9.

Es gibt Menschen, die die Unwägbarkeiten des Lebens genießen, dieses Niemals-wirklich-wissen-können, was hinter der nächsten Ecke wartet. Man wacht am Morgen auf und nimmt den Tag in Angriff, und zum Glück ist man blind für die Dinge, die sich in den nächsten vierundzwanzig Stunden in Müll verwandeln können. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, mich rasierte und wusch, blieb mir keine Zeit zu überlegen, um was für eine Sache es sich handeln könnte, die groß genug war, transatlantisches Interesse zu wecken, denn andere Entwicklungen nahmen meine Aufmerksamkeit in Anspruch.

Ich erfuhr die Neuigkeit wie jeder andere Glasgower Bürger: aus der Schlagzeile im Glasgow Herald.

FESTNAHME IM MORD AN GLASGOWER BUCHMACHER

Auf dem Weg ins Büro kaufte ich mir die Zeitung und ging auf einen Kaffee in das übliche Lokal auf der Argyle Street, um sie zu lesen. Der Artikel unter der Schlagzeile besagte, dass Tommy »Gun« Furie, ein Gelegenheitsboxer, wegen Mordes an James MacFarlane festgenommen worden sei, einem führenden Glasgower Wettbüroinhaber, den man verdächtigt hatte, Verbindungen zur Glasgower Unterwelt zu besitzen. Als ich weiterlas, erfuhr ich, dass Furie einer der Kesselflicker war, die auf dem Vinegarhill kampierten.

Furie, so berichtete der Artikel, sei ein irischer Kesselflicker. Ein »Pikey«, so hätte Sneddon ihn genannt, ein irischer Zigeuner. Die Wahrscheinlichkeit, dass Marilyn Monroe sich von Joe DiMaggio trennte, nach Glasgow kam und in Sünde mit mir lebte, war größer als Furies Chance auf einen fairen Prozess. Die Glasgower Kripo hatte den Reportern mitgeteilt, dass Furie sich zwar kooperativ zeige, dass man trotzdem noch anderen Spuren nachgehe. Als ich diese Zeilen las, sah ich das Bild vor mir, wie Marilyn in der Waschküche einer Glasgower Mietskaserne meine Unterhosen schrubbte. So viel dazu.

Ich fragte mich, wie Lorna diese Nachricht aufnahm – und ob die Polizei so weit mitgedacht hatte, Lorna zu informieren, ehe sie es aus der Zeitung erfuhr. Ich trank meinen Kaffee aus und ging zum Büro. Das Glasgower Wetter war wieder in den Normalzustand zurückkehrt, und vom stahlgrauen Himmel tröpfelte ein schmieriger Nieselregen. Als ich in mein Büro kam, rief ich bei Lorna an, aber niemand hob ab. Ich legte auf und beschloss, am Abend bei ihr vorbeizuschauen. Seit ich sie zuletzt gesehen hatte, waren einige Tage vergangen, aber ich hatte sie täglich angerufen. Jedes Mal war sie kühler gewesen als vorher. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht häufiger bei ihr gewesen war, aber mich hatte vieles abgelenkt. Und was sie von mir wollte, konnte ich ihr ohnehin nicht geben.

Nachdem die kleine Ablenkung durch Small Changes Ermordung ausgeräumt war, beschloss ich, die Frage, was er mit Bobby Kirkcaldy gemauschelt hatte, ganz fallen zu lassen. Ich musste nun vor allem herausfinden, wer Kirkcaldy vor dem Kampf beeinflussen wollte. Ich wusste, dass es niemand aus dem Schmidtke-Lager war; vor Ende der Woche trafen die Deutschen nicht ein. Das bedeutete natürlich nicht, dass sie keine hiesigen Helfer engagiert hatten, aber mir schien es nicht sehr plausibel. Ich tippte eher darauf, dass jemand eine hohe Summe auf Kirkcaldys Niederlage gesetzt hatte. Den Rest des Tages verbrachte ich damit, von einem Wettbüro zum nächsten zu ziehen. Eine Rundreise durch die öffentlichen Toiletten Kalkuttas wäre erhebender gewesen.

Gegen Mittag war ich im East End und besuchte ein Restaurant, in dem ich noch nie gegessen hatte. Wie sich herausstellte, war man dort auf Fließexperimente spezialisiert: Der Speck, die Wurst und das gebratene Brot, die ich serviert bekam, bildeten Inseln in einem zähflüssigen Ozean. Ich beschloss, meinem Verdauungstrakt diese Attacke zu ersparen, und hielt mich an den Kaffee. Danach ging ich in eine Telefonzelle und fütterte den Apparat mit Kupfer und Messing.

Ich versuchte es wieder bei Lorna, hörte aber wieder nur das Freizeichen. Auf dem Tischchen lag ein Telefonbuch, und ich ging es durch, bis ich die Nummern der drei Hotels hatte, die vom St. Andrew’s Square zu Fuß zu erreichen waren und in der Preisklasse lagen, die die Glasgower Polizei normalerweise bezahlte. Jedes Mal bat ich, Mr. Dexter Devereaux aus Vermont in den Vereinigten Staaten sprechen zu dürfen. Drei Versuche. Ich probierte es beim Central Hotel und beim St. Enoch Station Hotel. Kein Amerikaner namens Devereaux. Wie sich herausstellte, hätte ich alphabetisch vorgehen sollen: Ich fand ihn im Alpha Hotel auf der Buchanan Street. Die Rezeption teilte mir mit, Mr. Devereaux sei geschäftlich unterwegs und werde vor dem Abend nicht zurückerwartet. Ich verneinte die Frage, ob man etwas ausrichten solle, und drückte auf die versilberte Gabel am Apparat, die die Verbindung unterbrach. Dann wählte ich Sheila Gainsboroughs Glasgower Nummer. Wieder nichts.

Mein nächster Anruf war erfolgreich – sofern man es als Erfolg bezeichnen will, mit Willie Sneddon reden zu müssen.

»Haben Sie die Zeitung gelesen?«, fragte ich.

»Hab ich.« Sneddons Stimme war klanglos. Neutral. »Scheiß-Pikeys. Den Hunden kann man keine Sekunde lang den Rücken zudrehen.«

»Tommy Gun Furie ... nach dem, was in der Zeitung steht, könnte er ein Boxer sein. Ist er Ihnen je über den Weg gelaufen?«

»Nicht dass ich wüsste. Kann sein. Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts und so ’ne Scheiße. Ich stempel denen doch nicht ihre beschissenen Versicherungskarten. Wie auch immer, dieser ganze Scheiß hat einen Scheiß mit der ganzen Scheiße zu tun. Haben Sie irgendwas über Bobby Kirkcaldy?«

Ich schwieg einen Augenblick, um mir den Ausdrucksreichtum des Englischen, wie es nur im britischen Mutterland gesprochen wurde, auf der Zunge zergehen zu lassen.

»Nein. Ich habe den Tag damit verbracht, mich bei Buchmachern umzuhören, wer gegen Bobby wettet.«

»Sagen die Ihnen denn so was?«, fragte Sneddon.

»Ich habe Ihren Namen benutzt. Hat aber nichts gebracht. Niemand scheint von irgendwelchen großen Wetten zu wissen.«

»Das heißt einen Scheiß«, sagte Sneddon. »Die richtig großen Wetten laufen nicht über diese beschissenen Straßenläden. Reden Sie mit Polen-Tony.«

»Grabowski?«, fragte ich, doch der Apparat forderte mich auf, mehr Geld in das Münztelefon zu stecken. Gleichzeitig fiel mir ein, dass man vorsichtig sein sollte mit dem, was man von einer öffentlichen Fernsprechzelle aus sagte. Ich schob zwei Dreipencestücke nach und drückte die A-Taste.

»Grabowski?«, fragte ich noch einmal. »Ich dachte, Tony hätte das Buchmachen genauso aufgegeben wie das Türenöffnen.«

»Von wegen. Er hat zwar genug verdient, um sich zur Ruhe zu setzen, aber er nimmt noch immer die eine oder andere Wette an. Wenn irgendjemand in der Stadt eine große Summe setzt, dann weiß es Polen-Tony.«

»Ich kümmere mich darum. Kann ich Twinkletoes weiter Kirkcaldys Haus bewachen lassen? Mein Mann kommt am frühen Abend.«

»Denke schon. War’s das?«

»Nein, da wäre noch etwas ...« Ich war mir nicht sicher, ob ich meinen Verdacht aussprechen sollte, aber ich fand, dass Sneddon als mein Klient das Recht hatte zu erfahren, was mir durch den Kopf ging.

»Was denn?«

»Vielleicht muss man sich darüber Gedanken machen, vielleicht auch nicht. Sie erinnern sich, wie ich Sie nach einem John Largo gefragt habe?«

»Ja. Was ist mit ihm?«

»Ich bekam gestern Abend Besuch von jemandem, den ich bei der Polizei kenne. Dieser Jemand brachte jemanden mit, einen Yank, der behauptet, Privatdetektiv aus Vermont zu sein.«

»Und?«

»Wenn der Bursche ein Privatdetektiv war, bin ich Grace Kelly. Er sagt der Polizei, wo es langgeht, nicht umgekehrt.«

»Warum erzählen Sie das mir?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob es für irgendwen wichtig ist, aber es bedeutet zweierlei: Irgendeine einflussreiche amerikanische Strafermittlungsbehörde ist in der Stadt – und wer immer John Largo ist, er ist ein großer, ein sehr großer Fisch. Und Glasgow ist ein kleiner Teich. Ihr Teich.«

»Ich verstehe. Gut, ich höre mich um. Haben Sie es Cohen und Murphy schon gesagt?«

»Nein, das mache ich noch. Und ich würde nicht allzu laut herumfragen. Was mir das eingebracht hat, wissen Sie: die Aufmerksamkeit von Elliot Ness.«

***

Nachdem ich aufgelegt hatte, fuhr ich ins East End, überquerte den Fluss und hielt mich südlich in allgemeiner Richtung von Cathcart und Newton Mearns.

An Glasgow und Schottland war eine Menge, das mich juckte wie Nesselfieber, aber die Schotten hatten auch vieles an sich, was ich mochte. Eine ihrer versöhnlichsten Eigenschaften war die Art und Weise, wie sie unterschiedliche Schattierungen des Schottentums akzeptierten. So wie es möglich war, sich irisch-amerikanisch zu nennen, gab es innerhalb Schottlands Identitäten, die einzigartig waren, aber trotzdem als Teil der schottischen Identität aufgefasst wurden: italo-schottisch oder jüdisch-schottisch, die Variante, die das absolut einzigartige kulturelle Phänomen des Bar-Mitzwa-Ceilidhs hervorgebracht hatte, wo Kippa-und-Kilt-Zwang herrschte. Nach Ende des Krieges war eine neue kaledonische Zucht entstanden: die polnischen Schotten.

Polen-Tony Grabowski war einer der Tausende polnischer Soldaten gewesen, die an der Seite der British Army oder am Himmel über England gekämpft hatten. Viele waren bei der Verteidigung eines Landes gefallen, das sie nur wenige Monate gekannt hatten. Die große Mehrheit der polnischen Streitkräfte auf den Britischen Inseln war in Schottland stationiert gewesen. Ich hatte ein Faible für die Polen: die 1. Polnische Panzerdivision war der 1. Kanadischen Armee unterstellt gewesen, und ich hatte sie im Kampf erlebt. Seitdem habe ich mich immer sehr glücklich geschätzt, auf der gleichen Seite wie sie gewesen zu sein.

Nach dem Krieg war Polen-Tony wie so viele seiner Landsleute zu dem Schluss gekommen, das Leben auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs sei vorzuziehen. Zuerst war er mit einer Aufenthaltsgenehmigung hier geblieben, dann als naturalisierter britischer Bürger. Er hatte eine Schottin geheiratet und sich in Polmadie im Süden der Stadt niedergelassen. Polmadie war ungefähr so malerisch, wie sein Name nahelegte: ein Gewirr aus Mietskasernen und öffentlich geförderten Doppelhäusern. Man darf nicht vergessen, in einer Stadt mit Bezirken wie Auchenshuggle und Roughmussel klang Polmadie absolut lyrisch. Und ein Doppelhaus ist ein Palast im Vergleich zu einem Elendsquartier in Gorbals.

Polen-Tonys Tagesbeschäftigung war Gemüsehändler. Als Pole war ihm nicht klar gewesen, dass Obst und Gemüse – solange es nicht frittiert war oder sich frittieren ließ – auf jeder Glasgower Einkaufsliste irgendwo unter »ferner liefen« standen. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb der Gemüsehandel Tonys Tagesbeschäftigung geblieben war. Denn es war seine Nachtbeschäftigung, die ihm das Geld einbrachte: Polen-Tony Grabowski öffnete Türen. Geldschranktüren. Er war ohne jeden Zweifel der beste Schränker in ganz Schottland gewesen. Einen Tresor, der ihm standgehalten hätte, gab es nicht. Als Schränker lebte man allerdings gefährlich. Man musste immer damit rechnen, den Halt zu verlieren, vom Regenrohr abzurutschen, zu fallen. Hinzu kam die Gefahr durch stillen Alarm, Nachtwächter oder Streifenbobbys mit leisen Sohlen.

Deshalb hatte Tony, als er genügend Geld zusammenhatte, um seine Familie zu versorgen, das Schränkern rechtzeitig an den Nagel gehängt und sich der Welt der welkenden Kohlköpfe und runzligen Tomaten ergeben. Nur hin und wieder organisierte Tony ein Kartenspiel oder eine Sportwette, um das Einkommen aus Erbsen und Spargel zu ergänzen.

Ich fand Polen-Tony hinter der Theke seines Ladens auf der Cathcart Road. Er war ein kleiner, stämmiger Mann mit breitem polnischen Gesicht und noch breiterem polnischen Akzent. Er wurde kahl und rasierte, was von seinem Haar übrig war. An dem dunklen Bogen, der sich von Schläfe zu Schläfe schwang, erkannte ich, dass wir schon näher an fünf Uhr waren, als ich gedacht hätte.

»Hallo, Tony ... was tut sich? Was gibt’s Neues?«

Tony lachte über das Filmzitat. Er kicherte sogar, was in schroffem Widerspruch zu seinem stämmigen, kräftigen Körper stand. Er war ein Fan von James Cagney und hatte sich bei unserer ersten Begegnung von meinem »amerikanischen« Akzent fasziniert gezeigt. Seitdem begrüßte ich ihn jedes Mal, wenn ich ihn sah, mit dem Rocky-Sullivan-Spruch aus Engel mit schmutzigen Gesichtern. Einmal hatte ich es mit Bogart aus Der Schatz der Sierra Madre versucht, war aber unter seinem missbilligenden Blick regelrecht verdorrt.

»Hallo, Lennogs. Vaz tut zich? Vaz gibt’s Neues? Ist eine Veile her, neebour.« Tonys Partytrick wirkte umso toller, weil er nicht wusste, dass es ein Partytrick war, gleichzeitig im Glasgower Dialekt und mit einem schweren polnischen Akzent zu sprechen. Wer eine neue Sprache lernt, spricht in dem Idiom, dem er ausgesetzt ist. Soweit es das Englischlernen betraf, war Tony dem linguistischen Äquivalent zu Gammastrahlung ausgesetzt worden: dem Glasgower Englisch. Tony scherzte und quatschte wie ein gebürtiger Glasgower, aber jeden führenden Konsonanten ersetzte er durch ein V oder ein Z, wenn es irgend ging. Er klang genauso komisch wie unverständlich, und mich heiterte es jedes Mal auf, wenn ich ihn reden hörte. Ich ließ es mir aber niemals anmerken.

»Hallo, Tony. Wie läuft das Geschäft?«

»Vie üblich. Kann mich nicht beschweren ... vaz vürd’s auch nützen«, antwortete Tony im üblichen Mix aus Will Fyffe und Akim Tamiroff. Vielleicht spielte auch noch ein bisschen Bela Lugosi mit hinein. »Vaz is’ los?«

»Ich versuche etwas rauszufinden.«

»Na, da zind Zie hier richtig. Ich kenne meine Zwiebeln.« Er stieß sein Mädchengekicher hervor und wies mit einer ausholenden Geste auf seine Auslagen.

Wir wurden unterbrochen von einer Frau mit Kopftuch, Haushaltskittel und verblassten Tartanbaffies, die man aus Gründen, die mein Begriffsvermögen um Lichtjahre überstieg, in Glasgow »Pantoffeln« nannte. Die Frau war irgendwo zwischen dreißig und achtzig. Glasgower übergingen in der Regel die mittleren Jahre und nahmen die Direktroute von der Jugend zur Gebrechlichkeit. Nachdem die unbestimmbar alte Frau bestellt hatte, schlug Tony eine Papiertüte auf – mit jener Theatralik, die nur Gemüsehändler und Bühnenzauberer solchen Tüten zugute kommen lassen. Er ließ die Zwiebeln hineinfallen, wirbelte aus der gleichen Bewegung heraus die Tüte herum und zack, war sie zu.

»Hier, bittschön, junge Vrau.« Strahlend reichte Tony der Frau in Hausschuhen die Tüte. Sie schlurfte aus dem Laden.

»Vaz vür Invormationen?«, fragte er, als sie weg war.

»Das ist alles streng vertraulich, Tony. Alles bleibt unter uns ... Niemand wird erfahren, dass Sie mein Gewährsmann sind. Ich muss wissen, ob jemand versucht, eine große Summe auf den Kampf zwischen Bobby Kirkcaldy und Jan Schmidtke zu setzen. Eine wirklich große Summe.« Ich verließ mich auf Tonys guten Willen. Mit Bestechung oder Drohungen kam ich hier nicht weiter: Druck auszuüben ist einfach, wenn man jemanden befragt, der arm oder feige ist.

»Oh, aye, jetzt geht es los. Alles bleibt unter uns, bei meinem schlesischen Hintern ... Zie arbeiten doch vür einen von den drei zheiß Königen, vette ich. Ver hat Zie hergeschickt? Villie Zneddun?«, fragte Tony. Mir kam es vor, als würde ich mich mit Graf MacCula unterhalten.

Ich überging die Frage. »Das ist unwichtig, Tony. Hat jemand versucht, hoch darauf zu setzen, dass Bobby Kirkcaldy verliert?«

»Nee. Das hätte ich gehört. Das hätte ich mit ein paar von den größeren Jungs ausmachen müssen.« Die Haut auf seiner Stirn warf Falten, und die Grenze seines Stirnrunzelns verriet das Gespenst eines längst verstorbenen Haaransatzes. »Varten Zie, da var vas. Ein paar kleine Scheißer ...« Tony sprach die Beleidigung eher »Zheizer« aus. »Zie varen im Zaracen’s Zord ... vor ungefähr drei Vochen. Zie machten auf dicke Maxe.«

Ich kannte das Saracen’s Sword, die Kneipe, von der Tony sprach. Er benutzte sie mehr oder weniger genauso als inoffizielles Büro wie ich das Horsehead.

»Und sie wollten Geld setzen?«

»Nee, nicht so richtig. Sie zagten, dass sie nur rausfinden vollten, vie es läuft. Das varen ein paar kleine Vische, die auf dicke Maxe machten, das zagte ich ja schon. Ich hatte den Eindruck, dass sie nicht das Geld vür einen hohen Einsatz hatten, aber erwarteten, es bald zu kriegen.«

»Von wo?«, fragte ich, und nur mit monumentaler Anstrengung widerstand ich dem Impuls, aus dem w ein v zu machen.

»Veiß der Henker, Lennogs. Ich glaube, sie haben nur Zheize gequasselt. Ja?«

»Aber sie redeten davon, gegen Bobby Kirkcaldy zu wetten?«

»Nee, das hab ich nicht gesagt. Zie zagten nicht, dass sie vetten vollten. Zie vollten nur wissen, ver eine zo große Vette annehmen vürde. Ich hab nicht zo genau auf zie geachtet, venn ich ehrlich bin. Vie gezagt, zie varen nur zwei kleine Vlaschen, die Zheize quasselten.«

»Und was haben Sie ihnen gesagt?«

»Dass ich so eine hohe Vette annehmen vürde. Die großen Jungs einzhalten vürde. Ich oder Zmall Change MacVarlane. Aber das var, bevor jemand Zmall Change den Zhädel eingezhlagen hat.«

»Small Change MacFarlane?« Ich spürte ein Prickeln auf der Kopfhaut.

»Aye. ’türlich hätt ich sie normalerweize zu Zmall Change gezhickt. Aber die einzige Vette, die Zmall Change noch annimmt, ist, wer als Nächster des Teufels Mistgabel in den Arzsh bekommt ...« Diesmal kicherte Tony nicht, er lachte kehlig.

»War die Polizei nach dem Mord bei Ihnen?«

»Die Zhmiere? Nee, die belästigen mich nicht. Zoweit die vissen, hab ich keine Vorstrafen. Zie vissen nicht mal die Hälfte von dem, vas ich gemacht hab. Und jeder veiß, dass ich jetzt ehrlich bin.«

»Und diese beiden kleinen Gauner? Wissen Sie, wer das war? Haben Sie die beiden erkannt?«

»Nee. Zwei beschissene Flash Harrys, wenn Zie mich vragen. Hab zie nicht veiter beachtet, verstehen Zie?«

»Okay. Danke, Tony.« Ich schüttelte ihm die Hand und wandte mich zum Gehen. Dann fiel mir etwas ein, und ich drehte mich wieder zu dem kleinen, lächelnden Polen um. »Was wissen Sie über Jack Collins? Bei einigen Geschäften war er Small Changes Partner.«

»Aye ... wussten Zie, dass er auch MacVarlanes Zohn war? Zein illegitimer Zohn? Zmall Change und Mamma Collins haben ein bisschen Versteck-die-kielbasa gespielt, vie vir zu Hause zu zagen pflegten.«

»War das allgemein bekannt?«

»Oh, aye. Jeder wusste das. Ich hatte aber nie vas mit dem jungen Collins zu tun.«

»Noch eine Frage. Bobby Kirkcaldy hat eine Art Aufpasser. Behauptet, sein Onkel zu sein.«

»Oh, aye ... den alten skurvysyn kenn ich gut.«

»Skurvysyn?«, fragte ich. Ich hatte mich sehr konzentriert und in jedem von Tonys Sätzen das Polnische aus dem Glasgowischen gefolgert, aber jetzt war ich überfordert.

»Aye ... skurvysyn. Zhlimmes Wort in Polnisch. Vie zagen Zie auf Englisch? Drecksack ... nein, das trifft es nicht. Arzhloch ... vielleicht. Viggser? Nein, das isses auch nicht. Hurenzohn? Zhweinehund?«

Ich hob die Hände. »Schon gut, ich hab’s begriffen, Tony. Was wissen Sie über ihn?«

»Nur dass er ein Mistkerl ist. Hat vrüher ohne Handschuhe geboggst. Hat Boggskämpfe manipuliert, indem er die Boggser einschüchtert hat. Mieser kleiner Bastard auf jeden Vall. Aber auf keinen Vall vürde er Kirkcaldys Kampf manipulieren. Venigstens nicht gegen Kirkcaldy. Er veiß, auf velcher Zeite zein Brot die Butter hat.«

»Danke, Tony. Bis demnächst.«

»Was tut sich denn so? Was gibt’s Neues? Eh, Lennogs?«

Ich ließ den strahlenden Polen hinter mir zurück. Ich war kein Stück weitergekommen, aber in dem kleinen dunklen Raum ganzen hinten in meinem Kopf spielte jemand mit dem Lichtschalter.

***

Von einer Telefonzelle aus versuchte ich wieder Lorna zu erreichen. Noch immer keine Antwort. Ich begann mir ernsthaft Sorgen zu machen und beschloss, nach Pollockshields zu fahren und nachzusehen, was los war, wie Tony sich ausgedrückt hätte. Aber erst einmal musste ich erledigen, was ich heute erledigen musste.

Ich fuhr nach Partick, parkte am Thornwood Drive und ging zum Craithie Court. Über allem lag ein angenehmes Spätnachmittagslicht, und wieder überkam mich diese widerliche Melancholie. Das Wohnheim für Junge Frauen am Craithie Court lag abseits der Thornwood auf der Kuppe eines sanften Hügels; durch einen Korridor zwischen den Sandsteinbauten hatte ich einen Blick auf die Straße, wo ein Wald aus Kränen mir das Ufer des Clyde anzeigte. Auf den Straßen parkten mehr Autos als anderswo. Seit sechs Jahren gab es Pläne für einen Tunnel, der unterhalb des Clyde hindurchführen sollte, damit man leichter von Norden nach Süden kam. Ob die hier Ansässigen großen Wert darauf legten, dass Govan am anderen Flussufer solch einfachen Zugang nach Partick erhalten sollte, war eine andere Frage.

Als ich das Wohnheim erreichte, klopfte ich an die Tür des Verwaltungsbüros. Vielleicht ist es schwer zu glauben, aber ich besaß ein paar feste, unverrückbare Moralvorstellungen und Verhaltensregeln, von denen eine besagte, niemals eine Frau zu schlagen. Die Vorsteherin, die an die Tür kam, gehörte zu den besten Argumenten für meine moralische Haltung. »Wuchtig« ist ein Wort, das man mit Frauen nicht oft in Verbindung bringt, aber an der Wohnheimvorsteherin klebte es wie Kacke am Hemdzipfel. Ich hätte eine Frau wie sie niemals geprügelt – aus Angst, sie könnte zurückschlagen. Sie trug ein dunkelgraues Kostüm aus einem Tweed, der so rau aussah, als würde irgendeine Sekte ihn zur Kasteiung benutzen.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie. Ich antwortete nicht sofort, denn ich war gebannt von dem Anblick, wie ihre Augenbrauen sich über dem Nasenrücken ineinander verflochten, und vom satten Bariton ihrer Stimme. Ich sagte der Frau, dass ich Claire Skinner suche, weil ich sie in einer geschäftlichen Angelegenheit sprechen müsse.

»Dann müssen Sie sich woanders mit ihr treffen. Hier gibt es keinen Herrenbesuch.« Solch standhafte, aber fehlgeleitete Obhut der Jungfräulichkeit ließ mich an Schlösser vor den Toren leerer Ställe denken. Ich brachte mein gesamtes Arsenal gegen die heilige Maria der Haarpracht zur Anwendung, darunter meinen nicht unbeträchtlichen, hausgemachten kanadischen Charme. Nichts bewirkte irgendetwas bei ihr, und mit wachsamer Hochmut zog sie eine Augenbraue, oder genauer gesagt, eine Hälfte ihrer Zyklopenbraue, hoch. Ich beschloss, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen, weil ich noch Plan B in der Hinterhand hatte. Ich zuckte mit den Schultern, als wäre es mir gleichgültig, würde für jemand anderen aber großen Ärger bedeuten. Dann wandte ich mich zum Gehen. Die Frau hielt mich nicht zurück. Sie hatte diesen Trick schon gesehen, wie alle anderen auch.