14.

Es bedurfte einiger Zeit und eines weiteren Gesprächs mit dem herablassenden Agenten, bis ich endlich ein Treffen mit Sheila Gainsborough arrangieren konnte. Dass man die Person, mit der ihr verschwundener Bruder abgetaucht war, tot aufgefunden hatte, musste ich ihr ins Gesicht sagen.

Ich besuchte sie wieder in ihrer Wohnung. Sie nahm die schlechte Neuigkeit gut auf, oder wenigstens so gut, wie es ging, und viel besser, als ich erwartet hätte. Ich vermutete, auf ihrer Seite bestand noch immer ein gewisses Wunschdenken, oder ihr kam schlichtweg nicht der Gedanke, ihr Bruder könnte genauso tot sein wie Paul Costello, nur dass noch niemand seine Leiche gefunden hatte.

Ich für meinen Teil spielte alles herunter, so weit man eine durchschnittene Kehle eben herunterspielen kann. Auf den Gedanken, dass die Polizei wahrscheinlich irgendwann mit Sammy sprechen wollte, kam sie ebenfalls nicht. Dabei war es nur eine Frage der Zeit und der mangelnden Ergebnisse, bis die Bullen sich nach dem bequemsten aller möglichen Verdächtigen umsehen würden. Dann würde McNab Sammys Namen aus dem Ärmel ziehen, und ich würde beiseite gekickt.

Ich hatte einiges zu erledigen, sah aber deutlich, dass Sheila Gainsborough sich in einem labilen Zustand befand. Daher versprach ich ihr hoch und heilig, dass ich jetzt, wo umso mehr auf dem Spiel stand, meine Bemühungen verdoppeln und Sammy auf jeden Fall unversehrt zu ihr zurückbringen würde. Ständig machte ich Frauen irgendwelche Versprechungen – besonders solche, bei denen die Chance sehr hoch stand, dass ich sie nicht einlösen konnte.

Ich verabschiedete mich von Sheila, ging zu einer Telefonzelle und rief Ian McClelland in der Universität an. Wir tauschten die üblichen Frotzeleien aus, dann wurde ich sachlich.

»Ian, könnten Sie mir sagen, was ein Baro ist? Im Zusammenhang mit Landfahrern oder Kesselflickern?«

»Nun ja, das ist nicht gerade mein Gebiet, aber ich könnte mal nachforschen. Worum geht es dabei?«

»Ich habe mit einem Landfahrer gesprochen, der diesen Begriff benutzt hat.«

»Okay, ich weiß jemanden, den ich fragen kann.«

»Könnten Sie den Betreffenden auch fragen, was ein Holzkästchen mit roter und weißer Wolle symbolisiert? Ungefähr zwanzig Zentimeter, quadratisch.« Ich beschrieb das Kästchen, von dem Lorna mir erzählt hatte, ihr Vater habe es kurz vor seinem Tod erhalten. »Die Wolle war zu einem Knäuel zusammengerollt.«

»Geht klar. Die fragliche Person hat das Büro auf dem gleichen Flur wie ich. Kann ich Sie in zehn Minuten zurückrufen?«

»Sicher«, sagte ich. »Was ist mit der Beschreibung und der Bezeichnung des Drachen, die ich Ihnen gegeben habe?«

»Wie ich mir schon gedacht hatte, ist es ein chinesischer Qilin.«

»Da irren Sie sich.« Ich klang ziemlich selbstgefällig. »Das ist kein Qilin, sondern ein vietnamesischer Ky lan, wenn meine Informationen stimmen.«

»Könnte gut sein«, erwiderte McClelland. Wenn ihn meine Kenntnis über die Feinheiten der orientalischen Mythologie beeindruckten, ließ er es sich nicht anmerken. »Das ist eine sino-vietnamesische Figur. Sie sieht bedrohlich aus, ist aber gütig. Sie bringt Ihnen Glück und Reichtum und sorgt für die Guten und Ehrenwerten.«

»Das hab ich mir gedacht«, sagte ich. »Seit ich ihn gesehen habe, kann ich vor Glück kaum atmen.«

McClelland stand zu seinem Wort und rief zehn Minuten später wieder an.

»Ein Baro ist ein Sippenoberhaupt«, erklärte er. »Ein hohes Tier bei den Roma. Und ich hoffe, Sie haben dieses Kästchen mit der Wolle, von dem Sie sprachen, nicht gefunden.«

»Nein, habe ich nicht. Wieso?«

»Das ist ein Bitchapen – eine Art Geschenk, aber nicht von der Sorte, die man gerne bekommt. Jeder Angehörige der Zigeunersippe hat das Kästchen berührt und alles Schlechte und Böse hineingelegt. Wer das Bitchapen findet, hat dann das ganze Unglück am Hals.«

»Danke, Ian«, sagte ich. »Damit kann ich etwas anfangen.«

***

In der Bar des Alpha Hotels traf ich mich auf einen Drink mit Dex Devereaux. Ich erzählte ihm von Sammy, Paul Costello, Claire Skinner, dem kleinen freundlichen Jadedämon und der charmanten Zuflucht auf dem Lande, die sie sich geteilt hatten. Meinen Verdacht gegen Alain Barnier und seine mögliche Verbindung zu John Largo behielt ich für mich. Dafür hatte ich einen triftigen Grund: Der große Amerikaner war zwar ein netter Kerl, aber er war und blieb ein Bulle. Dass mich die Glasgower Polizei mit Barnier in Verbindung brachte, war das Letzte, was ich brauchen konnte. Das Polizeipräsidium war zwar keine intellektuelle Hochburg, aber sobald man dort hörte, dass ich Barnier kannte, würde es nicht lange dauern, bis sie mich mit der Nacht des Einbruchs und dem halb bewusstlosen Highlander in Verbindung brachten, den ich mit dem Schlagstock außer Gefecht gesetzt hatte.

Vielleicht würden sie Nachtwächter Billy sogar die Brille holen. Für die Glasgower Kripo arbeitete offenbar ein führender Neurologe: Schon oft war es ihr gelungen, Zeugen, die an schlechten Augen oder einem lückenhaften Gedächtnis litten, ganz plötzlich zu kurieren.

Nachdem ich mich von Devereaux verabschiedet hatte, fuhr ich zu Lorna, um zu sehen, wie es ihr ging. Wieder reagierte sie so leidenschaftlich wie ein Bankdirektor, und Maggie MacFarlane zeigte mir offen die kalte Schulter. Von Jack Collins sah ich keine Spur. Lorna machte Tee; während wir ihn im Wohnzimmer tranken, gab ich mein Bestes, um die passenden tröstenden Worte zu finden. Lorna blieb mürrisch und abweisend. Ihre Miene drückte kaum verhohlene Ablehnung aus. Sie wusste, dass ich tat, was man von mir erwartete, und hätte alles gegeben, um dem zu entkommen. Und beide wussten wir, dass sie sich im umgekehrten Fall genauso verhalten hätte.

***

An den nächsten beiden Tagen behielt ich Alain Barnier im Auge. Weil ich mit so vielen anderen Dingen jonglieren musste, darunter meine täglichen Besuche bei Davey, verlief die Überwachung ziemlich lückenhaft, und der Erfolg war eher Zufall.

Die Beschattung des Franzosen wurde dadurch erschwert, dass er kein Gewohnheitstier war. Im Durchschnitt verbrachte er zwei bis drei Stunden täglich im Büro, aber nicht immer zur gleichen Uhrzeit. Den Rest des Tages besuchte er Kunden, vornehmlich Hotels und Restaurants. Doch Weine und Spirituosen waren nicht seine einzige Ware: Er steuerte auch viele Antiquitätenhändler in Glasgow und Edinburgh an.

Barnier zu beschatten war zeitaufwendig und erschien weitgehend sinnlos, aber es bestand jederzeit die Chance, dass er mich einen Schritt näher an John Largo heranführte. Doch je mehr Barnier seinen prosaischen Alltagsgeschäften nachging, desto mehr bezweifelte ich, dass der elegante, kultivierte und gebildete Franzose etwas mit einem internationalen Rauschgiftring zu tun hatte.

Vielleicht wurde ich zu kühn, aber ich gewöhnte mir an, den Atlantic unter dem gleichen Brückenbogen zu parken, unter dem er in der Nacht des Einbruchs gestanden hatte. Von dort konnte ich das Tor der Zollfreizone beobachten und sehen, wann Barnier in seinem Simca das Büro verließ. Er kam um halb vier nachmittags heraus; er brach ziemlich oft so früh auf und schob noch ein paar Kundenbesuche ein, ehe er zu seinem Haus in Langbank fuhr.

Obwohl es mir ein wenig wie ein sinnloses Unterfangen erschien, folgte ich ihm. Ein hässlicher Jadedämon und ein toter Gangstersohn wiesen mich in seine Richtung. Dazu kam das Gefühl in meinem Bauch: Ich mochte den Franzosen, aber jedes Mal, wenn ich an ihn dachte, war es, als regte sich in einem Raum hinten in meinem Kopf irgendetwas, das sich zum Schlafen zusammengeringelt hatte, nun aber von jemandem mit einem Stock angestoßen wurde.

An einem Nachmittag wartete ich bis gegen sechs Uhr außerhalb der Zollfreizone. Nachdem Barniers Simca das Tor durchquert hatte, folgte ich ihm. Als Barnier in westlicher Richtung nach Greenock abbog, nahm ich an, dass er direkt nach Hause fuhr. Ich musste mich so weit zurückhalten wie möglich, ohne ihn zu verlieren. Die Straße folgte dem Ufer des Clyde, und obwohl es die Hauptverbindungsstrecke zwischen Glasgow und seiner Satellitenstadt Greenock war, sah ich in beiden Richtungen so gut wie keine anderen Autos. Wir kamen an der Stelle vorbei, wo ich zu dem Stausee abgebogen war, an dem ich dann im Wagen übernachtet hatte. Zu meiner Überraschung fuhr der Simca an Langbank vorbei und hielt sich weiter nach Westen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Importeur erlesener Weine und orientalischer Kuriositäten in Greenock zu tun haben könnte.

Er fuhr auf die Stadt zu. An einer Stelle, wo die Küste eine Kurve nach Süden beschreibt, verlor ich ihn. Ich beschleunigte ein wenig und wäre fast an der Abzweigung vorbeigefahren. Port Glasgow hatte eine gewaltige Zuckerfabrik, und der Berg, der sie überragte, hieß Lyle Hill. Auf der Straße den Lyle Hill hinauf kam ich an Barniers geparktem Simca vorbei. Ich fuhr weiter, bremste nicht einmal ab, ehe ich die Kurve in der Lyle Road hinter mir hatte und mich außerhalb seiner Sicht befand. Ich hielt am Straßenrand und nahm ein Fernglas aus dem Handschuhfach. Dann musste ich den Hang hinaufsteigen, um an eine Stelle zu gelangen, von der aus ich Barnier beobachten konnte. Mit meinen lederbesohlten Gibsons rutschte ich immer wieder auf dem glitschigen Gras aus. Mehrmals fiel ich auf die Knie und verfluchte die feuchten, dunklen Flecken auf meinen Hosenbeinen, zumal die Trockenreinigungen der Stadt dafür bekannt waren, dass sie mit der Behutsamkeit einer Abbruchfirma arbeiteten.

Schließlich erreichte ich die Hügelkuppe. Es kam mir vor, als stände ich am Rand eines Golfplatzes. Sträucher und ein paar krüpplige Bäume gaben mir Deckung, als ich auf die Straße hinunterschaute, die sich wie ein Band um den Rand des Lyle Hill zog. Ich hatte einen atemberaubenden Blick über den Clyde hinweg zu den Bergen auf der Halbinsel Cowal. Unmittelbar unter mir lag Greenock auf der einen und Gourock auf der anderen Seite; weiter hinaus befand sich der Tail of the Bank. Aus dieser Bucht waren meine Eltern mit mir als Säugling aufgebrochen, um ein neues Leben in Kanada zu beginnen.

Am interessantesten war jedoch, dass Barnier vor dem Denkmal stehen geblieben war, das den Anblick beherrschte. Das Denkmal besaß die Form eines riesigen weißen Ankers, dessen Schaft demonstrativ in den Himmel stach. Statt des üblichen Ankerrings am oberen Ende hatte der Schaft zwei Stöcke, die ihn kreuzten, einer kürzer als der andere: ein Lothringer Kreuz. Als städtisches Mahnmal hätte es auffälliger nicht sein können.

Ich beobachtete Barnier. Es ließ sich schwer sagen, ob er auf jemanden wartete oder ob das Denkmal eine besondere Bedeutung für ihn hatte. Er schien die Inschrift im Sockel zu lesen. Dann drehte er sich um, lehnte sich an das Geländer, den Rücken zu mir, und schien über den Firth of Clyde hinauszublicken. Gut zehn Minuten stand er dort, ehe er sich abwandte und zu seinem Wagen zurückging. Ich fluchte innerlich. Ich war sicher gewesen, dass er mit jemandem verabredet war, zumal das Denkmal sich ideal als Treffpunkt eignete. Wahrscheinlich hatte ich aber nur zu viele Orson-Welles-Filme gesehen.

Ich hastete den Hang hinunter, so schnell ich konnte, um meinen Atlantic zu erreichen. Wenn Barnier den Berg wieder hinunterfuhr, musste ich mich beeilen, sonst verlor ich ihn. Zweige griffen wie Finger nach meinen Hosenbeinen, als wollten sie mich aufhalten. Zweimal verlor ich den Hut und bewies echte Torwartqualitäten, indem ich ihn auffing, ehe er im Matsch landete. Ich brach aus dem grünen Dickicht hervor und kam wenige Meter von der Stelle, wo ich den Atlantic geparkt hatte, auf die Straße.

Man sieht es in jedem Western: Die Siedler erreichen die Passhöhe und entdecken die bedrohlich reglosen, schweigsamen Silhouetten berittener Apachen oder Banditen, die auf dem Berg stehen und auf sie heruntersehen. Die Badlands.

Port Glasgow war Schottlands Gegenstück zur Painted Desert, und als ich wieder auf der Straße war, standen drei Teddy-Boy-Comancheros an meinem Wagen. Mein Bauch sagte mir, dass keine Absicht hinter dieser Begegnung steckte: Die Typen hatte nichts damit zu tun, dass ich Barnier beschattete; es war bloß ein ganz gewöhnlicher Überfall in einer kleinen schottischen Industriestadt. Ich schätzte alle drei auf neunzehn oder zwanzig. Sie hingen der aufkommenden Teddy-Boy-Mode an, aber keiner von ihnen konnte sich die komplette Kluft leisten. Deshalb trug einer die oberschenkelhohe Jacke, ein zweiter hatte Röhrenhosen an, und der dritte, jackenlose Bursche musste sich mit einer Schnürsenkel-Krawatte begnügen.

Gemeinsam hatten sie genügend Öl im Haar, um ein Schlachtschiff abzuschmieren, und ausreichend Hautunreinheiten, um einen eigenen Dermatologen auf Vollzeitbasis zu beschäftigen.

»Dein Auto, Kumpel?«, fragte das Jüngelchen in der Teddy-Boy-Jacke. Er war eindeutig der Anführer; vielleicht besaß er deshalb die Jacke. Er lehnte am Kotflügel meines Atlantics und wirkte entspannt – ein schlechtes Zeichen. Bei jeder körperlichen Auseinandersetzung ist Selbstvertrauen die halbe Miete. Die beiden anderen bedachten mich mit stumpfen, desinteressierten Blicken, als wäre das, was sie taten, alltäglich für sie. So war es wahrscheinlich auch.

»Ja, das ist mein Wagen«, seufzte ich und klopfte mir die gröbsten Blätter von der Anzughose.

»Wir haben für dich auf die Kiste aufgepasst«, sagte ein anderer. Ich musste genau hinhören: Ich hatte mein Greenock-Wörterbuch nicht dabei. Ich hatte Jahre gebraucht, bis ich den Glasgower Akzent verstand; Greenock überstieg die Grenzen des Möglichen.

»Sehr freundlich«, sagte ich lächelnd, nahm die Schlüssel aus der Tasche und ging zur Tür. Jetzt nur keine Eile. Ich musste Barnier entwischen lassen; im Augenblick hatte ich drängendere Probleme.

Der Anführer in der edwardianischen Jacke rutschte vom Kotflügel und stellte sich vor die Tür des Wagens.

»Tja, es ist so«, sagt er. »Du hättest wiederkommen können, und alle deine Reifen wären platt gewesen, und wer weiß, was noch für ’n Scheiß passiert wäre. Aber wir haben hier aufgepasst, damit keiner die Karre anrührt. Deshalb solltest du vielleicht ’n paar Mäuse rüberreichen, meinst du nicht auch?«

Seine beiden Kumpel stellten sich links und rechts von mir auf und strafften die Schultern. Viel gab es da nicht zu straffen.

»Wirklich?«, fragte ich. »Sehr unternehmenslustig von euch. Aber der Trick besteht darin, vorher um Geld zu bitten, Einstein.«

Er runzelte die Stirn. Nicht aus Wut, sondern aus Unsicherheit, ob er gerade beleidigt worden war. Mir wurde klar, dass er nicht einmal ansatzweise wusste, wer Einstein war. Ich musste lernen, mich nur auf einfache Dinge zu beziehen.

Sie waren noch halbe Kinder. Ich wusste es und wollte keinen Ärger. Ich wusste aber auch, dass sie versuchen würden, mich zusammenzuschlagen, um mir die Taschen auszuräumen und wahrscheinlich noch das Auto zu stehlen, wenn ich ihnen nur den Hauch einer Chance ließ. Beim Militär hatte ich gelernt, dass man einer erkannten Bedrohung am besten begegnet, indem man sie neutralisiert. Und ich hatte mehr neutralisiert als viele andere. Deshalb sagte ich mir, dass die Typen mir hinterher immer noch leidtun konnten.

Ich zog den Schlagstock aus der Innentasche und knallte ihn dem Chefteddy mit einer Rückhandbewegung gegen die Schläfe. Der Junge rechts von mir sprang vor, und ich stieß mit der Hand zu, in der ich die Autoschlüssel hielt. Der Schlüssel riss ihm die Wange auf und prallte gegen die Zähne. Er schrie auf und taumelte zurück, beide Hände an seinem blutenden Gesicht. Der Dritte griff in die Tasche und wollte ein Rasiermesser zücken. Ich schlug mit dem Knüppel nach ihm, ohne lange zu zielen. Durch Glück erwischte ich ihn seitlich am fliehenden Kinn, und er stürzte wie ein Stein zu Boden. Der Erste wollte sich aufrappeln, doch ich überzeugte ihn vom Gegenteil, indem ich ihm den Schuhabsatz über den Mund zog. Der Schläger mit dem Schlüsselloch in der Backe stürmte den Hang hinunter. Er hielt sich noch immer das Gesicht und schrie.

Ich zog den Chefhooligan aus dem Weg, stieg in den Wagen und fuhr den Lyle Hill hinunter. Auf halber Strecke kam ich an dem rennenden Burschen vorbei, der wie am Spieß schrie. Ich kurbelte das Fenster herunter, strahlte ihn an und fragte, ob ich ihn mitnehmen sollte. Ich glaube, er wollte lieber laufen, denn er starrte mich nur fassungslos an, machte auf dem Absatz kehrt und rannte in die entgegengesetzte Richtung.

Ich hielt dort, wo Barnier geparkt hatte. Das Denkmal stand auf einem rechteckigen Sockel, abgesperrt durch ein Geländer mit einem Tor, auf dem sich ebenfalls das Lothringer Kreuz befand. Ich ging hindurch und stellte mich vor das Monument, ließ es einen Augenblick auf mich wirken, ehe ich die Inschrift am Sockel las:

DIESES DENKMAL IST DEN SEELEUTEN DER FREIEN FRANZÖSISCHEN MARINE GEWIDMET, DIE IN DEN JAHREN 1940–1945 VON GREENOCK AUSLIEFEN UND IN DER ATLANTIKSCHLACHT IHR LEBEN FÜR DIE BEFREIUNG FRANKREICHS UND DEN ERFOLG DER ALLIERTEN SACHE GABEN

Auf anderen Tafeln wurden bestimmte freifranzösische Schiffe erwähnt: das Unterseeboot Surcouf und die Korvetten Alysse und Mimosa. Offiziell war das Denkmal zwar allen freifranzösischen Seeleuten gewidmet, die während des Krieges in Schottland stationiert gewesen waren, doch für eine bestimmte Gruppe von Franzosen hatte es eine ganz besondere Bedeutung. Es stand mit einem bestimmten Vorfall in Verbindung. Etwas, das geschehen war, ehe die Freien Französischen Streitkräfte offiziell gebildet worden waren. Etwas, das hier geschehen war, in Sichtweite der Stelle, an der heute das Denkmal stand.

Und Alain Barnier schien damit zu tun zu haben.

***

Während ich nach Glasgow zurückfuhr, achtete ich nicht auf die Straße. Ich dachte auch nicht groß an das, was mich nach Greenock geführt hatte. Wieder stocherte jemand an der zusammengeringelten schlafenden Kreatur, aber jetzt hatte er in dem Zimmer im hinteren Teil meines Kopfes das Licht eingeschaltet. Ich sah einen Namen. Maillé Brézé.

Doch die Gespenster toter französischer Seeleute waren nicht das Einzige, was mir zu schaffen machte: Ich hätte froh sein müssen, dass ich die drei Schläger halbwegs ungeschoren hatte davonkommen lassen. Dass ich eine gewisse Selbstbeherrschung gezeigt hatte. Noch vor wenigen Monaten hätte ich sie krankenhausreif geschlagen, sobald der Vorteil bei mir gewesen wäre. Ich hätte also froh sein müssen, aber ich war es nicht.

Denn in Wirklichkeit hatte ich es genossen.