12.

So überraschend es sich anhören mag, ich war ein belesener Mensch. Ich las wirklich eine Menge. Ich las fast alles, egal von wem, über jedes Thema. Eine Grenze zog ich nur bei Hemingway, wie ich schon zu Devereaux gesagt hatte.

Glasgow gehörte zu jenen Städten, die gern mit ihrem Wissen protzten. Die Universität war eine Sammlung großzügiger, beeindruckender viktorianischer Bauten, aber die schrillste Erklärung, wie gelehrsam Glasgow sei, hatte sogar eine Kupferkuppel: Die Mitchell Library stand imponierend mitten in der Stadt und war ganz korinthische Säulen. Im ursprünglichen Entwurf war keine Kuppel im Stil der St. Paul’s Cathedral vorgesehen, aber der Stadtrat hatte darauf bestanden. Jetzt verkündete die Mitchell Library dem übrigen Schottland und der Welt: Schaut nur, auch wir haben Bücher!

Ich wartete im Lesesaal der Bibliothek. Ein kleiner Mann mit frühzeitig ergrautem Haar trat zu mir.

»Hallo, Lennox«, sagte er, ergriff mit beiden Händen meine Rechte und schüttelte meinen Arm wie einen Pumpenschwengel. Ian McClelland war ein überschwänglicher Mensch. Seine freundliche Ausgelassenheit heiterte mich jedes Mal auf, wenn ich ihn traf. Trotz seines makellos keltischen Namens war McClelland ein Engländer, wie er im Buche stand. Er kam aus Wiltshire und hatte den üblichen Weg eines Sprösslings der oberen Mittelschicht durch beste Privatschulen nach Cambridge genommen. Vermutlich war er mein einziger Bekannter, den ich fragen konnte, wie man ein Fischmesser hielt.

McClelland war Dozent für Politologie und Fernostexperte. Ich hatte bei einem Universitätsfest seine Bekanntschaft gemacht. Ich pflegte damals mit einer jungen Französischdozentin Verben zu konjugieren. Die Romanze hielt nicht an, die Freundschaft mit McClelland schon. Er kleidete sich wie ein Akademiker, sah aber aus irgendeinem Grund nicht so aus. Bei mehr als einer Gelegenheit war mir der Verdacht gekommen, dass McClelland, der viel Zeit im Fernen Osten verbracht hatte, das eine oder andere Mal mit der Welt der Geheimdienste in Berührung gekommen war.

»Wie geht es Ihnen, Ian?«, fragte ich in Bibliothekslautstärke. »In letzter Zeit irgendwelche Studentinnen verführt?«

»Nur geistig, alter Junge. Nur geistig. Sie sagten am Telefon, es gehe um eine Jadefigur?«

Er hatte die Aufmerksamkeit von zwei typischen Akademikern erregt, die sich an einem der Tische über ihre Arbeit beugten. McClelland führte mich an einen anderen Tisch, wo er mehrere Nachschlagewerke bereitgelegt hatte.

»Ja«, sagte ich, als wir saßen. »Hässlich wie die Sünde. Jede Menge Reißzähne und große Glupschaugen. Ich glaube, es war ein Drache. Er schien Paarhufe zu haben, wie eine Ziege. Vielleicht war es ein Dämon. Hier ...« Ich legte ihm die Skizze vor, die ich gemacht hatte.

»Der Drache ist eine wichtige volkstümliche Gestalt in China.« McClelland musterte die Zeichnung und runzelte die Stirn. »Was Sie hier gezeichnet haben, ist kein Drache, sondern ein Qilin. Die Hufe verraten es. Giraffenhufe. Sie sagen, es war aus Jade?«

»Es sei denn, die Chinesen machen Götterfiguren aus grünem Bakelit.«

»Ich kann verstehen, dass Sie es für einen Drachen gehalten haben. Jadedrachen gibt es zuhauf. Wie groß war es?«

»Zwei Fuß ungefähr.«

»Dann könnte es eine beträchtliche Summe wert sein.«

»Wie viel?«

»Das lässt sich unmöglich sagen, ohne es gesehen zu haben. Es hängt sehr von der Qualität der Jade ab – und da gibt es enorme Unterschiede. Und natürlich wird so etwas gern gefälscht. Wenn es wirklich solide Jade ist, dann tausend. Vielleicht zweitausend. War es ein tiefes Smaragdgrün?«

»Das Licht war schlecht. Ich habe eher einen Umriss erkannt als sonst was, aber grün war es.« Ich strengte meinen Kopf an, um mir vor Augen zu rufen, was ich gesehen hatte, aber mein Verstand machte noch Teepause. »Nein, wahrscheinlich kein Smaragdgrün. Blasser. Milchiger. Wieso?«

»Kaiserjade ist herrlich durchscheinend und weist eine intensive smaragdgrüne Farbe auf. Sie ist selten und außerordentlich kostbar. Doch was Sie beschrieben haben, könnte alles Mögliche sein. Es muss sich nicht einmal um Jade handeln.« Er bemerkte mein Stirnrunzeln. »Sie hatten etwas anderes erwartet?«

»Fünfzehnhundert Mäuse reichen nicht aus für den Kummer, den diese Statue verursacht.«

Er zuckte mit den Schultern. »Ist sie gestohlen?«

»Sagen wir, ich versuche sie dem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben in der Hoffnung, dass ich damit jemanden vom Haken bekommen – einem reichlich großen und verdammt spitzen Haken.«

McClelland fragte mich, ob er die Zeichnung für ein paar Tage behalten könne. Ich erklärte mich einverstanden. Als ich aus dem kühlen Stein der Bibliothek hinaustrat, traf mich die Schwüle wie ein Schlag. Ich suchte mir eine Telefonzelle und rief im Krankenhaus an, aber die diensteifrige Schwester sagte, sie dürfe mir keine Auskunft erteilen, weil ich kein Verwandter Daveys sei.

Den Nachmittag verbrachte ich damit, meine Kopfschmerzen zu pflegen. Immer wieder überlegte ich mir, ob ich zum Arzt gehen sollte. Doch zwei Stunden Ruhe schienen zu helfen, und ich beschloss, es bleiben zu lassen. Ich rief das Polizeipräsidium an und ließ mich zu Dex Devereaux durchstellen.

»Hallo, Johnny Canuck, was macht die Kunst?« Am Telefon trat Devereaux’ amerikanischer Akzent noch stärker hervor.

»Alles bestens. Ich wollte Sie etwas fragen. Wie groß ist eine Ladung, wie Largo sie in die Staaten schickt? Ich meine, Umfang oder Gewicht.«

»Ungefährt vierzig Pfund pro Ladung.«

»Das ist nicht viel.«

»Vom Wert her schon. Heroin kostet um einen Dollar pro Gramm. Damit sind wir bei fünfhundert Dollar pro Pfund. Jede Vierzig-Pfund-Ladung, die Largo verschickt, ist also zwanzigtausend Dollar wert. Ich weiß nicht, wie viel das in eurem Geld ist. Ich habe einen Kurs von einem Pfund Sterling für zwei Dollar achtzig bekommen, also rechnen Sie es sich selber aus. Das Zeug ist das Zwei- bis Dreifache seines Gewichts in Gold wert.«

»Und es lässt sich leicht zwischen anderem Kram verstecken und im Ladeverzeichnis eines Schiffes unterschlagen«, sagte ich und stellte mir eine kleine Reihe hässlicher Jadedämonen vor.

»Wie ich schon sagte. Ist ähnlich wie bei der Atombombe. Ein kleines Ding, aber große Wirkung, wo es einschlägt. Was haben Sie rausgefunden, Lennox?«

»Vielleicht nichts. Nur eine Ahnung ... mehr habe ich im Augenblick nicht. Aber ich glaube, dass ein Teil von Largos letzter Ladung von ein paar Jungs hier gestohlen wurde. Amateure, die jetzt Angst vor der eigenen Courage haben. Was bedeutet, dass ich Ihnen Largo und einen Teil des Stoffes möglicherweise liefern kann.«

»Lennox, wenn Sie sich sicher sind ...«

»Bin ich nicht, Dex. Ich bin mir nirgendwo sicher. Wie gesagt, ich habe eine Ahnung, und Sie würden Ihre Zeit verschwenden, wenn Sie ihr nachhetzen. Wenn es sich als lohnend erweist, gebe ich Ihnen alles, und Sie können die hiesige Polizei am Händchen zur Festnahme führen. Aber ehe ich Ihnen das Bild zeige, muss ich jemanden wegretuschieren. Danke für die Auskunft, Dex. Wir bleiben in Verbindung.«

Ich legte auf, ehe Devereaux mich weiter bedrängen konnte. Ich wollte in meinem Kopf einige Dinge zusammensetzen, und dazu musste ich mich konzentrieren. Außerdem brauchte ich Zeit, um das eine oder andere weiterzuverfolgen.

***

Es gab da etwas, das mit allem im Widerstreit stand: Small Change MacFarlanes Ermordung. Sie nagte an mir, und ich kam nicht darauf, woran es lag. Ich hatte Maggie MacFarlane fast unverbrämt vorgeworfen, sich mit Jack Collins in den Laken verheddert zu haben, aber ich besaß keinen Grund zu der Annahme, dass mehr dahintersteckte. Irgendwie konnte ich mir Jack Collins nicht als über beide Ohren verknallten Trottel vorstellen, und Maggie war zwar ein durchaus zufrieden stellendes Kunstwerk, aber keine Barbara Stanwyck. Ich hatte Lorna so unauffällig wie möglich nach Versicherungen und einem Testament gefragt. Sowohl Maggie als auch Collins wurden bedacht, aber der Löwenanteil ging an Lorna. Nach schottischem Recht konnte Maggie als Witwe das Testament MacFarlanes anfechten, doch Lorna zufolge, für die ihre Stiefmutter keineswegs vollkommen unverdächtig war, hatte Maggie noch mit keinem Wort angedeutet, dass sie so etwas plante.

Trotzdem bereitete es mir Kopfzerbrechen.

***

Ich werde bezahlt, um meine Nase irgendwo hineinzustecken. Meistens werde ich sogar dafür bezahlt, meine Nase dort hineinzustecken, wo Nasen unerwünscht sind. Meine ärgerlichste Gewohnheit ist es allerdings, meine Nase irgendwo hineinzustecken, wo sie nicht erwünscht ist, ohne dass ich dafür bezahlt werde. Als ich in das Lager auf Vinegarhill ging, fühlte meine Nase sich so unwillkommen an wie noch nirgendwo. Ich machte mir ernste Sorgen, dass man sie mir bald abdrehen würde.

Ich hatte in einem Akt des Glaubens den Atlantic auf der Molendinar Street geparkt und versuchte, nicht daran zu denken, welche Chancen Polen-Tony mir darauf geben würde, dass das Auto noch in einem Stück wäre, wenn ich zurückkam – oder überhaupt noch da. Das Landfahrerlager stand neben der Essigfabrik auf einem kahlen, von schmierigen Mauern umschlossenen Platz, den man durch ein schmiedeeisernes, offen stehendes Flügeltor betrat. Ich sah mehrere moderne, von Autos gezogene Wohnwagen, doch bei den meisten handelte es sich um traditionelle Vardo- oder Burton-Wagen: bemalte Pferdewagen mit gewölbtem Dach, die zum romantischen Bild des Zigeuners passten. Zwischen den Wagen wölbten sich die rauen Buckel runder Zelte.

Als ich eintraf, gab es keinen verlockenden Duft nach schmorendem Gulasch oder leidenschaftliches Geigenspiel als Begleitung. Diese Zigeuner stammten nur dann aus Ungarn oder den Karpaten, wenn Ungarn und die Karpaten auf die Galway Bay blickten. Und das Romantischste, was ich sah, waren zwei nicht angeleinte Promenadenmischungen, die an der Fabrikmauer kopulierten. Eine Handvoll Kinder ohne Schuhe stürmte johlend durch das Lager, und ich war mir der beiden jungen Männer bewusst, die in dem Augenblick hinter mich getreten waren, als ich den Hof betreten hatte.

Normalerweise wäre das der Moment gewesen, in dem ich nach meinem Schlagstock griff, aber an einem Ort wie diesem mit Leuten wie diesen konnte man so etwas nur als unratsam bezeichnen. Schmerzhaft unratsam. Ich musste mich hier herausreden wie der Kavalleriehauptmann, der mit der weißen Flagge ins Indianerdorf geschickt wird. Ich ging zu einem älteren Mann, der pfeiferauchend an einem Wagen lehnte. Dabei kam ich an einem Vardo-Wagen vorbei, dessen Fensterläden geschlossen waren. Um die Deichsel hatte man tiefrote Bänder gewunden.

»Ich müsste Tommy Furies Vater sprechen«, sagte ich, als ich den alten Mann erreichte. »Könnten Sie mir sagen, wo ich ihn finde?«

»Den Baro? Was wollen Sie von ihm? Wer zum Teufel sind Sie überhaupt?« Der Alte richtete sich auf und nahm die Pfeife aus dem Mund. Er spuckte aus, und sein grünlich-zäher Speichel landete dicht neben meinem Schuh. Jimmy Stewart oder Randolph Scott wurden nie so behandelt.

»Wie schon gesagt, ich möchte ihn sprechen. Und ich bin mir sicher, dass er sehr gern auch mit mir sprechen möchte. Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?« Ich war mir bewusst, dass die beiden jungen Männer direkt hinter mir standen, einer an jeder Schulter. Der Alte zeigte mit einer Kopfbewegung auf einen der modernen Wohnwagen, den größten, der zu sehen war. Ich nickte und ging hinüber. Meine Ehrengarde blieb hinter mir zurück.

Sean Furie war massiger Mann Mitte fünfzig. Er war groß und in jüngeren Jahren wahrscheinlich muskelbepackt gewesen, dann aber fett geworden. Sein pechschwarzes Haar zeigte keine Spur von Grau; es war mit Pomade eingeschmiert und aus dem breiten Gesicht zurückgekämmt. Wegen seiner Nasenoperation hatte er sich offenbar an den gleichen plastischen Chirurgen gewandt wie Bert Soutar. Der Unterschied bei Furie bestand darin, dass seine Nasenspitze geschwollen und rot und von einem Flusssystem aus purpurnen Äderchen überzogen war. Ich beschloss, es »Zigeunerakne« zu nennen – die Auswirkungen nackter Fäuste und nackten Alkohols.

Ich sagte ihm, wer ich war und worüber ich mit ihm sprechen wollte. Ich wappnete mich gegen seine Reaktion, aber er überraschte mich: Furie war bemerkenswert höflich und bat mich in seinen Wohnwagen, in dem ein eigentümlicher Geruch herrschte. Es roch weder nach Schmutz, noch war es unangenehm, aber es war eigentümlich. Im Vergleich mit den Vardos wirkte der Wohnwagen riesig. Er war innen mit Holz vertäfelt und hatte eine kleine Küche, ein Wohnzimmer und einen Raum, den eine geschlossene Tür abtrennte. Ich nahm an, dass dort geschlafen wurde.

Am entfernten Ende des eingebauten Sofas saß eine große, dunkelhaarige, trübsinnig wirkende Frau Mitte vierzig. Wir nahmen Platz, und wort- und blicklos stand sie auf und verließ den Wagen. Sie quetschte sich an mir vorbei, um zur Tür zu kommen. Sie schien so etwas gewohnt zu sein; wenn Furie Geschäfte machte, hatte das Weibervolk zu verschwinden, wie es schien. Er bot mir einen Whisky an, und ich nahm ihn.

»Ich habe an einem der Wagen Bänder gesehen, als ich herkam. Rote Bänder.« Ich hatte beschlossen, erst ein wenig zu plaudern. Oft kam man so entspannter zum eigentlichen Geschäft. »Hat das mit einer Feier zu tun?«

»Könnte man so sagen.« Furie lachte bitter auf. »Wir haben bald das Gleiche am Wagen hängen, wenn mein Junge aufgeknüpft wird.«

»Oh ... ich verstehe.«

»Die Bänder bedeuten Tod«, erklärte Furie. »Tod und Trauer. Rot und Weiß sind die Roma-Farben für Trauer.«

»Wer ist gestorben?«

»Das weiß ich nicht. Es geht um eine Nachin-Familie, die ich nicht kenne.«

»Nachin?«

»Schottische Zigeuner. Wir sind Minceir, aus Irland. Die aus England heißen Romanichals, und die aus Wales nennt man Kale. Aber hier sind alle Minceir oder Nachin.«

»Ich verstehe«, sagte ich. Ich zündete mir eine Zigarette an und hielt ihm das Etui hin, und er nahm sich eine, steckte sie sich aber hinters Ohr.

»Die werden meinen Jungen hängen für etwas, was er nie getan hat, Mr. Lennox«, sagte Furie in seinem weichen irischen Englisch. »Alles Theater, weiter nichts. Dann sehen Sie die roten Bänder auch an diesem Wagen.«

»Tommy war noch nicht mal vor Gericht, Mr. Furie, und schon gar nicht wurde er schuldig befunden und verurteilt. Wenn er es nicht getan hat, dann wird es schwierig sein, ihm das Gegenteil zu beweisen«, log ich.

»Na, getan hat er es nicht. Aber das erwarten Sie natürlich von mir zu hören, oder? Sie glauben, ich würde es abstreiten, selbst wenn ich genau wüsste, dass er es war. Schließlich sind wir alle Diebe und lügen wie gedruckt, nicht wahr?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Aber gedacht.«

»Nein. Ich weiß überhaupt nichts mit Sicherheit. Aber an MacFarlanes Ermordung stört mich etwas. Vielleicht wird die Tat Ihrem Sohn nur angehängt. Aber wenn, von wem?«

»Er gehört zum fahrenden Volk. Das ist Grund genug.«

»Bei allem Respekt, das stimmt nicht. Es steckt mehr dahinter, als dass Ihr Sohn der falsche Mann zur falschen Zeit am falschen Ort war. Was soll nach Aussage der Polizei passiert sein?«

Furie legte los. Sein Sohn hatte zu den Boxern gehört, die von Small Change MacFarlane aufgebaut wurden. Zwischen den Zeilen wurde klar, dass Small Change Kämpfe mit bloßer Faust veranstaltet und Wetten darauf angenommen hatte. Mir kam der Gedanke, dass dies ein weiterer Grund sein konnte, weshalb Sneddon wollte, dass ich den geheimnisvollen Terminkalender des verstorbenen Buchmachers suchte. Ich fragte mich, wer die regelmäßigen Kämpfe auf dem Bauernhof in Dunbartonshire veranstaltet hatte, der von Sneddon erst vor Kurzem gekauft worden war. Sean Furie erklärte, sein Sohn habe damit begonnen, dass er in einigen Sporthallen als Sparringspartner arbeitete, und Small Change habe ihm eine Reihe von regeltreuen Kämpfen im Ring verschafft. Small Change war berüchtigt für seine Anhänglichkeit zum Kleingeld, und es hatte Streit über die Bezahlung für einen Fight gegeben. Tommy Furie hatte sich bei Small Change beschwert, und zwar mehrmals und vor Zeugen.

»An dem Abend, als MacFarlane ermordet wurde, war er in der Sporthalle«, sagte Sean Furie. »Er war ganz regulär dran an dem Tag. Dort bekam er einen Anruf, dass er sich das Geld für den Kampf bei MacFarlane zu Hause abholen solle.«

»MacFarlane hat ihn angerufen?«

»Nein. Jemand, der für MacFarlane arbeitete. Hat er wenigstens behauptet. Einen Namen hat er Tommy nicht genannt. Oder er kann sich nicht erinnern. Tommy ist ein guter Junge, aber nicht besonders helle.«

»Verstehe«, sagte ich und versuchte, mein Erstaunen über diese Enthüllung zu verbergen.

»Tommy ging zu dem Haus. Er war da noch nie gewesen, aber er hatte die Adresse trotzdem. Also fuhr er hin. Nahm hin und zurück die Straßenbahn. Er sagte, niemand hätte ihm aufgemacht, als er klopfte, aber die Haustür stand offen. Er ging rein und fand MacFarlane auf dem Fußboden. Tot. Tommy ist nicht so abgebrüht, wie Sie vielleicht denken, und hat Panik bekommen. Auf dem Weg hinaus warf er eine Lampe um, hob sie auf und stellte sie wieder hin.«

»Und die Polizei hat seine Fingerabdrücke auf der Lampe gefunden?«

»Genau.«

»Was hat die Polizei sonst noch gegen ihn in der Hand?«

»Die Straßenbahnschaffnerin auf der Rückfahrt hat sich an ihn erinnert, weil er so aufgeregt war. Und sie haben seine Fingerabdrücke im Haus gefunden. In dem Zimmer, wo MacFarlane ermordet wurde.«

»Das ist alles?«

»Das reicht«, erwiderte Furie, »um einen Pikey an den Galgen zu bringen.«

»Nein, das reicht nicht. Was rät denn der Anwalt?«

»Tommy soll sich schuldig bekennen, damit er nicht gehängt wird.«

»Genial«, erwiderte ich kopfschüttelnd. »Ich würde zu einem anderen Anwalt raten.«

***

Bei dem, was ich plante – und das damit enden konnte, dass ich auf der falschen Seite dicker Gitterstäbe landete –, bedeutete Vorbereitung das A und O.

Ich besaß eine kleine schwarze Reisetasche, die ich ins Wohnzimmer brachte und auf den Tisch stellte. Ich nahm ein Doppelblatt aus dem Glasgow Herald und breitete es neben der Tasche aus. Dann legte ich eine Drahtschere, ein Paar schwarze Lederhandschuhe und einen schwarzen Rollkragenpullover in die Tasche. Nacheinander nahm ich zwei alte Flaschenkorken, zündete sie mit einem Streichholz an und ließ sie ein Weilchen schwelen. Dann blies ich sie aus und stellte sie zum Abkühlen auf das Zeitungspapier. Währenddessen packte ich den Rest meines Werkzeugsatzes ein: ein Paar schwarze Turnschuhe, eine Fahrradlampe, einen kurzen Reifenheber in Form eines Brecheisens und meine beiden Totschläger.

Als die angekokelten Korken abgekühlt waren, wickelte ich sie säuberlich in die Zeitung ein und legte sie ebenfalls in die Reisetasche. Einen Augenblick dachte ich über meine höchst professionelle Auswahl an Rüstzeug nach. Wenn mich ein Polizist anhielt und in die Tasche schaute, fand er dort genug, dass ich für versuchten Einbruch drei Monate lang in den Bau wanderte.

Ich hatte mit Bedacht einen dunklen Anzug ausgewählt, der für diese Jahreszeit wahrscheinlich zu dick war, aber er eignete sich sehr gut für das, was ich plante.

Ich hatte viel Zeit totzuschlagen, ehe ich meinen Plan in die Tat umsetzen konnte, aber ich musste mein Zeug jetzt ins Auto laden, sonst hätte Fiona White bemerkt, wie ich am späten Abend noch das Haus verließ.

Ich stellte die Tasche in den Kofferraum des Atlantics und fuhr zu MacFarlanes Haus in Pollockshields. Dort holte ich Lorna gegen sieben Uhr abends ab. Ich brachte sie ins Odeon auf der Sauchiehall Street, und wir sahen uns Gregory Peck in Sein größter Bluff an. Ein Kinobesuch mochte unschicklich erscheinen, aber ich versuchte sie von ihren Sorgen abzulenken, wenigstens für zwei Stunden.

Lorna sprach vor, während und nach dem Film nicht viel und bedankte sich höflich bei mir, ohne mich hineinzubitten, als ich sie zu Hause absetzte. Als ich wieder losfuhr, bemerkte ich, dass Jock Collins’ Lanchester in der Einfahrt parkte.

***

Willie Sneddon war ein Mann mit Gewohnheiten. Festgefahrenen Gewohnheiten. Manchmal eigentümlichen Gewohnheiten.

Ich hatte mich in den Victoria Baths mit ihm verabredet, wo er regelmäßig ein Dampfbad nahm und schwamm. Die Victoria Baths waren ein Tempel aus Sandstein, Marmor und Porzellan am Westrand der Stadt. Unter der Kuppel gab es ein Schwimmbecken, türkische Bäder, Schwitzstuben, Massagetische und einen Gesellschaftsraum. Die Victoria Baths waren ein Privatklub, aber Mitglieder konnten Gäste eintragen lassen. Viele eingetragene Gäste waren Stadträte und städtische Beamte, hohe Polizisten und hin und wieder ein Parlamentsabgeordneter. Die meisten verließen die Baths mit ausgebeulten Hosentaschen. Angeblich wurden hier mehr Baugenehmigungen, Schank- und Nachtclublizenzen erteilt als im Rathaus.

Ich wartete im Foyer auf Sneddon. Ich schwamm niemals in den Baths, und in öffentlichen Schwimmbädern schon gar nicht, seit ich entdeckt hatte, dass in Glasgow Schwimmbecken und Urinal Synonyme waren. Wenigstens hatte ich beim Warten Gesellschaft: Twinkletoes McBride war bereits da und schüchterte Personal, Gäste und Mitglieder gleichermaßen ein. Sein Bangemachen erfolgte völlig unbeabsichtigt und passiv; er brauchte nur ruhig dazusitzen.

»Wie geht es Ihnen, Mr. Lennox?«, fragte er fröhlich, als er aufblickte und mich sah. Dann – mit einem beunruhigend raschen Wechsel zu einer ernsten Miene – erkundigte er sich: »Irgendwas Neues wegen dem kleinen Davey?«

»Man will mir nichts sagen, weil ich kein Verwandter bin, aber ich habe ihn heute besucht. Er hält sich wacker.«

»Wenn Sie herausfinden, wer das dem kleinen Davey angetan hat, dann knöpf ich mir die Scheißer vor, Mr. Lennox. Mitsamt ihren großen Zehen. Und keine Sorge, ich mach’s graziös.«

»Wie bitte?«

»Graziös.« Twinkle runzelte die Stirn. »Umsonst.«

»Ach so. Sie meinen gratis.«

»Ja. Genau. Gratis. Das haben sie rausgefordert ... was sie mit Davey getan haben, das ist de-gut-tent.«

In meinem Mund bildete sich das Wort »degoutant«, aber ich ließ es lieber dort; es hatte keinen Zweck, Twinkle immer weiter zu verbessern. Und wie ich Sneddon gegenüber bereits angemerkt hatte, hing ich an meinen Zehen.

»Ich danke Ihnen schon im Voraus, Twinkle«, sagte ich und lächelte.

»Keine Ursache. Wie geht es sonst?« Twinkletoes beugte sich vor, die Ellbogen auf den Knien, und richtete sein Lächeln auf mich. Es war ein großes breites Lächeln auf einem großen breiten Kopf über großen breiten Schultern. Twinkletoes war ein freundlicher Klotz, der sich wie durch das Umlegen eines Schalters in einen unfreundlichen Klotz verwandeln ließ. »Ich habe gehört, Sie wären mit ’ner feinen Mieze rumgezogen«, sagte er.

Einen Augenblick glaubte ich, er meinte Sheila Gainsborough; dann begriff ich. »Ach so, ja ... Lorna MacFarlane. Small Changes Tochter. Sie hat schon Klasse. Findet man hier selten. Ein bisschen Klasse und ein bisschen Bildung. Das gefällt mir bei einer Frau.«

»Ja? Also, ich steh auf dicke Titten und ’ne Pflaume enger als die Faust von ’nem Flötenspieler.«

Ich erhielt keine Gelegenheit, mir eine Antwort zu überlegen, denn die viktorianische Buntglastür, die das Foyer mit dem Hauptteil der Bäder verband, schwang auf, und Sneddon kam in einem teuren Kamelhaarsportsakko mit ausgestellten Schultern ohne Krawatte und mit offenem obersten Hemdknopf hindurch, rosagesichtig und von einem weiteren Gorilla begleitet.

»Entschuldigung, störe ich gerade?«, fragte er spaßhaft, als er merkte, wie ich nach Worten suchte.

»Nein. Unser Charles Boyer hier wollte mir nur ein paar Tipps für gelungene romantische Abende geben.«

Sneddon ging zur Rezeption und schrieb etwas in das Buch, das aufgeschlagen auf der Empfangstheke lag.

»Ich habe Sie eingetragen«, sagte er. »Kommen Sie, trinken wir was. Twinkle – du und Tam, ihr wartet hier. Es dauert nicht lange.«

Sneddon führte mich in ein großes Klubzimmer, wo man die Dekorationskosten verringern konnte, indem man die Wände mit Fünfpfundscheinen tapezierte. Das Mobiliar bestand aus poliertem Hartholz und Leder, die Samtvorhänge waren tiefrot. An den Wänden klebten Stofftapeten – burgunderrote Lilien auf cremefarbenem Damast –, die so dick waren, dass man sie staubsaugen konnte. Eine Wand wurde von einem gewaltigen Kamin aus Onyx beherrscht. Ich nahm an, so sah die Hölle aus, wenn man eine Fahrkarte erster Klasse hatte.

Sneddon führte mich in eine abgelegene Ecke und nahm auf dem roten Leder Platz, das von mindestens zweieinhalb Kühen stammte. Ich setzte mich ihm gegenüber auf dem Rest der Herde an den Couchtisch. Wir saßen direkt vor den tiefroten Samtvorhängen. Es kam mir vor, als wären wir in einer Höhle mit blutigen Wänden.

»Hören Sie, Mr. Sneddon, Sie haben mich für eine bestimmte Aufgabe engagiert. Sie können mich aber nicht beauftragen und mir nur die halbe Geschichte erzählen. Sie behalten wichtige Dinge für sich. Mir ist klar, dass Sie Ihre eigenen Interessen zu schützen haben und dass ich das eine oder andere besser nicht erfahre, aber in diesem Fall hatte es zur Folge, dass ich in mehr Sackgassen gelaufen bin als eine Schickse vom Blythswood Square.« Ich schwieg, als ein Kellner in burgunderroter Jacke zwei Malt Whiskys auf einem silbernen Tablett brachte. Ich wartete mit dem Weiterreden, bis der Mann wieder verschwunden war. »Die Polizei hat Tommy Furie wegen des Mordes an Small Change festgenommen. Für mich sieht es ganz so aus, als wäre Tommy reingelegt worden. Mehr noch, es sieht für mich nach einer sehr gut durchdachten Falle aus. Der zeitliche Ablauf war entscheidend. Tommy Furie wurde von jemandem, der abends in der Boxhalle anrief, in der er trainierte, zu MacFarlanes Haus gerufen. Jemandem, der wusste, dass Tommy zu dieser Uhrzeit in der Boxhalle sein würde und dass man ihn erreichen konnte. Ich vermute, dass Small Change noch lebte, als dieser Anruf gemacht wurde, und dass man ihn erst getötet hat, als man wusste, dass Furie unterwegs war. Also war man ziemlich sicher, die ganze Sache notfalls verschieben zu können. Das wiederum weist darauf hin, dass der oder die Täter Small Changes Tagesablauf sehr gut kannten.«

»Und wieso heißt das, dass ich Ihnen was verschwiegen habe? Wollen Sie sagen, ich hatte etwas damit zu tun, dass Small Change um die Ecke gebracht wurde?«

»Nein. Aber ich glaube, dass dieser Terminkalender, den ich für Sie suchen soll, nichts mit Faustkämpfen zu tun hat. Wenn ich recht habe, dann haben Sie größere Sorgen, als dass die Polizei Ihnen nachweisen kann, dass Sie am fraglichen Tag zu einer Besprechung in MacFarlanes Haus gekommen sind. Tommy Gun Furie gehörte zu den Boxern, die MacFarlane Ihnen gestellt hat. Und jetzt sagt ihm sein Anwalt, er könne von Glück reden, wenn er nicht am Galgen endet. Tommy wird den Bullen alles sagen, um seinen Hals zu retten. Und irgendwo unterwegs taucht Ihr Name auf. Es gibt nur einen Ausweg: MacFarlanes wirklicher Mörder muss gefunden werden.«

Sneddon sah mich ungerührt an: die Ungerührtheit eines Krokodils, das eine Antilope beobachtet.

»Okay«, sagte er schließlich. »Small Change MacFarlane und ich haben Geschäfte gemacht. Wir haben Kämpfe abgekartet. Aber nicht das, was Sie auf dem Gut gesehen haben – die übliche Faustkampfscheiße mit zwei dreckigen Pikeys, die sich gegenseitig die Fresse blutig hauen. Aber Sie haben recht, wenn Sie vermuten, dass Small Change mir geholfen hat, so was zu organisieren. Wir hatten aber noch was anderes am Laufen.«

»Und was?«

Sneddon antwortete nicht sofort. Er schaute sich um, als wollte er seine Umgebung neu einschätzen. »Mir ist aufgefallen, wie die Leute mich hier manchmal ansehen. Die gleichen Blicke bekomme ich, wenn ich meinen Hund auf der Straße ausführe, auf der ich wohne. Die Leute schauen weg. Sie gucken mir nicht in die Augen. Sie glauben, Menschen wie ich, Cohen und Murphy sind der letzte Dreck. Wir machen ihnen Angst. Aber ich will Ihnen eins sagen: Diese Leute sind es, die mir Angst machen.« Er hielt inne, als der Kellner in unsere Bluthöhle zurückkehrte, um unsere leeren Whiskygläser gegen volle zu tauschen.

»Sie sollten den sogenannten einfachen Mann auf der Straße mal sehen, wenn Männer wie ich ihm geben, was er will«, fuhr Sneddon fort, als der Kellner gegangen war. »Das sind beschissene Monster. Ich habe Anteile an einem Hurenhaus in Pollockshields, nicht weit von dort, wo MacFarlane gewohnt hat. Diskret. Eines der Mädchen wurde so übel zusammengeschlagen, dass wir dachten, sie stirbt uns weg. Hat mich ein Vermögen gekostet, sie behandeln zu lassen, ohne dass es offiziell wurde. Sie hätten den Drecksack sehen sollen, der ihr das angetan hat. Ein kleiner, kahler fetter Arsch, der aussah, als könnte er kein Wässerchen trüben. Aber als er mit dem Mädchen allein war, verwandelte er sich in ein beschissenes Ungeheuer.«

»Haben Sie ihn der Polizei übergeben?« Ich hatte die dämliche Frage ausgesprochen, ehe ich darüber nachdachte.

»Was meinen Sie wohl, was wir gemacht haben! Twinkletoes hat ihn nach Hause gebracht. Im Rollstuhl.«

»Was hat das mit Ihren Geschäften mit MacFarlane zu tun?«

»Wie schon gesagt, ich weiß nicht, was normale Menschen wollen. Je schlimmer es ist, desto versessener sind sie darauf, dass man es ihnen auftischt. Sie werden es nicht glauben, Lennox, aber ich lese viel. Geschichte und so ’ne Scheiße.«

Ich zuckte mit den Schultern. Es überraschte mich nicht. Schon bei meiner ersten Begegnung mit Sneddon hatte ich ihm eine verborgene, dunkle Intelligenz angemerkt. Der kluge König.

»Ich lese viel über das alte Rom. Zwischen den Cäsaren in Rom und den Königen in Glasgow gibt es keinen Unterschied. Sie hatten damals auch ein Triumvirat. Drei Könige. Aus der Geschichte kann man ’ne Menge lernen.«

»Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Ich persönlich glaube, dass die Geschichte keine Zukunft hat.«

Sneddon lachte nicht – nicht über meinen Scherz, nicht irgendwann in meiner Erinnerung. »Ich habe über das Kolosseum gelesen. Der Laden war normalerweise pickepackevoll. Ganz normale Leute gingen dahin, um sich Mord und Totschlag anzugucken. Je grausamer und blutiger, desto besser. Wussten Sie, dass man da Kinder mit Schwertern bis zum Tod kämpfen ließ? Oder dass es für lustig gehalten wurde, Blinde in die Arena zu hetzen? Sie hackten sich gegenseitig in Stücke, aber es dauerte eine Ewigkeit, bis einer oder beide abkratzten, weil sie sich ja nicht sehen konnten. Das Publikum hat das geliebt.« Er schwieg und trank von seinem Whisky. In dem silbrigen Anzug und manikürt, wie er war, wirkte er vor dem Blutrot der Nische wie ein arrivierter Satan. »Nichts hat sich geändert«, fuhr er fort. »Wir haben angefangen, mit den Faustkämpfen das große Geld zu machen. Je brutaler der Kampf, desto größer war in der nächsten Woche die Menge. Also veranstalteten wir Sonderkämpfe. Zu Sonderpreisen. Nur Stammkunden haben wir eine Eintrittskarte angeboten.«

»Und was machte diese Kämpfe so besonders?«, fragte ich, obwohl vor meinem inneren Auge bereits einige schreckliche Bilder vorbeigezogen waren.

»Sie waren ohne jede Regel. Keine Waffen, aber sonst war alles erlaubt – treten, würgen, in die Augen stechen, beißen. Es begann klein und wurde immer größer. Je mehr Blut, desto mehr Zuschauer. Und umso höher der Eintrittspreis.«

»Okay«, sagte ich. »Raus mit der Sprache: Was ist passiert?«

»Jemand starb.« Sneddon zuckte mit den Schultern, als wäre der Tod eines Menschen etwas Unerhebliches. »Ein Pikey. Irgendwas passierte in seinem Kopf, und überall war Blut, es kam aus seiner Nase, seinen Ohren, sogar aus seinen beschissenen Augen ...«

»Lassen Sie mich raten. Er ist dann vor den Zug gekommen.« Ich schüttelte den Kopf. Die ganze Zeit hatte es mir vor Augen gestanden.

Sneddon stellte wie üblich ein Lächeln nach, indem er den Mund krümmte. »Sie sind ein reichlich kluges Kerlchen, Lennox. Sie haben die richtigen Verbindungen hergestellt. Ja, der Pikey wurde vom Zug zermanscht. Und jetzt weiß niemand, was mit ihm ist.«

»Da irren Sie sich.« Ich stellte das Glas ab und beugte mich vor. »Der Fall wird von einem neuen Pathologen bearbeitet. Der ist ein scharfer Hund. Er kennt alles, was man heute Forensik nennt, und hat herausgefunden, dass Ihr Pikey nicht irgendein Betrunkener war, der auf die Schienen geraten ist. Er hat sogar bewiesen, dass er vor seinem Tod verprügelt wurde.«

»Scheiße, na und?«

»Jetzt haben Sie ein Problem. Oder noch eins. Die Polizei ermittelt wegen Mordes. Glauben Sie mir, die hätten das Ganze viel lieber als Unfall abgehakt, aber wegen dieses peniblen neuen Pathologen geht das nicht.«

»So ein Mist.« Sneddons Miene wurde härter, was erstaunlich war, weil in seinem Gesicht eigentlich kein Platz für noch mehr Härte war. »Ich wusste gleich, wir hätten den Dreckskerl durch den Wolf drehen sollen. Aber ich wollte nicht, dass Murphy Wind davon bekommt.«

Ich nickte. Hammer Murphy, einer der Drei Könige, besaß eine Fleischkonservenfabrik in Rutherglen. Es war ein offenes Geheimnis, dass schon etliche Leichen im Fleischwolf der Fabrik geendet waren. Die Drei Könige hatten eine Vereinbarung, nach der Murphy auch Sneddon und Cohen gegen ein Entgelt den gleichen Service bot. Nicht zum ersten Mal erwog ich Vegetarismus als neuen Lebensstil.

»Sie hätten mir das alles von Anfang an offen sagen sollen«, fuhr ich fort. »Das hätte einiges leichter gemacht.«

»Mord. Scheiße. Und ausnahmsweise war es keiner ...« Sneddon schüttelte selbstkritisch den Kopf. Es war, als sähe man einen Golfspieler, der ein kinderleichtes Einlochen vermasselt hatte. Vielleicht hatten auch Mörder ein Handicapsystem.

»Sie sagen, er war ein Landfahrer?«, fragte ich.

»Ein Pikey, richtig. Wieso?«

»Es bedeutet, dass es vielleicht keine offiziellen Unterlagen über seine Existenz gibt. Keine Geburtsurkunde, keine Militärdienstakte, keine Sozialversicherungsnummer. Keine Unterlagen bedeuten, dass er offiziell gar nicht existiert hat, und das macht es sehr viel schwieriger, ihn mit irgendetwas in Verbindung zu bringen. Ich glaube, Sie sollten einfach still sitzen und abwarten.«

»Was ist mit seiner Familie?«, fragte Sneddon.

»Da wird keiner zur Polizei gehen. Für mich sieht es aus, als hätten sie ihren Abschied bereits genommen.«

»Woher wollen Sie das wissen? Sie wissen ja nicht mal, wer die Leute sind.«

»Als ich in Vinegarhill vorbeigeschaut habe, stand dort ein Vardo, ein Zigeunerwagen, der mit roten Bändern geschmückt war. Tiefrot. Das ist bei den Zigeunern die Farbe für Trauer – nicht schwarz, wie bei uns. Das bedeutet natürlich nicht, dass es unser Junge ist. Wie hieß er?«

»Woher soll ich das wissen? Er war nur ein Pikey.«

»Zurück zu den Kämpfen. Was hatte Small Change MacFarlane damit zu tun?«

»Er hat sie angesetzt, und er hat für mich die Wetten geregelt. Er kassierte einen Anteil am Gewinn, und ich stellte den Austragungsort und die Eintreiber für die unbezahlten Einsätze zu Verfügung.«

»Er hat die Kämpfer gestellt?«

»Ja, sozusagen. Er hat dafür gesorgt, dass sie kamen. Das musste er von seinem Anteil bezahlen.« Sneddon seufzte müde. »Bert Soutar hat sie für Small Change aufgegabelt.«

»Soutar?« Ich war ein paar Sekunden lang taub vom Klingeln der fallenden Groschen. »Ach so, jetzt wird mir einiges klar. Bobby Kirkcaldy steckt also auch mit drin?«

»Ja, im Hintergrund. Kirkcaldy ist ein guter Boxer, und am Samstag wird er diesen Kraut fertigmachen. Aber als ich und Cohen Geld in ihn reinstecken wollten, haben wir verlangt, dass er sich von einem unabhängigen Arzt untersuchen lässt. Wie sich herausstellte, ist sein Herz im Eimer. Herzrhythmusstörungen nennen die das. Noch zwei, drei große Kämpfe, dann muss er das Boxen aufgeben. Die Boxaufsicht weiß nichts davon. Aber Kirkcaldy ist gierig aufs Geld, und wenn es irgendwo einen Kuchen gibt, hat er den Finger drin.«

»Deshalb war er so außer Atem ...«, sagte ich mehr zu mir selbst als zu Sneddon, als mir einfiel, wie sehr Kirkcaldy das Seilspringen in seiner Kellerturnhalle angestrengt hatte. Vermutlich trainierte er deshalb so viel dort und nicht in der Stadt: Niemand durfte sehen, dass er ziemlich schnell Atemnot bekam.

»Also kennen Kirkcaldy oder Bert Soutar den Namen des toten Landfahrers?«, fragte ich.

»Kann sein. Muss aber nicht.«

Ich lehnte mich in die roten Polster zurück und nippte am Whisky. Es passte alles zusammen.

»Ihnen ist nicht der Gedanke gekommen, dass die Symbole der Drohung, die tote Taube und das alles, von den Landfahrern stammen könnten?«

»Den Pikeys, meinen Sie? Weil einer von denen abgekratzt ist? Nein, ganz bestimmt nicht. Darauf wäre ich nie gekommen.«

»Das kann ich schwer glauben.«

Sneddon beugte sich vor, als wollte er mich in ein großes Geheimnis einweihen. »Sie sollten es sich gut überlegen, ehe Sie mich einen Lügner nennen, Lennox.«

Einen Augenblick lang erwiderte ich nichts, sondern berechnete im Kopf das Verhältnis von Vernunft und Tapferkeit.

»Also lieferte Soutar die Kämpfer, und Small Change organisierte die Fights und machte die Wetten. Was ist mit Jack Collins? Er war doch Small Changes eigentlicher Veranstalter, oder?«

»Nein. Wir hatten mit Collins zu tun, aber nur bei regelgerechten Boxkämpfen. In der Nacht, in der ich Sie engagiert hatte, habe ich Ihnen die Wahrheit gesagt. Wir wollten legale Kämpfe veranstalten und hatten ein paar halbwegs brauchbare Boxer. Das war es, worum Collins sich gekümmert hat. Und der Pikey-Junge, der Small Change umgebracht haben soll, sollte ein richtiger Boxer werden. Das ist jetzt natürlich alles im Arsch.«

»Lassen Sie Bobby Kirkcaldy noch immer von Singer beschatten?« Ich trank meinen Whisky aus und stand auf.

»Aye.«

»Gut. Er darf nicht aus den Augen gelassen werden.«

»Wo wollen Sie hin?«

»Ich habe Papierkram zu erledigen.«

***

Ich suchte mir eine Stelle zum Parken, die von der Hauptstraße nicht eingesehen werden konnte, und fand sie unter einer feuchten, rostigen Eisenbahnbrücke. Ich blieb eine halbe Stunde im Wagen sitzen, rauchte und horchte auf die stählernen Laute des Clyde. In der Nacht war es stiller und kühler, aber die Werften und Trockendocks schliefen nie richtig. Ich war in einem Niemandsland zwischen den Wohnhäusern und den Kais. Niemand kam ohne Grund hierher. Für das, was ich plante, war das gut und schlecht zugleich. Nur sehr wenige Leute konnten meinen Wagen entdecken, den ich außer Sicht abstellte; aber diese Leute führten entweder nichts Gutes im Schilde, so wie ich, oder sie versuchten, diejenigen zu erwischen, die nichts Gutes im Schilde führten. Am wenigsten könnte ich einen Bobby auf Streife gebrauchen, der zufällig über meinen Atlantic stolperte.

Über mir donnerte ein Zug über die Schienen. Das Rattern hallte dumpf im Brückenbogen wider. Ich drückte die Zigarette aus und nahm mein Zeug aus dem Kofferraum. Ich legte das Jackett ab, zog mir den Rollkragenpullover über das Hemd und wechselte meine Schuhe gegen die Turnschuhe. Dann wickelte ich die angesengten Korken aus dem Zeitungspapier und rieb sie mir übers Gesicht. Wenn mich jetzt ein Streifenbobby erwischte, müsste ich ihn überzeugen, dass ich bloß einen schwarzen Sänger spielen wollte, sonst würde ich drei Monate in Barlinnie absitzen. Ich schloss den Wagen ab, zog die Lederhandschuhe über und trat unter dem Brückenbogen hervor. Hinter einen Strauch geduckt wartete ich, während ein älterer Hafenarbeiter auf dem Fahrrad die Kopfsteinpflasterstraße zwischen mir und der Zollfreizone entlangfuhr. Er trat so langsam in die Pedale, dass ich mich fragte, wie er trotz so wenig Schwung nicht umfiel. Nach Stunden, schien es, verschwand er endlich um die Ecke.

Die Straßenlaternen warfen dürftige Lichtflecke auf das Pflaster, und ich rannte geduckt zwischen ihnen hindurch über die Straße und kauerte mich auf der anderen Seite in den Graben. Ich war ungefähr dreihundert Meter vom Tor und von dem Unterstand für den Wachmann entfernt, als ich die Drahtschere aus der Tasche nahm und den Maschenzaun zerschnitt. Ich bog den Stahl zurück wie einen Vorhang und kroch durch das lange, ungemähte Gras.

An der Innenseite folgte ich dem Zaun. Ich hielt mich geduckt, weil ich von der Straße aus noch immer zu sehen war, bis ich die Nissenhütten erreichte. Hier stand nur eine einzige Laterne, sodass die Hütten sich düster abzeichneten, ohne sich groß voneinander zu unterscheiden. Ich wollte die Fahrradlampe nicht im Freien benutzen; deshalb brauchte ich fünf Minuten, um das Schild von Barnier und Clement zu finden. Die Vordertür war stabil, aber es war mehr ein Büro als ein Lagerhaus, und das Vorhängeschloss an der Tür hielt dem Brecheisen nicht lange stand. Ich fing das Schloss auf, damit es nicht auf den Boden klapperte, und schob mich ins Innere der Hütte.

Normalerweise hätte ich das Licht eingeschaltet: Ein vollständig beleuchteter Raum erregt weniger Aufmerksamkeit als ein huschender Taschenlampenkegel, aber hier im Dunkel der Lagerhauszone wäre ein Licht so unauffällig gewesen wie ein Leuchtturm in einer sternenklaren Nacht.

Das Büro sah noch genauso aus wie vor ein paar Tagen, als ich vorbeigekommen war und gebeten hatte, Barnier sprechen zu dürfen. Ich ging zu den Aktenschränken und sprach ein kurzes Gebet der Anerkennung für Miss Minto. Ihr Ablagesystem war peinlich genau und dennoch leicht zu durchschauen. Ich brauchte nur zwanzig Minuten, bis ich fand, was ich suchte: die Frachtliste eines Schiffes und Durchschläge des Schadensmeldungsformulars eines Schiffsversicherers mit einem Stempel des Lloyd’s Registers.

Ich lächelte. Eine Schadensmeldung einzureichen war das Letzte, was Barnier gewollt hätte, aber er musste es tun, um den Anschein eines legalen Geschäfts zu wahren.

Ich legte die Frachtliste auf den Schreibtisch und beleuchtete sie mit der Fahrradlampe, während ich mit dem Finger die einzelnen Posten durchging. Da stand es, so fett und unschuldig, wie es nur ging:

33a.) 12 JADEFIGUREN, VIET. KY LAN, NEPHRIT. IN KISTE. EMPFÄNGER: SANTORNO ANTIQUES AND CURIOS, GREENWICH, NEW YORK, NEW YORK

Nur dass es jetzt nur noch elf waren. KY LAN. Als ich zum ersten Mal ohne Termin hier gewesen war, hatte Miss Minto geglaubt, ich sei wegen des »Kielan« gekommen. Und Chinesisch war das Ganze auch nicht. Es handelte sich um Ky lan, nicht um chinesischen Qilin. Sie waren vietnamesisch, aus Französisch-Indochina. Alain Barnier war ein bekannter Importeur fernöstlicher Kunst – genau das Glied, das John Largo für seine Versorgungskette brauchte. Nur war Barnier ein schwaches Glied. Ich nahm Notizblock und Bleistift aus der Tasche und schrieb mir die Einzelheiten auf, legte alle Papiere zurück in die Akten und alle Akten wieder in den Schrank.

Von draußen hörte ich ein Geräusch.

Ich machte die Fahrradlampe aus, huschte unter der Empfangstheke hindurch zur Tür und zog den Schlagstock. Neben der Tür war ein kleines Fenster; den Rücken an die Wand gepresst, warf ich einen Blick hindurch. Ich sah einen Wachmann, der die Lichtpfütze des Laternenpfahls durchquerte und dann außer Sicht verschwand. Ich wartete ein paar Minuten und verrenkte mir bei dem Versuch, aus dem Fenster zu blicken, beinahe den Hals, bis ich beschloss, den Schlagstock wieder in die Tasche zu stecken, zu den Akten zurückzukehren und die Lampe wieder einzuschalten.

Barnier war meine Fahrkarte zu Largo. Wenn ich den Franzosen im Auge behielt, bestand die Chance, dass er mich zu Largo führte. Oder mich wenigstens einen Schritt näherbrachte. Ich brauchte seine Adresse.

Wieder dankte ich im Stillen der unscheinbaren, unfreundlichen Miss Minto, die den sexuellen und gesellschaftlichen Frust einer alten Jungfer in fanatische Effizienz kanalisiert hatte. Ihr Adressbuch war nicht tabellarisch, es war überhaupt kein richtiges Adressbuch, sondern ein fest gebundenes Notizbuch, in das sie sämtliche wichtigen Kontaktadressen der Firma eingetragen hatte. Es war beeindruckend obsessiv: Nicht ein einziger Name fiel aus der streng alphabetischen Reihenfolge. Barnier wohnte ein Stück außerhalb der Stadt auf der Greenock Road in Langbank. Er hatte Telefon, und ich schrieb mir die Adresse und die Rufnummer auf. Ich musste mir eingestehen, dass ich auf den geheimnisvollen Monsieur Clement neugierig war. Nachdem ich die Adresse der französischen Niederlassung von Barnier et Clement auf dem Cours Lieutaud in Marseille gefunden hatte, schlug ich den Namen Clement nach: Claude Clement wohnte in einer Ortschaft namens Allauch. Ich notierte mir beide Adressen und legte mein Notizbuch wieder in die Tasche. Die Nachtschicht hatte sich eindeutig gelohnt.

Gerade als ich alles eingepackt hatte, hörte ich die Schritte vor der Tür.