4.

Obwohl es spät wurde, überlegte ich, ob ich noch ins Horsehead fahren und mir einen hinter die Binde kippen sollte. Das Horsehead war zu meinem inoffiziellen zweiten Büro geworden. Früher war es sogar mein eigentliches Büro gewesen, doch in letzter Zeit bemühte ich mich halbherzig um Legitimität und verbrachte weniger Zeit in dem Lokal.

Als ich hereinkam, grinste Big Bob, der Barkeeper, mich an. Ich grinste zurück. Big Bob war ein prima Kerl. Ich fragte mich oft, ob er wegen der Anfangsbuchstaben seines Namens Barkeeper geworden war. Hätte man ihn Fat Fred genannt, wäre er dann Feuerwehrmann geworden?

Jedenfalls war Big Bob ein zäher Hundesohn. Auch er war im Krieg gewesen, der noch gar nicht so lange zurücklag, aber Bob und ich hielten uns an die Regel, dass man nicht darüber sprach, wenn man im Fleischwolf des Krieges gewesen war. Man erkannte einander als Männer von der gleichen Sorte, erwähnte es jedoch mit keinem Wort.

»Na, das freut mich aber.« Bob schenkte mir einen Canadian Club ein. »Wo bist du so lange gewesen? Ich dachte, du hättest dich nach Kanada verpisst.«

»Arbeitest du jetzt für den Fremdenverkehrsverein von New Brunswick? Ich hatte zu tun, Bob. Hat jemand nach mir gefragt?«

»Nee. Nur wieder mal der kleine Spinner da hinten.« Er nickte in Richtung eines jungen Mannes am anderen Ende der Theke.

Ich winkte ihn heran.

»Hallo, Davey«, sagte ich. »Ich schätze, an dem Bier hältst du dich schon den halben Abend fest, was? Gib ihm ein frisches Pint, Bob.«

»Wie geht es Ihnen, Mr. Lennox?« Davey Wallace strahlte mich an, als er an mein Ende der Theke kam und Big Bob ihm sein Bier reichte. Davey war ungefähr eins siebzig, hatte ein so frisches Gesicht, wie die Luft in Glasgow es erlaubte, und trug einen zu großen Anzug aus zweiter Hand, der einmal teuer gewesen war. Vor einem Krieg und einer Generation.

»Wie läuft das Geschäft?«, sprudelte er überschwänglich hervor. »Haben Sie neue Fälle?«

»Das Gleiche wie immer, Davey«, erwiderte ich lächelnd.

Davey Wallace war ein Träumer. Ein guter Junge, aber ein Träumer. Für viele in dieser Stadt war Glasgow ebenso Gefängnis wie Heimat. Die Schranken waren das Klassensystem und das Fehlen gangbarer Alternativen zu lebenslanger körperlicher Knochenarbeit. Die Werften und Stahlwerke verschlangen die jungen Männer der Stadt. Ich hatte mich oft gefragt, ob sie in Rotten Row, Glasgows so passend benannter Entbindungsklinik, auf die Geburtsurkunden statt »Junge« einfach »Lehrling« stempelten.

Davey war Lehrling – er lernte Schweißer – und arbeitete in der Morgenschicht auf der Werft. Mit fünfzehn hatte er angefangen und würde höchstwahrscheinlich dort arbeiten, bis er fünfundsechzig war und seine Begeisterung für den Rock ’n’ Roll verloren hatte, weil er von dem ständigen Lärm der Nietmaschinen mit spätestens vierzig taub geworden war. Davey Wallace, siebzehn Jahre alt, mit sieben ohne Eltern, bis fünfzehn im Waisenhaus, unverheiratet und ohne Kinder, die ihn noch fester an das unentrinnbare Leben als Rädchen im Getriebe der Industrie gekettet hätten, flüchtete sich jeden Abend ins Kino, wo er es mit ganz anderen Kollegen zu tun bekam: Bogart, Cagney, Mitchum, Robinson, Mature.

Als Davey erfuhr, dass ich ein echter Rechercheagent war, hatte er mich in der Kneipe angesprochen, wie ein griechischer Schafhirte vielleicht Zeus angerufen hätte. Seitdem erinnerte er mich bei jeder Gelegenheit daran, dass ich, wenn ich jemals Hilfe bräuchte ...

»Danke für das Bier, Mr. Lennox.«

»Schon gut, Davey. Solltest du nicht im Bett sein? Hast du nicht Frühschicht?«

»Ich schlaf meistens nachmittags.« Er beeilte sich hinzuzufügen: »Aber ich stehe jederzeit zur Verfügung ... Sie wissen ja, wenn Sie bei irgendeinem von Ihren Fällen Hilfe brauchen, Mr. Lennox, bin ich immer bereit, Tag und Nacht.«

Ich tauschte einen Blick mit dem grinsenden Big Bob.

»Hör mal zu, Davey«, sagte ich, »mein Beruf ist nicht so, wie du ihn dir vorstellst. Es ist nicht wie im Film. Was ich für mein Geld tue, ist nichts Schönes.«

Sein Gesicht wurde finster. »Sie sollten es mal auf der Werft versuchen. Im Vergleich dazu ist alles schön.« Er starrte düster in sein Glas. Das war eine schottische Tradition, wie ich inzwischen wusste.

Ich seufzte. »Hör zu, Davey, ich kann dir keinen Job anbieten, weil ich keinen Job anzubieten habe. Ich muss selber kämpfen, um über die Runden zu kommen. Aber wenn sich irgendwas ergibt, wo vier Augen mehr sehen als zwei, oder wenn ich irgendwelche Hilfe brauche, dann rufe ich dich. Okay?«

Er blickte von seinem Bier hoch und strahlte mich an. »Was immer es ist, Mr. Lennox, Sie können sich auf mich verlassen!«

»Okay, Davey. Dann trink dein Bier aus und geh nach Hause. Wie gesagt, ich melde mich bei dir, wenn ich dich brauche.«

Ich ließ ihn neben mir stehen, während er sein Glas leerte. Nachdem er gegangen war, kam Big Bob zurück und schenkte mir noch einen Canadian Club ein.

»Dir ist doch klar, dass ich das Zeug nur für dich hier habe?«, sagte er. »Warum kannst du nicht Scotch trinken wie jeder andere?«

Ich sah mich im Schankraum um und versuchte, den blaugrauen Zigarettendunst zu durchdringen. Eine Gruppe älterer Männer mit flachen Arbeitermützen saß gebeugt an einem Ecktisch, spielte Domino und rauchte Selbstgedrehte, die wie alte Matratzen stanken. In eine Wolke aus Tabakqualm gehüllt, hielten sie in ihrem Spiel nur inne, um einen Schluck Whisky zu trinken, und legten mit der Fröhlichkeit frustrierter Randalierer, die auf dem Friedhof Grabsteine umstoßen, die Dominosteine auf den von Bierkränzen übersäten Tisch. Glasgow macht oft den Eindruck, Goya hätte es gemalt.

»Weiß ich auch nicht, Bob«, sagte ich traurig. »Vielleicht möchte ich mir diese Wonne noch aufsparen für ...«

»Ach du Scheiße«, fiel Bob mir ins Wort und blickte über meine Schulter. Als ich mich umdrehte, hatten vier junge Männer durch den Seiteneingang die Wirtschaft betreten.

»Tommy! Jimmy!«, rief Bob die beiden anderen Barkeeper, und die drei traten demonstrativ entschlossen hinter der Theke hervor und gingen zu den jungen Kerlen. Die Neuankömmlinge trugen grobes Arbeitszeug und Gummistiefel; einer hatte einen ärmellosen Lederüberwurf über der Jacke. Mir fiel auf, dass sie längeres Haar hatten als üblich; der Bursche mit dem Überwurf hatte dichte schwarze Locken. Sie besaßen die sonnenverbrannte Haut, die man bekommt, wenn man mehr Zeit im Freien verbringt als drinnen.

»Scheiß Pikeys«, brummte Bob, als er an mir vorbeiging. »Okay, Jungs – verpisst euch. Ich hab euch schon mal gesagt, dass ich euch hier nicht sehen will.«

»Wir wollen nur was zu trinken«, erwiderte der Lockenkopf mit einer stumpfen Miene und leichtem irischem Akzent. Offenbar war er es gewöhnt, so freundlich begrüßt zu werden. »Wir wollen nur einen trinken. Ganz in Ruhe. Kein Ärger.«

»Ihr kriegt hier aber nichts. Ihr wisst ja gar nicht, wie man in Ruhe einen trinkt. Typen von eurer Sorte haben mir den Laden schon einmal in Trümmer gelegt. Und jetzt verpisst euch.«

Einer der anderen starrte Bob ins Gesicht. An seiner angespannten Haltung war zu erkennen, dass er überlegte, ob er zuschlagen sollte oder nicht. Sein lockenköpfiger Kumpel legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte etwas zu ihm, das ich nicht verstand. Der andere entspannte sich, und die vier gingen hinaus, still, aber nicht hastig.

»Scheiß Pikeys«, wiederholte Bob, als sie fort waren.

»Zigeuner?«, fragte ich.

»Irische Kesselflicker. Sie sind zum Jahrmarkt auf dem Vinegarhill in Gallowgate hier. An der alten Essigfabrik haben sie ihr Lager aufgeschlagen.«

»Mir kamen sie ganz vernünftig vor«, sagte ich.

Big Bob verschränkte seine Popeye-Unterarme vor seiner massigen Brust. »Aye, so kommen sie einem jetzt vor. Aber wehe, wenn die ein paar getrunken haben. Dann drehen die durch. Wenn ich die hier saufen lasse, kann ich um Mitternacht die Möbel aufsammeln. Die taugen dann nur noch als Feuerholz. Saufen und prügeln, das ist alles, was diese Dreckskerle können.«

»Ja, saufen und prügeln«, wiederholte ich nachdenklich, während ich zu ergründen versuchte, inwiefern dieser Umstand sie vom normalen Glasgower Kneipengänger unterschied. »Ist schon komisch«, sagte ich, »gestern Nacht war ich bei einem Pikey-Kampf.«

»Tatsächlich? Ich wette, da hat’s Blut und Rotz gespritzt. Die sind irre, diese Arschlöcher.« Bob schüttelte den Kopf auf eine Art, die mich an die merkwürdige Ehrfurcht erinnerte, mit der Sneddon über seine kesselflickenden Faustkämpfer gesprochen hatte.

***

Gegen zehn war ich wieder in meiner Wohnung. Als ich an Fiona Whites Tür vorbeikam, hörte ich, wie sie den Fernseher ausmachte. Ich hatte den Apparat vor einem halben Jahr gekauft, als mein Einkommen eines seiner sporadisch auftretenden Hochs durchlief. Unter dem Vorwand, das Gerät stehe in ihrem Wohnzimmer besser, weil dort mehr Platz sei, hatte ich es in ihrer Wohnung untergestellt. In Wirklichkeit hatte ich kein allzu großes Interesse am Fernsehen; für mich war nicht ersichtlich, wie es das Radio ersetzen sollte. Zu den größten Enttäuschungen meines Lebens gehörte der Anblick des Schauspielers Valentine Dyall im Fernsehen. Das Gesicht hinter der Stimme des Mannes in Schwarz aus der Radioserie Appointment with Fear passte eher zu einem missgelaunten Bankdirektor.

Ich hatte mit Mrs. White abgemacht, dass sie und ihre Töchter den Apparat nach Belieben benutzen konnten, dass ich mir aber jederzeit etwas anschauen durfte, wenn ich den Wunsch hatte. Mrs. White nutzte den Fernseher für sich und die Mädchen, hatte es sich aber zur Gewohnheit gemacht, das Gerät abzuschalten, wenn ich in meiner Wohnung war. Als ich ihr sagte, sie könne so viel fernsehen, wie sie wolle, hatte sie entgegnet, sie mache sich Sorgen, »die Röhre könne sich abnutzen«. In Wirklichkeit – und das wusste ich – wollte sie nicht das Gefühl haben, mir etwas schuldig zu sein. Diese Zugbrücke hatte sie hochgezogen, lange bevor ich sie kennenlernte. Fiona White war eine attraktive, noch immer junge Frau, aber ich kann mich nicht erinnern, sie jemals lächeln gesehen zu haben.

Ich ging hinauf in meine Wohnung und hörte mir ein Weilchen den Overseas Service an; dann schaltete ich auf Lokalradio um. Ein Beitrag beschäftigte sich mit dem bevorstehenden Kampf zwischen Bobby Kirkcaldy und Jan Schmidtke. In der Sportgeschichte Glasgows war kaum einem Kampf so sehr entgegengefiebert worden, obwohl das Ergebnis schon festzustehen schien: Der deutsche Puncher Schmidtke galt dem Techniker Kirkcaldy von vornherein als unterlegen.

Ich grinste zufrieden, dass ich mir doch noch eine Eintrittskarte zu dem Kampf hatte verschaffen können. Das Grinsen verblasste allerdings, als meine Gedanken zu Willie Sneddon und Jonny Cohen schweiften, die immer höher hinauswollten. Mit einem Anteil an dem Boxer Bobby Kirkcaldy dehnten sie ihren Einfluss über Glasgows Grenzen hinweg aus. Allmählich wurde mir unwohl bei dem Gedanken, in die Schiebungen und trüben Geschäfte hineingezogen zu werden, die sich hinter den Kulissen eines Sportereignisses von nationaler Bedeutung abspielten.

Andererseits waren trübe Geschäfte genau meine Branche.

***

In diesem Sommer versuchte ich mich und mein verkorkstes Leben in den Griff zu bekommen. Ich konnte mir denken, wie die meisten Leute so über mich redeten: Guck mal, da ist Lennox. Ist ganz okay, der Bursche, aber völlig verkorkst. Deshalb hatte ich mich in den vergangenen zwölf Monaten angestrengt, mein Leben sozusagen zu entkorksen. Ich verfolgte ein ehrgeiziges Ziel: Ich wollte eines Morgens beim Rasieren in den Spiegel blicken können, ohne den Kerl zu verabscheuen, der mir entgegenschaute.

Die Wahrheit ist, dass ich ein gescheiter und begeisterungsfähiger kanadischer Durchschnittsjunge gewesen war, der am Ufer des Kennebecasis aufgewachsen war, mit reichen Eltern, die ihn auf das elitäre Rothesay Collegiate College geschickt hatten. Daran war überhaupt nichts verkorkst. Dann aber beschloss ein kleiner böhmischer Gefreiter, nicht nur meine Welt völlig umzukrempeln, und ich fand mich als Offizier in der 1. Kanadischen Armee wieder, viertausend Meilen von zu Hause und bis zu den Knien in Schlamm und Blut. Die 1. Kanadische – oder wenigstens die Führung der 1. Kanadischen – war Feuer und Flamme, wenn es darum ging, meine Landsleute durch den Fleischwolf zu drehen. Dieppe, Sizilien, Normandie – wo immer eine Party stattfand, bei der moderne Waffentechnik menschliches Fleisch in Fetzen riss, standen wir auf der Gästeliste meistens ganz oben. Mein kleiner Ausflug begann auf Sizilien und ging durch Italien und Holland nach Deutschland. Irgendwann auf meiner großen Europareise begab es sich, dass auch der Junge vom Kennebecasis zum Kriegsopfer wurde.

Der Mann, zu dem ich im Krieg geworden war, passte jedoch genau hierher. Hierher nach Glasgow, wo ich zum ersten Mal den Drei Königen begegnet war, eine Schiffskarte nach Neuschottland in der Hand und in dem schäbigen Anzug, den man mir bei der Entlassung gegeben hatte und in dem ich mich sogar als Leiche geschämt hätte.

Der Irrglaube, alle Gangster wären gleich, ist weit verbreitet. Oder dass alle Bullen gleich wären. Einige Leute glauben sogar – manchmal nicht ganz ohne Grund –, dass alle Gangster und Bullen gleich wären. In Wirklichkeit bildet die Unterwelt eine Gesellschaft wie jede andere mit der gleichen Bandbreite und Vielfalt an Persönlichkeiten und Charakteren, wie man sie in sämtlichen anderen Lebensbereichen auch findet. Man kann nicht einmal sagen, die Unterwelt sei in Unredlichkeit oder Unmoral vereint. Einige Schurken folgen einem sehr strengen Ehrenkodex, andere nicht.

Die Drei Könige waren ein gutes Beispiel. Wenn in Glasgow etwas geschah, ohne dass Willie Sneddon, Jonny Cohen oder Hammer Murphy dahintersteckte, lohnte es sich nicht, dahinterzustecken. 1948 hatten sich die drei führenden Gangsterbosse von Glasgow auf zivilisierte Weise in der eleganten Regency Oyster Bar zum Mittagessen zusammengesetzt und die Zukunft besprochen. Als sie schließlich die Rechnung gleichmäßig unter sich aufteilten, hatten sie mit Glasgow das Gleiche getan.

Doch was diesem Mittagessen vorausgegangen war, hatte nichts Elegantes oder Zivilisiertes an sich gehabt. Ein erbitterter Bandenkrieg mit Sneddon und Cohen auf der einen und Murphy auf der anderen Seite hatte sie allesamt an den Rand der gegenseitigen Vernichtung gebracht. Und das erste Opfer des Krieges war der Profit gewesen. Als Sneddon, Cohen und Murphy aus der Tür des Regency traten, hatte eine Krönung stattgefunden: Aus drei Bandenchefs waren drei Verbrecherkönige geworden.

Doch wie ich schon sagte, ist niemand gleich, und die Drei Könige waren grundverschieden. Willie Sneddon war ein wirklich übler Mistkerl, verschlagen und boshaft, ein harter Bursche aus Gorbals, der sich an die Spitze geraubt, gemordet und gefoltert hatte. Aber er war clever und hatte sogar Feingefühl, wenn es darauf ankam.

Mit Hammer Murphy brachte man Feingefühl genauso wenig in Verbindung wie Kamele mit der Antarktis. Michael Murphy hatte sich den Beinamen »Hammer« eingehandelt, als er den Schädel des rivalisierenden Gangsterbosses Paul Cochrane mit einem bleibeschwerten Vorschlaghammer zu Brei geschlagen hatte, vor den versammelten Mitgliedern beider Banden. Murphy war ein Mann mit begrenztem Verstand, aber seine Brutalität war so wahrhaftig, beeindruckend und gewaltig wie der Groll, den er immer und überall mit sich herumschleppte. Seinen neuen Spitznamen hatte er begeistert angenommen, denn er war bekannt dafür, die Knie, Ellbogen und Schädel seiner Opfer mit dem Hammer zu bearbeiten, wann immer sich die Gelegenheit ergab. Ein Markenzeichen, hatte er mir einmal anvertraut, sei immer eine gute Sache.

Jonny Cohen, der dritte König, bot das perfekte Beispiel für die Vielfalt an Persönlichkeiten und Phänotypen in der Unterwelt. Cohen, wegen seines attraktiven Äußeren als »Schöner Jonny« bekannt, war ein anständiger Kerl und treu sorgender Ehemann und Vater, der ein ruhiges Leben in Newton Mearns führte – dem Tel Aviv am Clyde, wie man es in Glasgow nannte. Zumindest war er ein anständiger Kerl mit ruhigem Leben, wenn er mal gerade keine Bank überfiel, einen Juwelenraub plante, illegale Wetten betrieb und was sonst noch alles. Wenn man behauptete, dass Jonny im Laufe seines Lebens einige Seelen zu Gott befohlen habe, sprach man keine Unwahrheit. Aber besagte Seelen waren ausnahmslos Konkurrenten oder aktive Mitspieler um den großen Pokal von Glasgow gewesen. Keine »Zivilisten«. Ich mochte Jonny. Dafür hatte ich einen guten Grund: Er hatte mir den Hals gerettet. Als ich in meinem Armee-Entlassungsanzug in Glasgow gestanden hatte, war es Jonny gewesen, der als Erster angeregt hatte, das Triumvirat könne sich meine Fähigkeiten zunutze machen.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich wusste ganz genau, mit wem ich mich einließ. Und mir war klar gewesen, dass einige der Nachforschungen, die ich für die Drei Könige anstellen musste, mich dicht an – oft auch hinter – die verschwommene Grenze zwischen dem Legalen und Illegalen führen würden. Ich war in manche schmutzige und unangenehme Geschichte verwickelt, und mit der Zeit kam es mir immer mehr so vor, als verwandelte ich mich in eine Persönlichkeit, die ich nicht leiden konnte. Deshalb hatte ich in den letzten zwölf, dreizehn Monaten wirkliche Anstrengungen unternommen, ein anständiges Leben zu führen. Das bedeutete vor allem, mit den Drei Königen weniger zu tun zu haben. Stattdessen hatte ich gute, ehrliche Arbeit für die menschliche Gemeinschaft verrichtet, hauptsächlich, indem ich untreue Ehegatten in schmutzigen Hotels beobachtete, damit die Gattinnen die Scheidung durchbekamen.

Doch die beiden Fälle, an denen ich jetzt arbeitete, drohten mich in die heimelige Umarmung der gefährlichsten Männer Glasgows zurückzuziehen.

Die Bruderschaft der Kriminellen zeichnet vor allem eines aus: Sie hält sich nicht an die Ladenöffnungszeiten. Erpressung, Nötigung, Rauschgifthandel, Raubüberfälle und Kuppelei gewöhnen einem so etwas ab, und der Durchschnittsgangster ist ein Morgenmuffel. Daher beschloss ich, bis zum kommenden Nachmittag zu warten, ehe ich Jonny Cohen zu Hause aufsuchte, auch wenn ich wusste, dass er von allen Königen noch den normalsten Tagesablauf hatte. Ich rief ihn nach dem Abendessen an, und wir verabredeten uns bequemerweise für fünf Uhr nachmittags in den Pacific Club.

***

Ich stand vor dem Pacific Club und suchte nach dem Glamour. Glamour ist eine komische Sache. Das Wort an sich ist so schottisch, wie es nur geht, und bezeichnet einen Zauber, der über jemanden geworfen wird, um ihn gefangen zu nehmen. Eigentümlicherweise hatten die Schotten das Wort zwar erfunden, standen mit der Umsetzung aber auf Kriegsfuß. Wann immer sie versuchten, Glamour zu erzielen, lief alles total aus dem Ruder. Nein, das stimmt nicht ganz. Es gab Ausnahmen: Sheila Gainsborough besaß körbeweise Glamour, ganz natürlich und mühelos. Eine seltene Errungenschaft, wenn man ihre Herkunft bedachte.

Der Pacific Club wollte glamourös sein, versagte aber auf der ganzen Linie. Er setzte die Sache so gründlich in den Sand, dass sogar Neville Chamberlain sich wegen des Münchner Abkommens mit Hitler nicht mehr ganz so mies gefühlt hätte. Der Pacific Club befand sich in Erdgeschoss und Keller eines rußgeschwärzten Hauses auf der Broomielaw am Nordufer des Clyde, wo der Fluss das Stadtzentrum teilt. Selbst bei Tag wirkte das Haus finster. Es sah aus, als wäre es unter das Stahlgerüst der Eisenbahnbrücke gequetscht worden, die den Fluss überspannt.

Die Sonne knallte noch vom Himmel, als ich dort ankam, und es war eine Wohltat, die klamme Kühle des Clubs zu betreten. Es war, als käme man in eine unterirdische Höhle.

Offiziell war das Pacific ein Privatclub, der nur Mitgliedern offenstand. Das war aber nur ein juristischer Winkelzug des Schönen Jonny, um die Ausschankbestimmungen zu umgehen. Wie alle Nachtetablissements sah der Pacific Club bei Tag ziemlich deprimierend aus. Wie ein Ferienort an der Küste außerhalb der Saison. Die Luft im Club war sauber, aber alles dünstete kalten Zigarettengeruch aus. Es gab zwei Dutzend Tische, auf denen noch die Stühle umgekehrt standen, eine kleine Bühne und in der Ecke eine Theke. Das seefahrerische Motiv bestand hauptsächlich aus Rettungsringen an den Wänden, die mit SS PACIFIC CLUB beschriftet waren, und einem Stück Fischernetz, das halbherzig arrangiert über der Bühne hing. Über der kleinen gebogenen Theke verkündete ein aus Treibholz zusammengezimmertes Schild, dass man sich in der HULA BAR HAWAII befinde. Auch dort hing ein Stück Fischernetz, mit Krabbenpanzern besetzt. Vielleicht liegt es an mir, aber ich vermochte mir innerhalb des bekannten Universums – und auch mehrerer Paralleluniversen – nichts vorzustellen, das von einer sonnenüberfluteten tropischen Insel in azurblauer See weiter entfernt sein konnte als die Broomielaw in Glasgow.

Andererseits musste ich einräumen, dass man im Pacific Club wahrscheinlich genauso gut Krabben fangen konnte wie sonst wo.

Ich kam um zehn vor fünf an, als das Personal eintraf, um die Stühle von den Tischen zu nehmen und sich auf einen langen Abend vorzubereiten, erfüllt von zu teuren Drinks, leicht bekleideten Mädchen und mittelmäßigem Jazz. Der Schöne Jonny war bereits da. Mit seinen makellosen Zähnen über dem Cary-Grant-Spalt in seinem Kinn strahlte er ein Suchscheinwerferlächeln ab. Er sah sauber, kühl und frisch aus. Ich bin selbst ganz gut auf Draht, was das Anziehen betrifft, aber ich bekam das deutliche Gefühl, Jonnys Schneider und Barbier hätten sich verschworen, mir einen Minderwertigkeitskomplex einzuimpfen. Plötzlich war ich mir schmerzlich bewusst, dass mein schweißnasses Hemd an meinem Rücken klebte. Jonnys dichtes, dunkles Haar war tadellos, und ganz kurz fragte ich mich, ob er alle zwei Wochen von Glasgow nach Hollywood flog, um es sich nachschneiden zu lassen. Ich beschloss, fürs Erste den Hut aufzubehalten.

»›Steht’s noch um Schottland so, Lennox?‹« Er reichte mir die Hand, und ich schüttelte sie.

»Falsche Figur.«

»Was?«

»Sie haben die falsche Figur aus Macbeth. MacDuff fragt Rosse: ›Steht’s noch um Schottland so?‹ Die Figur des Lennox sagt zu niemandem besonders viel. Er hält nur zu seinem König und wird dafür umgebracht.«

»Gehören Sie zu der gleichen Sorte von Lennoxes? Die Frage ist aber auch, zu welchem König Sie halten.« Jonny grinste, ohne auf eine Antwort zu warten. »Wissen Sie, was ich an Ihnen mag, Lennox? Ein Gespräch mit Ihnen bildet immer.«

»Das liegt am Umgang, den ich pflege. Ich habe mir ein paar schöne Stunden mit Twinkletoes McBride gemacht. Wenn wir zusammen sind, konnte man manchmal fast glauben, Brains Trust wäre auf Sendung. Jedenfalls, ich finde, Sie und ich haben einiges voneinander gelernt ... und übereinander. Meinen Sie nicht auch, Jonny?«

Jonnys Lächeln blieb, veränderte sich aber leicht, als zöge ein Wolkenfetzen vor der Sonne vorüber. »Was kann ich für Sie tun, Lennox?«

»Nun, ich habe im Augenblick mit zwei Fällen zu tun, und in gewisser Weise sind Sie in beide verwickelt.«

»Ach? Ich nehme an, der eine ist Bobby Kirkcaldy.«

»Willie Sneddon hat mich gebeten, mit Kirkcaldy zu sprechen. Wie es aussieht, versucht jemand, Ihrem Boxer Angst zu machen.«

Ein Angestellter begann Staub zu saugen, und Jonny verzog das Gesicht bei dem Lärm. Er winkte mir, ihm zu folgen, und wir setzten uns an einen Tisch im hinteren Teil des Clubs, auf einer Estrade, von der man einen guten Blick auf die Bühne hatte. Es war eigenartig, den Schönen Jonny Cohen hier zu sehen; er wirkte fehl am Platze, was wirklich seltsam war, weil ihm der Laden schließlich gehörte. Hätte man ihn als Gast hier gesehen – mit seinem Aussehen, dem teuren Haarschnitt und dem eleganten Anzug –, hätte man sich gesagt: Da mischt sich einer unters gemeine Volk. Doch er war kein Gast im Pacific; er war der Eigentümer. Und Jonny, der Geschäftsmann, wusste, dass es sich nicht lohnte, guten Geschmack oder noch mehr Geld an diese Bude zu verschwenden.

Ich nahm den Hut ab und glättete meine Pherson’s-Frisur mit der flachen Hand. Der beste Schnitt für einen Shilling und sechs Pence, den man in Glasgow bekam. Der alte ’Pherson verstand seinen Job. Hollywoodqualitäten hatte die Frisur allerdings nicht.

»Augenblick.« Jonny stand auf und ging zu einem der Mädchen, die die Bar fertigmachten. Als er zurückkam und sich wieder setzte, traf mich erneut sein Suchscheinwerferlächeln. »Ich hab da was für Sie.«

Das Mädchen brachte eine Flasche und zwei Gläser.

»Danke, Fran«, sagte Jonny, nahm ihr die Flasche weg und hielt sie mir hin, in beide Hände gestützt, als reichte er mir eine Auszeichnung.

»Aus Bardstown in Kentucky. Heaven Hill Bourbon. Ich weiß, dass Ihnen Roggenwhisky lieber ist als Scotch. Nur zu, probieren Sie.« Er schenkte mir ein Glas ein, und ich nahm einen Schluck.

»Perfekt ...«, sagte ich. Und ich musste nicht mal lügen.

»Sie wissen, dass Sneddon und ich einen Anteil an Kirkcaldy besitzen?«

»Ja. Murphy nicht?«

Jonny schüttelte den Kopf, als hätte ich ihm nahegelegt, mir den Körper seiner Schwester zu verkaufen. »Wohl kaum. Und es wäre am besten, wenn er nichts von der ganzen Sache erfährt. Er jammert ständig, wir würden ihn ausschließen. Tja, diesmal stimmt es sogar. Murphy würde sich in alles einmischen wollen, und an Kirkcaldy sind Leute beteiligt, die eine Meile weit wegrennen würden, wenn sie Murphy nur zu Gesicht bekämen.«

»Das kann ich gut verstehen«, sagte ich.

»Sneddon hat sich in den Kopf gesetzt, dass jemand es auf Kirkcaldy abgesehen hat«, sagte Jonny. »Irgendwas stimmt da nicht, Lennox. Das ist nicht bloß ein bisschen Angsteinjagen. Dieser ganze Mist ... Henkerschlingen auf der Schwelle und so was.«

»Henkerschlingen?« Ich stellte mein Glas ab. »Von Henkerschlingen hat Sneddon nichts gesagt. Er hat mir erzählt, Kirkcaldy wäre Farbe übers Auto gegossen worden, und sie hätten ihm einen toten Vogel durch den Briefkastenschlitz geschoben.«

»Ja«, sagte Jonny, »das auch. Aber ihm hat auch jemand eine Henkerschlinge auf die Türschwelle gelegt. Und hat Sneddon Ihnen gesagt, mit welcher Farbe das Auto begossen wurde?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Rot. Blutrot. Und der tote Vogel war nicht bloß ein Spatz oder so etwas. Es war eine Taube. Eine weiße Taube. Also wirklich, wer macht denn so einen kranken Scheiß?«

»Alles zusammengenommen sieht es aus, als würde da jemand Kirkcaldy mit dem Tod bedrohen«, entgegnete ich. »Ich könnte mir vorstellen, dass jemand ihn warnt, den Kampf zu gewinnen.«

»Nein, irgendwas daran ist nicht koscher«, sagte Jonny. »Ich war es, der Sneddon vorgeschlagen hat, Sie auf die Sache anzusetzen. Es steckt mehr dahinter als ein halbherziger Versuch, einen Boxkampf zu manipulieren. Wissen Sie, was ich meine?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich ermittle in sämtlichen Richtungen, wie es in den Polizeifilmen immer so schön heißt.«

»Zwei, sagten Sie.«

»Bitte?«

»Sie sagten, Sie sind mit zwei Fällen beschäftigt, in die ich irgendwie verwickelt sein soll.«

»Ach so, ja. Das heißt, weniger Sie persönlich als der Club hier«, sagte ich und blickte mich um. »Sie kennen Sheila Gainsborough, die Sängerin?«

»Klar. Ein Mädchen aus Glasgow macht ihr Glück. Nette Singstimme.«

»Und die nötige Lunge«, erwiderte ich. »Jedenfalls, ihr Bruder ist verschwunden.«

»Ach ja. Sammy Gainsborough.«

»Sammy Pollock. Gainsborough ist Sheilas Künstlername. Sie hat ihren Namen jetzt zwar auf Gainsborough ändern lassen, aber früher hieß sie Pollock. Ihr Bruder ist Sammy Pollock.«

»Dann habe ich Neuigkeiten für Sie. Er nennt sich jetzt ebenfalls Gainsborough. Jedenfalls, wenn er auftritt. Will wohl ein Stück auf Schwesterchens Trittbrett mitfahren.«

»Sie kennen ihn?«

»Sicher. Er hat hier ein paar Mal gesungen. War aber nichts Berühmtes. Regelmäßig wurde er hier nicht engagiert. Seine Stimme ist okay, aber mit seiner Schwester kann er nicht mithalten.«

»Wann hat er zuletzt hier gesungen?«

»Vor ungefähr drei Wochen.« Jonny zog ein Zigarettenetui aus der Tasche und bot mir eine Kippe an. Wir gaben uns jeder selbst Feuer. »Sammy sprang für jemanden ein, der in letzter Minute abgesagt hatte. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen, auch nicht als Gast.«

»War er Stammgast?«

»Kann man so sagen. Deshalb konnten wir ihn auch als Ersatzmann einspringen lassen.«

»Wussten Sie, dass er mit Jimmy Costellos Sohn zu tun hatte?«

»Paul Costello?« Jonny runzelte die Stirn. »Nein, das wusste ich nicht. Paul ist ein schmieriger kleiner Scheißer. Jetzt, wo Sie’s erwähnen ... ein paar Mal war er hier im Club. Ich hätte ihn aber nicht mit Jimmy in Verbindung gebracht. Ich glaube nicht, dass ich sie jemals zusammen gesehen habe. Jedenfalls nicht hier. Glauben Sie, der junge Costello hat etwas mit Sammy Gainsboroughs Verschwinden zu tun?«

»Ich bin mir nicht sicher. Er sagt, er wüsste nicht mal, dass Sammy vermisst wird. Vielleicht wusste er es wirklich nicht. Möglich, dass Sammy auf Sauftour ist und in ein paar Tagen wieder auftaucht.«

»Aber wenn er wirklich verschwunden ist, würde ich Costello genau unter die Lupe nehmen. Wenn er seinem Alten auch nur ein bisschen gleicht, ist er ein krummer kleiner Dreckskerl, der aus allem, was ihm in die Finger kommt, Geld zu quetschen versucht.«

»Ich werde daran denken. Wie gut kennen Sie Costello? Costello senior, meine ich.«

»Besonders viel hatte ich nicht mit ihm zu tun. Er hat eine Kneipe im East End und betreibt Glücksspiel. Er zahlt Hammer Murphy einen Anteil, und Murphy fordert ab und zu Gefälligkeiten von ihm ein. Borgt sich Leute und so was. Murphy beherrscht sein Revier, als wäre es ein Königreich. Oder ein Lehensgut. Costello tut, was ihm gesagt wird, bezahlt, was man von ihm verlangt, und darf tun, was er will, solange Murphy über alles im Bilde ist.«

»Das ist so ziemlich genau das, was ich dachte. Und Costello junior lernt das Geschäft von seinem alten Herrn?«

»Costello hat zwei Söhne, Paul und seinen älteren Bruder Michael. Ich glaube nicht, dass Costello die beiden besonders mag. Paul ist eine Niete, aber Michael ist noch schlimmer. Er hat sich für seinen Alten als wirkliche Enttäuschung entpuppt.«

»Ach?«

»Ja. Stellen Sie sich mal die Schande vor, wenn Ihr Sohn ein ehrlicher Mensch wird, während Sie Ihr Leben dem Verbrechen gewidmet haben. Muss ein schwerer Schlag für Costello gewesen sein, als die Frucht seiner Lenden sich als ehrbar erwies. Michael hat sogar die Priesterschaft in Erwägung gezogen, erzählt man sich, ist dann aber nach Edinburgh gezogen und arbeitet jetzt im öffentlichen Dienst.«

»Scheiße.« Mein Tonfall und mein Gesichtsausdruck zeigten mein Mitgefühl mit Vater und Sohn. »Im öffentlichen Dienst in Edinburgh. Das hat keiner verdient. Kennen Sie einen Franzosen namens Barnier?«, fragte ich.

»Alain Barnier? Sicher. Was hat er mit der Sache zu tun?«

»Sheila Gainsborough zufolge gehörte er zum Dunstkreis von Sammy Pollock.«

Jonny lächelte. »Alain Barnier gehört zu niemandes Dunstkreis. Er hat seinen eigenen Dunstkreis. Er ist ein raffinierter Hurensohn.«

»Zu wem gehört er?«

»Zu keinem.«

»Kommen Sie, Jonny. Jeder, der in dieser Stadt etwas laufen hat, gehört zu Ihnen, Murphy oder Sneddon.«

»Barniers Geschäfte sind weitgehend legal. Sicher, er hat bestimmt ein paar nette Nebeneinkünfte, aber nichts, was uns interessieren würde. Ich habe ab und zu geschäftlich mit ihm zu tun.«

»Was für Geschäfte sind das? In welcher Branche ist er tätig?«

»Offiziell ist er Importeur. Er führt hauptsächlich Weine und Spirituosen ein. Außerdem importiert er Waren aus Fernost: Möbel, Kunstgegenstände und so einen Mist. Er lebt seit ein paar Jahren hier und beliefert ein paar von den teureren Restaurants der Stadt. Auch in Edinburgh. Aber wenn Sie etwas anderes brauchen, kann er es Ihnen wahrscheinlich auch besorgen.« Jonny schenkte uns nach und neigte noch einmal das Etikett der Heaven-Hill-Flasche in meine Richtung. »Barnier ist meine Quelle für dieses Zeug. Cognac liefert er auch.«

»Er macht dem Zoll nur ungern Mühe, was?«

»Ja, er ist da sehr rücksichtsvoll. Erspart unserem überlasteten öffentlichen Dienst eine Menge Papierkram. Aber das Zeug, das er schmuggelt, ist immer von hoher Qualität, das muss man ihm lassen. So was finden Sie nicht auf Paddy’s Market. Aber so ganz gut läuft es für ihn wohl nicht mehr. Das Ende der Rationierung ist schlecht fürs Geschäft.«

»Was ist mit Zigaretten? Schmuggelt er die auch? Teure französische Marken?«

Jonny zuckte mit den Schultern. »Glaub ich nicht. Aber möglich wär’s.«

»Haben Sie je vom Poppy Club gehört, Jonny? Es könnte sein, dass er irgendwie mit Barnier zu tun hat. Auf jeden Fall hat er etwas mit Sammy Pollock zu tun.«

»Poppy Club?«

»Im Telefonbuch steht er nicht. Vielleicht ein Laden ohne Lizenz.«

»Nie davon gehört, Lennox.« Mittlerweile schenkte er den dritten Bourbon ein, und ich begann, innerlich zu glühen. Ich sah mich noch einmal im Pacific Club um, aber die Glut sprang nicht über; die Bude sah immer noch deprimierend aus.

»Wo könnte ich Barnier finden?«, fragte ich.

»Er kommt hierher, wenn wir guten Jazz haben. Freitags. Aber nicht jeden Freitag. Am besten gehen Sie zu ihm. Er hat flussabwärts ein Büro. Na ja, eher einen Schuppen. In der Zollfreizone.«

»Befreit er da seine Waren aus der Gefangenschaft?«

Jonny zuckte die Achseln. »Was weiß ich. Wenn, dann läuft es über Bestechung. Der gute alte braune Umschlag an einen Wachmann, Bullen oder Zöllner. Wie gesagt, Barnier ist im eigentlichen Sinne kein Ganove. Er segelt nur dicht am Wind, was das Gesetz angeht. Sie beide müssten gut miteinander auskommen.«

»Dann will ich mal gehen«, sagte ich und leerte das Glas. »Danke für den Whisky.«

Jonny brachte mich zur Tür. Nach dem Halbdunkel im Club und dem Bourbon blinzelten wir einen Moment lang in das grelle Sonnenlicht.

Jonny beschirmte seine Augen mit der Hand. »Lennox?«

»Ja?«

»Dieser andere Fall, Sammy Pollock. Mir ist klar, dass Sie ihn auch verfolgen müssen, aber lassen Sie sich davon nicht ablenken, verstanden? Sie müssen zuallererst herausfinden, was bei Bobby Kirkcaldy los ist. Sneddon hat schon Ameisen im Arsch. Der Kampf steigt in zwei Wochen. Und wie ich schon sagte – ich glaube, an der Sache stinkt irgendwas zum Himmel.«

»Ich fahre heute Abend zu ihm. Noch mal danke für den Bourbon.«

***

Jonny hatte natürlich recht gehabt. Wann immer ich an den Pollock-Fall dachte, roch ich Kummer; wenn ich an den Kirkcaldy-Fall dachte, roch ich Geld. Von Kirkcaldy hing eine Menge ab, und ich vermutete, dass Jonny Cohen und Willie Sneddon sich in großer Bonus-Laune zeigen würden, wenn ich die Sache für sie in Ordnung brachte. Und mehr oder weniger hatte ich die Erkundigungen angestellt, die ich Sheila Gainsborough versprochen hatte. Trotzdem war an dieser Sache mit Sammy irgendetwas, das mir Magenschmerzen bereitete. Außerdem hatte ich mein Französisch schon lange nicht mehr anwenden können.