklärt, was er in der Wohnung zu suchen hatte und warum er einen Schlüssel hat?«

»Fangen wir damit an, dass er ihn nicht mehr hat.« Ich gab ihr den Schlüssel, und ihr Alligatorenhandtäschchen verschlang ihn. »Costello behauptet, er wäre ein Freund und zukünftiger Geschäftspartner Ihres Bruders, aber um was für Geschäfte es sich dabei handelt, hat er sehr im Unklaren gelassen. Angeblich geht es darum, Musiker zu vertreten. Versteht Ihr Bruder etwas vom Beruf eines Agenten?«

»Sammy? Nicht die Spur.«

»Ich glaube auch nicht, dass Costello einen Kursus besucht hat.« Ich ließ den Wagen an, wartete aber noch, ehe wir losfuhren. »Sagt Ihnen der Name Largo etwas?«

»Meinen Sie das Örtchen in Fife?«

»Nein, es ist keine Ortschaft, sondern eine Person. Costello dachte, mich hätte jemand namens Largo geschickt.«

Sheila starrte einen Augenblick vor sich hin und dachte nach. Ihr Geruch hing in der stillen, feuchten Enge des Wagens. »Nein«, sagte sie schließlich, »ich kenne keinen Largo. Und ich habe Sammy nie von einem Largo sprechen hören.«

»Okay«, sagte ich und lächelte. »Ich fahre Sie zurück in die Stadt. Am besten, Sie reisen wie geplant nach London. Ich höre mich hier um. Kann ich Sie irgendwie erreichen?«

Sie knipste den Alligator auf und nahm eine Visitenkarte heraus. »Das ist die Nummer meines Agenten. Er heißt Humphrey Whithorn. Wenn Sie mich erreichen müssen, kann er mich immer finden. Aber was wollen Sie unternehmen? Sie haben doch nichts, dem Sie nachgehen könnten.«

»Ich weiß, in welchen Clubs Sammy aufgetreten ist. Damit fange ich an.« Ich nahm die Karte. Der Name Sheila Gainsborough war silbergrau in dickes weißes Velinpapier geprägt. Whithorns Name stand in kleineren Buchstaben rechts unten. Wie alles andere an ihr sprach auch die Visitenkarte von Qualität und Geld. Ich versuchte mir den Namen Ishbell Pollock auf der Karte vorzustellen. Er passte nicht. »Es wäre gut, wenn Sie inzwischen bei der Bank herausfinden könnten, ob Sammy noch einmal versucht hat, Geld abzuheben.«

Sie erhob sich, nickte und reichte mir die Hand. Ich führte sie zur Tür – weit zu gehen hatten wir in meinem Brutkasten von Büro nicht gerade – und versprach ihr, mich zu melden. Als sie die Treppe hinunterstieg, schien sie mehr zu gleiten als zu gehen. Ihre behandschuhte Hand schwebte über dem Geländer, und ihre hohen Absätze berührten die Steinstufen nur ganz leicht. Sheila Gainsborough besaß eine Anmut, wie ich sie lange bei keiner Frau mehr beobachtet hatte. Einen Augenblick musste ich an eine andere Frau denken. Die Erinnerung traf mich wie ein Fausthieb in den Magen. Diese andere Frau war tot.

Als Sheila aus meinem Blickfeld verschwand, drehte ich mich um und kehrte in mein überhitztes Büro zurück. Lange saß ich an meinem Schreibtisch und versuchte, den Grund für das ungute Gefühl zu finden, das an mir nagte.

***

Ich wohnte an der Great Western Road im Obergeschoss einer typischen viktorianischen Glasgower Villa.

Aus Zufall an ein Dach über dem Kopf zu kommen, ist nichts Ungewöhnliches: Jemand kennt jemanden, der jemanden kennt, und dieser Jemand hat ein Zimmer zu vermieten. Letztendlich aber hatte ich die Wohnung einem deutschen U-Boot zu verdanken, das einen Volltreffer mittschiffs an einer Fregatte der Royal Navy Reserve landete. Die Fregatte war schneller untergegangen als die Zuneigung einer Clydebank-Hure an einen Freier, nachdem dieser gezahlt hat – und mit ihr ein junger Seeoffizier namens White.

Keine große Sache eigentlich. Nur eine von Millionen menschlichen Kerzen, die während des Krieges vorzeitig ausgepustet worden waren. Für die hübsche junge Frau und die beiden Töchter des Seeoffiziers jedoch bedeutete dieses statistisch unbedeutende Ereignis eine Tragödie, die ihre Welt in Trümmer legte. Ihre Zukunft, die so hell geleuchtet hatte, rostete mit dem Wrack der versenkten Fregatte auf dem Grund des Atlantiks.

Ich war auf die zerbrochene Familie White gestoßen, als ich nach einer Unterkunft suchte. Mrs. Fiona White hatte die Wohnung im Glasgow Herald annonciert. Da Fiona White von der Kriegswitwenrente leben musste, war sie auf eine drastische, aber praktische Lösung verfallen: Sie hatte das Obergeschoss des Hauses in eine mehr oder weniger abgeschlossene Wohnung umgewandelt und bot sie zur Miete an, bestand aber darauf, dass der Mieter ausgezeichnete Referenzen aufweisen müsse. Meine Referenzen waren so ausgezeichnet gewesen, wie ein Fälscher sie nur hinbekam, und Mrs. White hatte mich als Mieter akzeptiert. Ich begriff allerdings nicht so recht, weshalb sie mich bleiben ließ, wenn man bedenkt, dass ich im Laufe der letzten Jahre mehrmals nächtliche Polizeibesuche hatte.

Andererseits war die Wohnung nicht billig, und ich zahlte die Miete jede Woche superpünktlich. Ich hätte mir eine bessere Bleibe leisten können, aber im Laufe der Zeit war mir die kleine Familie White ans Herz gewachsen. Wer mich kennt, den wird es nicht überraschen, dass mein erster Gedanke beim Anblick der hübschen jungen Witwe die Überlegung war, ob ich sie vielleicht trösten könnte. Doch mit der Zeit hatte sich in mein Verhalten Mrs. White gegenüber ungewollt etwas Ritterliches eingeschlichen, und ich fühlte mich nun als Beschützer der traurigen kleinen Familie im Erdgeschoss.

An der Treppe hing ein Wandtelefon, das wir uns teilten. Als ich nun in meine Bleibe zurückkehrte, rief ich Lorna an. Ich hatte gehofft, dass sie sich mit einem Telefonat zufriedengab, aber sie bestand darauf, dass ich zu ihr kam, also fuhr ich nach Pollokshields.

Als ich am Haus ankam, war ich überrascht, Bobby vor der Tür zu entdecken, meinen Kumpel aus den Highlands, der dort Wache stand, »wegen dem Seelenfrieden vonne Ladies«, wie er mir in seinem Singsang versicherte.

Ich saß zwischen Lorna und Maggie in einer derart aufgeladenen Atmosphäre, dass ich befürchtete, mich könnte jede Sekunde der Blitz treffen. Ich tröstete. Ich beschwichtigte. Ich sprach so beiläufig ich konnte und vermied alles, was uns an den brutalen Mord erinnerte, der nur vierundzwanzig Stunden zurücklag. Maggie setzte Tee auf und bot mir eine Zigarette aus einer Dose auf dem Couchtisch an, die hundert Kippen fasste. Ich sah, dass es Four-Square-Glimmstängel waren, hergestellt von Dobie in Paisley.

»Gestern Abend haben Sie eine andere Marke geraucht«, sagte ich. »Die mit den schicken Korkfiltern.«

»Ach die.« Sie zuckte mit den Schultern. »Jimmy hat sie mir gegeben. Meine übliche Marke ist das nicht.«

Ich griff in die Jacketttasche und holte den Stummel hervor, den ich aus dem Aschenbecher in Sammy Pollocks Flur genommen hatte. Ich hielt ihn Maggie hin, sodass sie die beiden goldenen Ringe um den Filter sehen konnte. Sie runzelte die Stirn.

»Ja, genau die. Wo haben Sie die her?«

»Aus einem Vermisstenfall, an dem ich arbeite.«

»Ist die vermisste Person französischer Herkunft?«

»Nicht dass ich wüsste. Warum fragen Sie?«

»Montpellier, so heißt die Marke. Französisch. Jimmy hat von irgendjemandem ein halbes Dutzend Schachteln bekommen. Wahrscheinlich Schmuggelware. Vielleicht sind Sie deshalb auf noch jemanden gestoßen, der sie raucht. Vielleicht hat jemand einen ganzen Lastwagen damit eingeschmuggelt.«

»Wäre möglich.« Ich wandte mich Lorna zu. »Gibt es schon Neues von der Polizei? Hast du von irgendwelchen Fortschritten gehört?«

»Superintendent McNab war wieder hier«, sagte sie. Ihre Lider wirkten schwer, und lastende Trauer machte ihr Gesicht stumpf. »Er hat wieder Fragen gestellt.«

»Was für Fragen denn?«

»Wen Dad in den letzten Wochen getroffen hat. Ob etwas Ungewöhnliches passiert ist.«

Ich nickte. Willie Sneddon tat gut daran, über sein Treffen und seine Geschäfte mit Small Change Stillschweigen zu wahren. »Und ist in letzter Zeit irgendetwas Ungewöhnliches passiert?«

»Nein.« Maggie war es, die antwortete. »Aber Jimmy ließ sich nie in die Karten schauen. Alles, was mit dem Geschäft zu tun hatte, behielt er für sich.« Sie schwieg kurz. »Da war nur eine Sache, kaum der Rede wert ...«

»Erzählen Sie’s trotzdem.«

»Jemand hat eine Kiste für ihn gebracht. Eine Spedition.«

»Ja, ich erinnere mich«, sagte Lorna stirnrunzelnd. »Eine merkwürdige Sache. Eine Holzkiste mit nichts drin außer ein paar Stöcken und einem Knäuel Wolle.«

»Wolle?«

»Ja«, sagte Lorna. »Rote und weiße Wolle, zu einem Knäuel gewickelt.«

»Also, das hört sich jetzt nicht besonders bedeutsam an«, sagte ich. »Hat die Polizei die Sachen deines Vaters noch einmal durchsucht? In seinem Büro, meine ich.«

»Nein. Wieso?«

»War nur ’ne Frage.« Ich zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck Tee. »Hat dein Dad hier zu Hause ein Terminbuch aufbewahrt?«

»Wieso fragen Sie?« Der Einwurf kam von Maggie. In ihrer Stimme schwang mehr als nur ein wenig Misstrauen mit. Misstrauen hat eine ganz besondere Eigenschaft: Es kann ansteckend sein. Ich stellte fest, dass ich mich fragte, wieso sie glaubte, sie müsse so vorsichtig sein.

»Wie ich schon sagte, ist die Polizei kein besonders fantasievoller Verein. Vielleicht haben die Jungs nicht daran gedacht, bei ihm zu Hause nach einem Terminkalender zu suchen.«

»Jimmy brauchte so was nicht«, sagte Maggie. »Er behielt alles im Oberstübchen.« Sie pochte sich an die Schläfenwelle. »Er hat keinen Terminkalender benutzt.«

»Das hatte ich mir auch überlegt. Na, ist egal.«

»Glaubst du, es würde helfen?«, fragte Lorna ohne den Hauch des Misstrauens, das ich ihrer Stiefmutter anmerkte.

»Möglich. Zumindest wüssten wir, mit wem er sich am Tag seines Todes getroffen hat.« Ich beschloss, das Thema fallen zu lassen. Vielleicht genügte Maggies Antwort, um mir Sneddon vom Hals zu schaffen.

Ich blieb über eine Stunde – wenigstens kam es mir so lange vor –, bis ich das Gefühl hatte, meine Pflicht als Tröster der beraubten Tochter erfüllt zu haben. Lorna brachte mich zur Tür und küsste mich zum Abschied. Ihre Umarmung drückte Verzweiflung aus, ihre Finger quetschten fest meine Arme. Ich wurde ein bisschen traurig, weil sie wirklich etwas von mir brauchte und ich es ihr wirklich geben wollte. Aber ich konnte nicht, weil ich es nicht in mir hatte.

Lorna und ich waren zusammengekommen, weil wir Spaß haben wollten, nichts weiter. Und so hätte es bleiben sollen, bis wir auseinandergingen. Aber jetzt, wo ihr Vater ermordet worden war und sie plötzlich allein dastand, suchte sie nach etwas, für das keiner von uns beiden unterschrieben hatte.

Sie schien zu spüren, dass ich nicht hatte, was sie von mir wollte, und zog sich von mir zurück. Kälte hatte sich in ihren Augen gebildet, ein Frost des Begreifens und des Zorns.

»Hör zu, Lorna, ich ...«, begann ich.

»Spar es dir, Lennox«, unterbrach sie mich.

Als ich aus der Ausfahrt kam, musste ein Wagen bremsen, der einbiegen wollte. Ich winkte zum Dank, aber der andere Fahrer ignorierte mich und beschleunigte die Auffahrt hoch, kaum dass er an mir vorbei war. Er sah nicht einmal in meine Richtung, aber ich schaute ihn mir genau an. Der Wagen war ein ziemlich teurer Schlitten, ein fast neuer, dunkelroter Lanchester Leda oder Daimler Conquest, so gründlich poliert, dass er glänzte wie ein Tropfen frisches Blut. Auch der Fahrer sah ziemlich gelackt aus: Er fuhr ohne Hut, und ich konnte sehen, dass er um die dreißig war, schwarzes Haar hatte und einen bleistiftdünnen Schnurrbart trug. Sauber. Maßanzug, wenn ich es richtig sah.

Ich fuhr an den Bordstein und überlegte, ob ich zum Haus zurückgehen sollte, um zu sehen, was der Bursche vorhatte. Ein Polizist war er nicht. Dazu war er zu gut gekleidet und hatte einen zu teuren fahrbaren Untersatz. Ich stieg aus dem Auto, ging ein kurzes Stück die Auffahrt entlang und duckte mich hinter einen Strauch, damit ich unauffällig einen Blick auf den Kerl werfen konnte. Er stand an der Haustür, und ich konnte nun sehen, dass ich richtig vermutet hatte, was seinen Anzug betraf. Der Anzug war teuer. Der Mann war groß, vielleicht fünf Zentimeter größer als ich, und das kam in Glasgow selten vor. Maggie öffnete die Tür und ließ ihn herein. Sie kannte ihn, so viel war sofort klar. Beide warfen unbewusst einen Blick die Auffahrt entlang, als wollten sie sich vergewissern, dass niemand sie beobachtete. Oder vielleicht hatte der Bursche unsere kurze Begegnung am Ende der Auffahrt erwähnt. Hinter dem Spindelstrauch, den ich als Deckung benutzte, entdeckten sie mich nicht und verschwanden ins Haus. Die Art ihrer Begrüßung lag irgendwo zwischen Vertrautheit und Geschäftsmäßigkeit. Vielleicht hatten sie wirklich geschäftlich miteinander zu tun.

Natürlich war ihrer Heimlichkeit eine Grenze gesetzt: Lorna war noch immer im Haus. Es sei denn ...

Mir kam ein unguter Gedanke, was mein jüngst ihres Vaters beraubtes Schätzchen betraf, doch ich verwarf ihn fast augenblicklich. Keine Verschwörung hier, Lennox. Und selbst wenn es eine gibt, kümmere dich nicht darum. Du bist gewarnt worden. Und moralisch mag es ja geboten sein, alles zu tun, damit Small Changes Mörder der Gerechtigkeit zugeführt wird, aber du hast Fälle zu bearbeiten, für die du bezahlt wirst. Außerdem waren moralische Gebote noch nie mein Ding gewesen.