2.

Die Straßen, durch die ich fuhr, um zu meiner Wohnung zu gelangen, waren verlassen. Wahrscheinlich gab es Friedhöfe, auf denen es um zwei Uhr morgens lebhafter zuging als in Glasgow. Vermutlich war ich mir deshalb so sehr der Scheinwerfer im Innenspiegel bewusst. Ich war mir nicht sicher, ob der Wagen mir schon seit Pollokshields folgte; inzwischen war er auf jeden Fall lange genug hinter mir, um mich misstrauisch zu machen. Deshalb hielt ich nicht vor meiner Wohnung am Straßenrand, sondern folgte der Great Western Road und fuhr auf die Byres Road ab. Schließlich bog ich nach rechts in eine stille Wohnstraße ein, lauter Mietskasernen und Doppelhäuser aus Sandstein, die vom Ruß dunkler waren als der Nachthimmel über ihnen. Die Scheinwerfer in meinem Innenspiegel ließen sich so weit zurückfallen, wie sie konnten, ohne mich zu verlieren, aber ich folgte dennoch meinem willkürlichen Weg. Schließlich hielt ich an einer zufällig ausgesuchten Stelle, stieg aus dem Wagen, schloss die Tür ab und ging entschlossenen Schrittes zu dem Mietshaus ganz in der Nähe.

Der Wagen fuhr vorüber. Ein Austin. Ein großer. Schwarz oder dunkelgrau. Die Sorte Auto, wie die Zivilstreife sie fuhr. Ich sah einen Fahrer und einen Beifahrer, aber ich erkannte beide nicht; ich sah nur, dass einer der beiden Typen Schultern hatte, bei denen Atlas grün vor Neid geworden wäre.

Small Change MacFarlane war keiner von den ganz großen Fischen; deshalb begriff ich nicht, weshalb seine Ermordung solche Aufmerksamkeit erregte. Und ich hatte keine Ahnung, wieso die Polizei mir solche Aufmerksamkeit schenkte, obwohl ich nur am Rande mit der Sache zu tun hatte. Der Wagen bog um die Ecke. Ich hörte, wie das Synchrongetriebe knirschte, als der Austin außerhalb meines Sichtfeldes nach zweimaligem Vor- und Zurücksetzen gewendet wurde. Ich trat aus dem Dunkeln, ging zu meinem Wagen zurück, lehnte mich mit verschränkten Armen an den Kotflügel und wartete geduldig darauf, dass das Zivilbullenauto wieder um die Ecke schlich. Manchmal bin ich dreister, als gut für mich ist.

Der Austin kam zurück und fuhr neben mir an den Straßenrand. Es war ein Sheerline; eine viel zu teure Kiste für die Polizei. Etwas Gewaltiges, Dunkles faltete sich aus dem Beifahrersitz und warf im Licht der Straßenlaternen einen elefantengroßen Schatten.

»Schönen guten Abend, Mr. Lennox«, sagte Twinkletoes McBride in seinem erderschütternden Bariton und lächelte mich an. Ich richtete mich vom Kotflügel auf. Das war ja interessant.

»Twinkletoes? Was machen Sie denn hier? Ich dachte, es wäre die Polizei. Warum folgen Sie mir?«

»Das müssen Sie Mr. Sneddon fragen«, sagte er ernst. »Ich bin sicher, er kann Sie das referiern.« Twinkletoes sprach jede Silbe einzeln aus: re-fe-riern.

»Sie lesen also immer noch den Reader’s Digest«, sagte ich freundlich.

Twinkletoes strahlte. »Ich verbesser mein Sprachschatz ...« Ich versuchte mir auszumalen, wie er sein umfangreiches Vokabular nutzte, wenn er jemandem mit der Drahtschere die Zehen abtrennte. Twinkletoes war auf diese Foltermethode spezialisiert. Sie hatte ihm auch seinen Spitznamen eingebracht, der in etwa »Flinkfüßchen«, bedeutete. Sein Eppithettonn, wie er es vermutlich ausgesprochen hätte.

Ich lächelte. »Ein ausdrucksstarkes Wortgut ist ein wahrer Schatz.«

»Da ha’m Sie verdammt recht, Mr. Lennox.«

»Mr. Sneddon möchte mich also sprechen?«, fragte ich. Ich schloss den Wagen auf. »Ich fahre Ihnen nach.«

Twinkletoes’ Lächeln erlosch. Er öffnete die Tür zum Fond des Sheerlines. »Wir bringen Sie zu Ihrem Auto zurück. Nachher. Wenn’s Ihnen nich’ zu ungelegen kommt.«

»Ja, sicher, prima«, sagte ich, als würde er mir einen Gefallen tun. Allerdings wollte mir die Vorstellung nicht aus dem Kopf, dass ich nach meiner Rückkehr nicht mehr in der Lage sein könnte, an Fingern und Zehen bis zwanzig zu zählen.

***

Twinkletoes McBride mochte ein sadistischer, psychopathischer Totschläger und Folterer aus dem schlimmsten Gruselfilm sein, aber wenigstens war er ein freundlicher Kerl. Vom Fahrer des Sheerline konnte man das nicht behaupten. Er war ein dünner, magerer, fies wirkender Schlägertyp mit schlechter Haut und übermäßig eingefettetem Haar im Teddy-Boy-Schnitt. Ich hatte den Kerl schon einmal gesehen; damals hatte er neben Willie Sneddon gestanden und mich lauernd angestarrt. Dieses lauernde Starren beherrschte er so außergewöhnlich gut, dass es sogar seine Defizite in Sachen Konversation wettmachte.

Wir verließen die Stadt nach Westen, durchquerten Clydebank und nahmen die Straße nach Dumbarton. Außer unserem Austin war kein Auto zu sehen. Die hässlichen Wohnblocks wichen irgendwann offenem Land, und mir wurde ein bisschen mulmig. Wenn Twinkletoes McBride einem eine kostenlose Taxifahrt anbietet, reicht das für sich allein schon als Grund zu allergrößter Vorsicht, aber zu wissen, wer mich heute zu sich bestellte, genügte, um die unteren Teile meines Verdauungsapparats in Zuckungen zu versetzen. Twinkletoes gehörte zu Willie Sneddons Leuten. Willie Sneddon war der König der South Side – einer der sogenannten »Drei Könige«, die hinter fast jedem Verbrechen in Glasgow steckten, hinter dem zu stecken sich lohnte. Willie Sneddon bedeutete nichts Gutes.

Als wir von der Straße abbogen und über einen schmalen Feldweg holperten, ging mir auf, dass es immer übler für mich aussah. Ich ertappte mich dabei, wie ich einen Blick auf den Türgriff warf. Bei diesem Tempo konnte ich aus dem Wagen springen, ohne mir das Genick zu brechen. Doch wenn Twinkletoes und sein wortkarger Kumpan mich erwischten, würde es mich trotzdem den Hals kosten. Willie Sneddon gehörte zu der Sorte Gastgeber, die es einem schwer übel nahmen, wenn man ihre Einladung ausschlug. Wenn ich erst einmal rannte, durfte ich nicht mehr stehen bleiben, ehe ich in Kanada war, wenn ich an meinen Zähnen und Zehen hing, von meinem Leben ganz zu schweigen.

Doch je länger wir über die Schlaglöcher holperten, desto mehr beruhigte ich mich wieder. Eigentlich war es eher unwahrscheinlich, dass Sneddon Unerfreuliches mit mir im Sinn hatte. Wahrscheinlich musste ich bloß seine Gesellschaft ertragen, die für sich genommen aber schon meine Quote an Unerfreulichkeiten für diesen Monat vollmachte. Aber ich hatte nichts getan, was Sneddon oder einen der beiden anderen Könige verärgert haben konnte. Ehrlich gesagt hatte ich im vergangenen Jahr versucht, so wenig für die Drei Könige zu arbeiten wie möglich.

Ich beschloss, auf der Hut zu sein und die Dinge auf mich zukommen zu lassen.

Der Feldweg endete, ganz wie man es erwarten würde, an einem Bauernhof, einem größeren Anwesen. Das Gutshaus war aus Granit erbaut und im viktorianischen Stil gehalten, was darauf hindeutet, dass hier ein Schollenbrecher der gehobenen Klasse wohnte. Neben dem Haus stand ein großer Stall aus Stein, der schwerlich für seinen ursprünglichen Zweck genutzt wurde, es sei denn, er beherbergte eine andere Art von Pferdchen: Hinter den beiden kleinen Fenstern an der ausgedehnten Seitenmauer hingen schwere Samtvorhänge, die in der Nacht feuerrot leuchteten, und unter dem schweren hölzernen Tor drang gelbes elektrisches Licht hervor.

Twinkletoes und Happy Harry, der Fahrer, führten mich vom Auto zum Stall. Aus dessen Innerem hörte ich Stimmen. Viele Stimmen. Gelächter, Gebrüll, Jubel. Twinkletoes drückte auf einen Klingelknopf, und ein Guckfenster öffnete sich, durch das uns derjenige musterte, der auf der anderen Seite stand, wer immer es sein mochte.

»Ich habe noch nie eine illegale Milchbar gesehen«, sagte ich fröhlich zu meinem weniger fröhlichen Fahrer. »Hat Sneddon da drin eine Buttermilch-Schwarzbrennerei?«

Happy Harry antwortete, indem er mich lauernd anstarrte. Twinkletoes drückte noch einmal den Klingelknopf.

»Nehmen wir uns doch jeder schon mal ’nen Melkschemel, bis die so weit sind«, sagte ich mit meiner besten New-Yorker-Gangster-Stimme und grinste. Damit verwirrte ich Twinkletoes aber nur, und sein Gefährte starrte noch lauernder.

Fast hatte ich erwartet, dass uns eine Färse im Abendanzug die Tür öffnete. Wie sie herausstellte, lag ich gar nicht so falsch: Die Tür wurde von einem Schlägertypen mit Stiernacken aufgerissen. Über die Schwelle zu treten war, als tauchte man in ein Schwimmbecken. Ein feuchter Nebel aus Zigarettenqualm, Whiskydunst und Schweiß umschloss uns, durchsetzt mit dem leicht kupfrigen Geruch von Blut. Gleichzeitig brach eine Lärmflut und eine geruchsintensive Wärme über uns herein: Männer brüllten in einer solchen Erregung, dass es an Raserei grenzte, und hin und wieder hörte wir eine schrille, durchdringende Frauenstimme. Der Stall war zwar nicht gerammelt voll, aber die Leute drängten sich Schulter an Schulter in einem Kreis um eine erhöhte Plattform, auf der zwei muskelbepackte Männer einander gegenseitig den Verstand herausprügelten. Beide waren bis zur Taille nackt, trugen aber kein Sportzeug, sondern gewöhnliche Hosen und Straßenschuhe. Und sie trugen keine Boxhandschuhe.

Nett, dachte ich. Ein Kampf mit bloßen Fäusten. Keine Konzession, keine lästige Boxaufsicht, auf die man Rücksicht nehmen muss – illegal. Und öfter als nur hin und wieder tödlich. Ich habe nie wirklich begriffen, wieso ausgerechnet in Westschottland jemand Geld bezahlt, damit er sich einen Boxkampf mit bloßen Fäusten ansehen darf. Besonders in Glasgow erschien es mir so überflüssig, als würde man mitten in einer Orgie eines der Mädchen um ein Rendezvous bitten.

Twinkletoes legte mir die Hand auf die Schulter. Ich ging unter dem Gewicht fast in die Knie. »Mr. Sneddon sagt, wir sollen Sie was zu trinken geben und Ihnen ausrichten, Sie sollen warten, bis er fertig ist.«

Ein Mädchen um die zwanzig mit zu viel Lippenstift und zu wenig Rock stand hinter dem mit Kreppstoff bedeckten Tapeziertisch, der als Theke diente. Es überraschte mich wenig, dass sie keinen Canadian Club hatten, und der Scotch, den ich mir stattdessen geben ließ, wirkte auf meine Mundschleimhaut wie Abbeizer auf einen Ölanstrich. Ich drehte mich zu dem Kampf um und musterte das Publikum. Die meisten Männer trugen Abendanzüge, und die Frauen waren alle zu jung für sie, aufgedonnert und definitiv kein Ehematerial. Das Aussehen der Männer drehte mir den Magen um – diese rosafarbenen, geschrubbten, fleischigen Gesichter von Buchhaltern, Anwälten und anderen Berufen der Glasgower unteren Mittelschicht, die sich unter das gemeine Volk stürzten. Auf einer Busreise in die Verworfenheit. Wahrscheinlich war mehr als ein Vorstandsmitglied der großen Glasgower Firmen dabei, und die ein, zwei Bullen unter ihnen kamen garantiert auf Sneddons persönliche Einladung. In die schweiß- und schnapsgeschwängerte Luft mischte sich der Gestank von Käuflichkeit.

Das Jubeln der Menge zog meine Aufmerksamkeit wieder auf die Kämpfer. Ich habe nichts gegen Boxkämpfe, aber was ich hier sah, hatte mit Sport nichts zu tun. Es war keine Technik erforderlich, nur die Fähigkeit, dem Gegner mithilfe von Gesicht und Schädel die Fingerknöchel zu brechen. Die Fratzen der beiden Kontrahenten ähnelten einander wie Spiegelbilder: die weiße Haut gerötet und geschwollen und mit Spucke, Schweiß und Blut verschmiert; die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen, das Haar vom Schweiß an die Kopfhaut geklebt. Und beide Gesichter waren völlig ausdruckslos. Weder Angst noch Wut oder Hass waren zu sehen, nur die emotionslose Konzentration von zwei Männern bei der harten körperlichen Arbeit, ein anderes menschliches Wesen zu Brei zu schlagen. Jeder Treffer klang wie ein feuchtes Klatschen oder wie ein hässlicher, dumpfer Knall. Keiner der beiden Männer bemühte sich, die Schläge des Gegners abzublocken; hier ging es nur darum, aufeinander einzuprügeln, bis einer umfiel und nicht mehr hochkam. Beide Kämpfer wirkten erschöpft. Beim Faustkampf ohne Handschuhe gibt es keine Runden, keine Pausen zum Ausruhen oder zur Erholung. Wer zu Boden geht, dem bleiben dreißig Sekunden, um wieder aufzustehen und an den »Start« zurückzukehren, die ins Holz geritzte Linie in der Mitte des Rings.

Ein Faustkampf hat etwas an sich, das einen gefangen nimmt, ob man will oder nicht. Ich bemerkte, wie mich die Brutalität auf der erhöhten Plattform in den Bann schlug. Die Kämpfer schienen sich nicht bewusst zu sein, was rings um sie vorging. Wahrscheinlich wussten sie nicht einmal mehr, was vorher gewesen war und was später sein würde. Ich kannte diesen Zustand aus dem Krieg. Im Gefecht hat man keine Vergangenheit, keine Geschichte, keine Zukunft und keine Verbindung zur Welt ringsum. Man besitzt nicht einmal eine Verbindung zu den Männern, die man auf jede menschenmögliche Weise tötet. Bei den beiden Faustkämpfern bemerkte ich die gleiche Entrückung. Einer war etwas kleiner, aber stämmiger als der andere. Das Blut, das ihm aus der Nase rann, hatte er mit dem Handrücken über Oberlippe und Wange verschmiert, und ein geschwollenes Lid färbte sich langsam purpurn und drohte, sich über dem Auge zu schließen. Wie es aussah, war es nur eine Frage der Zeit, bis sein größerer Kontrahent sich die Beeinträchtigung der Sicht seines kleineren Gegners zunutze machte. Aber der hatte einen zwar ungelenken, aber brutalen linken Haken. Mit einem Übelkeit erregenden Knacken traf er den größeren Boxer auf die Wange. Durch den ganzen Stall und den Zigarettenqualm konnte ich sehen, dass der größere Mann einen Augenblick lang erstarrte; seine Arme hingen schlaff herunter.

Die Zuschauer brüllten vor Entzücken und Raserei, als der kleinere Kerl seinem Gegner einen nasenbrecherischen Hieb mitten ins Gesicht verpasste. Blut strömte dem größeren Mann über den Mund. Noch mehr Rufe aus der Menge. Es war das Ende. Der kleinere Kämpfer hatte den Geruch des Sieges in der Nase und deckte seinen Gegner mit wuchtigen Schlägen ein. Seine handschuhlosen Fäuste klatschten laut gegen die Rippen und den Bauch des größeren Mannes. Ein weiterer linker Schwinger sandte einen hässlichen Bogen aus Blut und Rotz durch die Luft, und der größere Mann stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden.

Für den Sieger gab es keine Glückwünsche, für den Verlierer kein Mitleid. Ein Teil der Menge drängte sich um Sneddons illegalen Buchmacher und zwei Gorillas, um ihre Wetten einzubringen. Sneddon hatte offenbar Grund zur Freunde: Verlierer mit mürrischen Mienen waren viel häufiger zu sehen als das strahlende, gierige Grinsen der Gewinner.

Nach einer Weile strebte alles zur Theke, und ich wich mit meinem Fuselwhisky in eine Ecke zurück und machte mir Gedanken über den Erfolg meines Lebenswegs. Alles war nur ganz knapp danebengegangen. Ein paar andere Entscheidungen, und ich wäre reich und zufrieden dreitausend Meilen westlich von Glasgow geendet und hätte die erbauliche Erfahrung verpasst, wie zwei Affen mit blauen Flecken am ganzen Leib in einem schottischen Stall einander die Seele rausprügelten.

***

Twinkletoes kehrte mit einem etwas kurz geratenen, massig gebauten, hart wirkenden Kerl in einem Anzug zurück, der von einem guten Schneider stammte und teuer gewesen war, ohne protzig zu wirken. Sein blondes Haar schien frisch frisiert zu sein, und sein Gesicht war auf brutale Weise gut aussehend. Leider stammte die hässliche tiefe Rille einer alten Rasiermesserwunde auf seiner rechten Wange aus der Zeit, ehe er sich Leute leisten konnte, die wirklich gut mit Nadel und Faden umzugehen verstanden.

»Hallo, Mr. Sneddon«, sagte ich.

»Wissen Sie, wo Sie hier sind, Lennox?«

»In Hernando’s Hideaway?«

»Oh, was sind wir heute wieder scheißlustig«, erwiderte Sneddon ohne den Anflug eines Lächelns. »Das ist mein neuster kleiner Nebenerwerb. Haben Sie den Kampf gesehen?«

»Ja. Da geht einem das Herz auf.«

»Pikeys.« Sneddon schüttelte verwundert den Kopf. »Zigeuner. Für ein paar Pennys kämpfen die wie die Berserker. Sie würden’s sogar umsonst tun. Bekloppte Arschlöcher.«

»Und Sie veranstalten Wetten darauf ...«

Sneddon nickte. »Das war eine gute Nacht heute.«

»Jede Wette«, erwiderte ich. Der gute alte Ben Franklin hat einmal gesagt, sicher seien nur der Tod und die Steuern. Aber damals hat Sneddon noch nicht gelebt, sonst hätte Franklin wohl gesagt: Tod, Steuern und Willie Sneddons Hand in deiner Tasche.

»Ich hab den Hof seit ’nem halben Jahr. Hat eine ganze Weile gedauert, ihn herzurichten. Ich hab das Haus, den Stall, das ganze beschissene Gut, weil irgendein Fatzke mehr auf die Ponys gesetzt hat, als er hatte. Blödmann. Irgendwie poetisch, dass ich hier jetzt Wetten veranstalte, wo ich’s doch beim Wetten gewonnen hab.«

»Ja, Mr. Sneddon, das is’ ironnisch«, sagte Twinkletoes neben ihm.

»Hab ich mit dir gesprochen, du Arsch?« Sneddon funkelte Twinkletoes an, der seinen Boss wie ein Turm überragte. Twinkle zog ein gekränktes Gesicht, und Sneddon wandte sich wieder mir zu. »Wie auch immer, ich hab von der Sache hier kaum was herumposaunt. Ich glaube, Cohen und Murphy wissen noch nichts davon. Also halten Sie die Schnauze, klar?« Sneddon sprach von den anderen zwei Königen: dem Schönen Jonny Cohen und Hammer Murphy.

Warum glaubte eigentlich ständig jemand, mich auffordern zu müssen, den Mund zu halten? »Wenn die beiden noch nichts davon wissen, werden sie es sicher bald erfahren«, entgegnete ich. »Glasgow ist ein Dorf, das sich als Großstadt ausgibt. Nichts bleibt hier lange geheim.«

»Zum Beispiel, dass Small Change MacFarlane der Schädel eingeschlagen wurde.« Sneddon grinste. Oder besser, er verzog das Gesicht rings um den Mund bei dem vergeblichen Versuch eines Lächelns. Das Ergebnis war eine kalte, harte, erbarmungslose Fratze.

»Ja, zum Beispiel. Meine Güte, hier dauert es wirklich nicht lange, bis sich etwas herumgesprochen hat. MacFarlanes Leiche ist noch nicht mal kalt. Haben Sie mich deshalb von Twinkletoes und Grinsemaul auflesen lassen?«

Sneddon warf über die Schulter einen Blick auf die Menge. »Gehen wir ins Haus. Da ist es stiller.«

***

In Sneddons Haus in Bearsden, einem Herrensitz im Pseudo-Baronial-Stil mit manikürtem Garten, war ich schon ein paar Mal gewesen. Dieses Haus hier war völlig anders. Gleich in der Eingangshalle wusste ich, dass ich Geschäftsräume betrat. Von außen war es ein viktorianisches Gutshaus, innen ein viktorianisches Bordell mit puterroten Vorhängen aus dickem Samt, Chaiselonguen und gerahmten Rubens-Titten an den Wänden. Aus dem ehemaligen Wohnzimmer hatte man eine Bar mit verstreut stehenden Sofas gemacht. Auf einem der Sofas saß eine barmherzige Schwester und ließ sich mit gelangweiltem Gesicht von einem betrunkenen sabbernden Freier betatschen. Aus einem Plattenspieler in der Ecke schmalzte der Sänger Mel Tormé, genannt »Velvet Fog«, und hinter der Theke hielt ein anderes Mädchen Anfang zwanzig die Stellung. Die Kleine trug ebenfalls zu viel Schminke und zu wenig Stoff.

»Was halten Sie davon?«, fragte Sneddon in einem Tonfall, der mir deutlich machte, dass es ihn einen Dreck scherte, was ich davon hielt.

»Nettes Ambiente. Weckt den Romantiker in mir.«

Sneddon schnaubte so etwas wie ein Lachen. Er klopfte Twinkletoes gegen die Brust und machte eine Kopfbewegung zu dem Betrunkenen und seinem Mädchen. Twinkletoes gehorchte und bugsierte sie aus dem Salon.

»Was soll ein netter Junge wie ich an einem Ort wie diesem?«, sagte ich.

Sneddon befahl dem Mädchen hinter der Theke, uns zwei Whisky einzugießen. Mir fiel auf, dass sie eine Flasche Single Malt unter dem Tresen hervorholte. Der gute Stoff.

»Sie waren heute Abend bei Small Change. Was haben Sie mit ihm zu tun? Wollte er, dass Sie für ihn schnüffeln?«

»Geschnüffelt habe ich nur bei seiner Tochter. Rein privat, nichts Geschäftliches.«

»Sicher?« Sneddon kniff die Augen zusammen. Er sah aus, als bestünde sein Kopf nur aus Stirn, was in Glasgow ein Vorteil war. Athen war die Wiege der Demokratie, Florenz hat der Welt die Renaissance geschenkt, und Glasgow hat den Kopfstoß zu einer Kunstform entwickelt. »Glasgower Kuss«, so nennt man ihn liebevoll in allen Ländern auf Erden. »Es tät mich ärgern, wenn Sie nicht völlig ehrlich zu mir wären.«

»Hören Sie zu, Mr. Sneddon. Ehe ich Sie anlüge, würde ich es mir sehr gut überlegen. Ich weiß selber, dass Twinkletoes nicht Twinkletoes heißt, weil er tanzt wie Fred Astaire. Ich hänge an meinen Zehen und möchte gern glauben, dass es meinen Zehen umgekehrt genauso geht. Außerdem hat Superintendent McNab mir heute Abend schon die gleiche Frage gestellt.«

»McNab?« Sneddon stellte das Glas auf die Theke. »Was hat der damit zu tun? Ich dachte, die Sache wäre ein Bruch gewesen, der aus dem Ruder gelaufen ist.«

»Es ist wohl ein größerer Fall. Small Change war kein Niemand«, erwiderte ich und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich Sneddons Möglichkeiten der Informationsbeschaffung beeindruckten. Allerdings war auch ich eine dieser Möglichkeiten. »Jedenfalls musste ich ihm gut zureden, bis er einsah, dass ich mit MacFarlane nichts zu tun hatte.«

»Und stimmt das? Sie hatten wirklich nichts mit Small Change oder seinem Geschäft zu tun?«

»Wie gesagt, ich gehe mit seiner Tochter, das ist alles. Wo ist das Problem?«

Sneddon winkte ab, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen. »Schon gut. Ich hatte Geschäfte mit Small Change am Laufen.«

»Ach?«

Sneddon sah mich an. »Hören Sie, Lennox, wenn Sie bei MacFarlane ein und aus gehen, können Sie mir vielleicht helfen.«

»Wenn es möglich ist«, sagte ich lächelnd, wobei ich mir nicht anmerken ließ, wie sich mir der Magen zusammenzog.

»Halten Sie mich auf dem Laufenden, was die Bullen machen. Und wenn Sie die Gelegenheit bekommen, gucken Sie, ob Sie von Small Change ein Notizbuch finden. Einen Terminkalender oder so was, wo er sich aufgeschrieben hat, mit wem er sich wann und wo trifft. Oder ein Tagebuch und so ’n Zeug.«

»Darf ich fragen, warum?«

»Scheiße, nein, dürfen Sie nicht!« Dann seufzte er, als gebe er dem Wunsch eines Kindes nach Eiscreme nach. »Also gut. Ich hab mich heute Nachmittag mit Small Change getroffen. Wir haben zusammen an einem Projekt gearbeitet. Ich gehe ins Boxgeschäft. Nicht so ’ne Klopperei wie heute Nacht. Da geht’s um mehr als um zwei Penner, die sich gegenseitig die Fresse polieren. Richtiges Boxen. Ich hab mit MacFarlane wegen ein paar Boxern verhandelt. Wenn die Polizei davon erfährt, wird alles nur kompliziert.«

»Und was hat Small Change in die Sache mit eingebracht?«

»Unwichtig. Hören Sie, das war kein großes Geschäft. Ich will mit den Bullen nichts zu tun haben, und wenn dieser Scheißkerl von McNab die Ermittlungen leitet, erst recht nicht. Können Sie das für mich erledigen oder nicht?«

Ich dachte demonstrativ nach. »Ich will nicht versuchen, komisch zu klingen, Mr. Sneddon, aber wenn ich einen Termin mit Ihnen hätte, würde ich das in keinen Kalender schreiben. Ich meine ... das könnte ein Beweisstück werden, wie Sie schon sagten. Ich glaube kaum, dass MacFarlane irgendwas aufgeschrieben hat, das mit seinem Geschäft zu tun hatte.«

»Das kommt davon, dass Sie anders denken als ich und MacFarlane. Ich führe ein Terminbuch. Jedes beschissene Treffen, jedes Gespräch, das ich mit Murphy oder Cohen habe, kommt da rein. Wie Sie schon sagten: Beweismaterial. Für den Fall, dass ich mal den Kronzeugen spielen muss. Cohen und Murphy tun das Gleiche. Und ich weiß genau, dass MacFarlane ein Gedächtnis hatte wie ein Sieb, bei solchen Sachen jedenfalls. Als Buchmacher konnte er Ihnen genau sagen, welcher Köter wann und wo zu welchen Quoten gerannt ist, einfach so, aus dem Kopf. Aber wenn’s um Verabredungen und so was ging, musste er sich Datum und Uhrzeit aufschreiben, sonst hat er’s vergessen.«

»Ich glaube nicht, dass ich Ihnen da helfen kann. Die Polizei hat das Zeug kistenweise aus seinem Arbeitszimmer getragen. Ich nehme an, das Terminbuch liegt schon auf dem Präsidium.«

»So blöd sind Sie doch nicht, Lennox.« Sneddon fixierte mich mit einem stechenden Blick. »Small Change hätte sein Terminbuch nie irgendwo rumliegen lassen, und die Bullen sind alle viel zu dämlich, um richtig zu suchen, wo es nicht offensichtlich ist. Wissen Sie was? Wenn ich ’n misstrauischer Mensch wäre, würde ich mich langsam fragen, ob Sie mir am Ende gar nicht helfen wollen. Ich käme sogar auf den Gedanken, dass Sie mir aus dem Weg gehen. Murphy und Cohen vielleicht auch. Was ist los, Lennox? Sind wir Ihnen nicht mehr gut genug?«

»Ich habe mehr für Sie getan, als Sie von Rechts wegen erwarten konnten, Mr. Sneddon.« Ich stellte mein Glas auf die Theke; vielleicht brauchte ich freie Hände, und sei es nur, damit Twinkletoes mir die Finger abknipsen konnte. »Wenn ich mich recht entsinne, haben Sie mich gerufen, als Sie letztes Jahr zum St. Andrew’s Square auf die Hauptwache einfuhren. Ich glaube nicht, dass Sie, Murphy oder Cohen sich über irgendwas beschweren können. Aber Sie sind nun mal nicht meine einzigen Kunden.«

Sneddon sah mich höhnisch an. »Na gut, Lennox. Sie sind ein harter Bursche. Ich hab’s kapiert. Suchen Sie Small Changes Terminbuch, oder wo immer er sich so ’nen Kram aufgeschrieben hat, und bringen Sie’s mir. Ich geb Ihnen dreihundert Mäuse. Egal ob mein Name drinsteht oder nicht.«

»Wenn ich kann, suche ich danach.« Vorhin hatte ich Sneddon gesagt, dass ich es mir gut und lange überlegen würde, ehe ich ihn anlog; aber wenn es darauf ankam, tat ich es, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich hatte nicht die geringste Absicht, für ihn im Haus der MacFarlanes herumzuschnüffeln. Andererseits waren dreihundert Pfund dreihundert Pfund. Am besten hielt ich mir sämtliche Möglichkeiten offen. »War es das?«

»Nein, da ist noch was.«

Ich klebte mein Lächeln im Gesicht fest. Sneddon durchschaute es. »Falls es nicht unter Ihrer Würde ist, einen beschissenen Auftrag für mich zu übernehmen, Lennox«, sagte er schneidend.

»Natürlich nicht.«

»Sie brauchen sich auch keine Sorgen zu machen, Sie machen sich dabei nicht die Hände schmutzig. Die Sache ist legal.«

»Worum geht es?«

»Wie schon gesagt, ich steig ins Boxgeschäft ein. Ich und Jonny Itzig haben beide ’nen Anteil an ’nem Boxer.«

»Sie und der Schöne Jonny?«

»Ja, ich und Cohen. Passt Ihnen das nicht?«

»Meinen Segen haben Sie. Ich finde das sehr ökumenisch von Ihnen.«

»Ich hab keine Vorurteile. Ich mache mit jedem Geschäfte. Absolut mit jedem.« Er hielt inne. »Außer natürlich mit Feniern. Jedenfalls, dieser junge Boxer, an dem wir Anteile haben, wird mal ’ne ganz große Nummer. Der hat ’nen rechten Haken, auf den können Sie Ihre Rente wetten. Die Sache ist nur die, dass man dem Jungen Scherereien macht.«

»Was für Scherereien?«

»Dumme Streiche. ’n toter Vogel im Briefkasten, Farbschmierereien auf seinem Auto, so ’n Scheiß eben.«

»Hört sich an, als hätte er jemanden verärgert. Ist er zur Polizei gegangen?«

Sneddon beäugte mich. »Na klar. Bei meinen harmonischen Beziehungen zu den Bullen hab ich ihm natürlich sofort dazu geraten. Benutzen Sie Ihren Kopf, Lennox. Wenn die Bullen anfangen herumzuschnüffeln, stehen sie früher oder später bei mir oder bei Jonny Cohen auf der Matte. Uns wäre es lieber, wenn unsere Teilhaberschaft eine stille bleiben täte. Cohen war es, der vorgeschlagen hat, dass Sie dem mal nachgehen. Diskret, versteht sich.«

»Diskretion«, sagte ich salbungsvoll, »ist mein zweiter Vorname. Wen kann er denn so sehr auf dem Schlips getreten haben, um eine Vendetta vom Zaun zu brechen?«

»Keinem. Jedenfalls keinem, der ihm einfällt. Ich meine, im Ring hat er natürlich schon dem einen oder anderen wehgetan, aber ich glaub nicht, dass es darum geht. Ich vermute eher, jemand hat auf seine Niederlage gesetzt, wenn er gegen den Kraut boxen tut, und jetzt versuchen sie ihn vor dem Kampf fertigzumachen. So, wie wenn man in der Nacht vor dem Hunderennen Fish and Chips in den Zwinger wirft.«

»Warten Sie mal ... bevor er gegen den Kraut kämpft? Meinen Sie Jan Schmidtke? Ist Bobby Kirkcaldy Ihr Boxer?«

»Er ist nicht mein Boxer. Aber man könnte sagen, mir gehört ein Stück von ihm. Also?«

Ich pfiff leise. »Eine kluge Investition, Mr. Sneddon. Kirkcaldy ist klasse. Sie haben recht, der wird es weit bringen.«

»Oh ...« Wieder lächelte Sneddon auf die einzige Art, die er beherrschte. Höhnisch. »Ich bin ja so zufrieden, dass meine Geschäftsentscheidungen Ihre Billigung finden. Cohen und mir hat es schon schlaflose Nächte bereitet, dass wir ohne Ihr Okay angefangen haben.«

Ich musste zugeben, Sneddon verstand sich auf Sarkasmus erheblich besser als McNab. Aber lange nicht so gut wie ich.

»Ich sage nur, dass Kirkcaldy ein Glücksgriff ist«, erwiderte ich. »Mit ihm ist eine Menge los. Im wahrsten Sinne des Wortes. Haben Sie eine Idee, wer versuchen könnte, ihm Angst zu machen?«

Sneddon zuckte die Achseln. »Das ist Ihr Job. Sie finden es heraus. Und lassen Sie den Betreffenden nicht wissen, dass Sie ihm auf den Fersen sind. Wollen Sie den Job?«

»Übliches Honorar?«

Sneddon griff in seinen Maßgeschneiderten, zückte die Brieftasche und gab mir vierzig Pfund in Fünfern. Das war mehr, als die meisten Leute in einem Monat verdienten, aber Sneddons Brieftasche wirkte danach nicht besonders leichter. »Es ist noch ’n Hunderter mehr für Sie drin, wenn Sie mir sagen, wer hinter dem ganzen Scheiß steckt.«

»Geht in Ordnung.« Lächelnd nahm ich das Geld an. Das Lächeln gehörte zu meiner Kundenbindungsstrategie. Andererseits fiel es mir auch sehr leicht zu lächeln, wenn andere Leute mir Geld gaben. Ein sauberer Auftrag. Legal, ganz wie Sneddon behauptet hatte. Ich brauchte ihm nur einen Namen zu liefern. Aber ich versuchte, nicht allzu viel darüber nachzudenken, was mit dem Gesicht, das zu dem Namen gehörte, passieren würde, nachdem ich ihn Sneddon genannt hatte.

»Sie sagen, Sie hätten mit Small Change MacFarlane über ein paar Boxer gesprochen. War Kirkcaldy einer davon?«

»Scheiße, nein! Nein, das war nichts in dieser Klasse. Nur ein paar mögliche aufstrebende Talente, das ist alles. Small Change hat von meinem Anteil an Kirkcaldy überhaupt nichts gewusst. Egal was Sie einem Buchmacher sagen, Sie müssen es sich vorher immer sehr genau überlegen. Hier ist Kirkcaldys Adresse.« Sneddon reichte mir einen zusammengefalteten Zettel. »Brauchen Sie sonst noch was?«

Ich machte eine kleine Show aus meinem nachdenklichen Stirnrunzeln, obwohl mir die Idee in dem Augenblick gekommen war, als Kirkcaldys Name fiel. »Vielleicht wäre es eine gute Idee, wenn Sie mir eine Eintrittskarte für den großen Kampf besorgen. Da kann ich jeden treffen, der mir sonst vielleicht ausweicht.«

»Ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie der Sache vorher auf den Grund gehen. Aber gut, das krieg ich hin. Sonst noch was?«

»Wenn mir etwas einfällt, sage ich Bescheid«, entgegnete ich und verfluchte mich innerlich, dass mir kein Grund eingefallen war, um zwei Eintrittskarten zu bitten.

»Gut. Dann können Sie sich jetzt verpissen«, sagte Sneddon. Ich fragte mich, ob die jüngst gekrönte Queen eine ähnliche Hofetikette pflegte. »Und vergessen Sie nicht, sich nach Small Changes Terminbuch umzusehen. Ich lass Sie von Singer zurück zu Ihrem Auto fahren. Sie kennen Singer, oder?« Sneddon machte eine Geste zu dem Teddy Boy, der mich und Twinkletoes zum Bauernhof chauffiert hatte.

»Na klar. Der hat mir auf dem Weg hierher die Ohren vollgequasselt. Ich bin kaum zu Wort gekommen.«

Sneddon bedachte mich mit einem neuerlichen höhnischen Grinsen. Singer schien meine Bemerkung nicht besonders zu gefallen. Vielleicht wurde ich paranoid, aber ich glaubte, in seinem lauernden Starren eine noch größere Bedrohlichkeit zu entdecken.

»Aye«, sagte Sneddon. »Singer ist nicht gerade der große Redner. Und auch kein großer Sänger, wo wir schon mal dabei sind, was, Singer?«

Singer schüttelte den Kopf, ohne den starrenden Blick von mir zu nehmen.

»Man könnte sagen, Singer ist ein Mann der Tat, kein Mann der großen Worte.« Sneddon hielt inne und nahm eine Zigarette aus einem goldenen Etui. Das Ding war so schwer, dass es ihm das Handgelenk auszurenken drohte. Mir bot er keine Kippe an. »Singers Alter war ein echter Drecksack. Hat ihn immer nach Strich und Faden verprügelt, als Singer noch ein kleiner Hosenscheißer war. Auch die Mutter bekam ständig Senge. Mehr als normal ist, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber Singer hatte sein Talent. Das hatte er von seiner Ma. Er besaß eine wunderschöne kleine Stimme. Jedenfalls erzählt man sich das. Hab sie selber nie gehört. Jedenfalls, bei Hochzeiten und so wurden Singer und seine Ma immer gebeten, ein Lied zu singen. Und er hat sich ja auch nie lange bitten lassen, was, Singer? Er sang die ganze Zeit. Das Einzige, was der kleine Scheißer im Leben hatte.«

Ich schaute Singer an, der meinen Blick ausdruckslos erwiderte. Offenbar war er es gewöhnt, dass Sneddon seine persönliche Geschichte vor Wildfremden ausbreitete. Oder es war ihm egal.

»Aber seinen Alten hat es unheimlich aufgeregt. Wenn der besoffen nach Hause kam, durfte keiner einen Laut von sich geben. Der kleinste Mucks von Singer, und sein Alter trat ihm die Scheiße aus dem Leib. Manchmal im wahrsten Sinne des Wortes. Eines Tages kommt Singers Alter mit besonders finsterer Laune nach Hause. Der kleine Singer trällert ganz unschuldig mit seiner Ma in der Küche, aber sein Alter versteift sich drauf, dass für ihn Essen auf dem Tisch stehen sollte. Er dreht total durch. Er packt Singer und prügelt ihn wie nie zuvor. Also kommt seine Ma und versucht den kleinen Kerl zu beschützen. Und wissen Sie, was sein Alter tut?«

Ich zuckte mit den Schultern und sah Singer an: Ich war gut zehn Zentimeter größer als er, aber er war ein hart aussehender Hurensohn. Ein fies aussehender Mistkerl. Trotzdem hörte ich nicht gerne zu, wie Sneddon sich in Singers Elend suhlte.

»Er hat Singers Ma die Kehle durchschnitten«, beantwortete Sneddon seine Frage selbst. In seiner Stimme lag ein Anflug von Ehrfurcht. »Er nahm ein Taschenmesser – ein Taschenmesser, überlegen Sie mal! – und schlitzte ihr die Kehle von einem Ohr zum anderen auf, vor den Augen von dem kleinen Kerl. Seitdem hat Singer nie mehr gesungen. Oder gesprochen.«

»Das tut mir leid«, sagte ich zu Singer, weil es das Einzige war, was mir einfiel. Er sah mich ausdruckslos an.

»Aye. Singers Vater war eine üble Drecksau. Sie haben das Schwein an der Duke Street aufgeknüpft. Singer kam in ein Waisenhaus, dann in eine Art Irrenanstalt, weil er nicht redete.« Sneddon blickte Singer wissend an. »Aber du bist kein Irrer, was, Singer? Nur ein übler Hund, bis ins Mark. Ich hab von ihm gehört, weil Tam, einer meiner Jungs, mit Singer im Knast war. Sie saßen in der gleichen Zelle. Soll ich ihm sagen, was deine Spezialität war, Singer?«

Es überraschte mich wenig, dass Singer nicht antwortete. Er nickte auch nicht. Er rührte sich nicht, er blinzelte nicht.

»Jemand hat ihn wegen einem Bruch verpfiffen. Ohne diesen Jemand hätte es keine Beweise gegeben. Aber Singer hat den Kerl nicht umgebracht. Er hat ihm die Zunge rausgeschnitten. Richtig poetisch, was?«

»Ja«, sagte ich. Singers Gesicht war noch immer völlig ungerührt. »Wie ein Gedicht von Auden.«

»Egal«, sagte Sneddon, »ich hab Singer gern um mich. Wussten Sie, dass die alten Griechen gern Stumme bei Beerdigungen dabeihatten? Berufsmäßige Trauerer. Jedenfalls, jetzt sorge ich für Singer. Stimmt’s, Singer?«

Singer nickte.

»Und Singer sorgt für mich. Und für meine Interessen.«

***

Dass Twinkletoes auf dem Rückweg in die Stadt nicht im Wagen saß, war mir so überdeutlich bewusst, als hätte er ein Loch des Schweigens und der Leere hinterlassen. Ich nahm mir eine Player’s Navy Blue und bot Singer aus dem Päckchen an, aber er schüttelte den Kopf, ohne die Augen von der Straße zu nehmen. Er war so jemand. Immer konzentriert. Ich hatte vergessen, wo genau ich den Wagen hatte stehen lassen, aber Singer fand ihn auf Anhieb.

»Danke«, sagte ich beim Aussteigen. Singer wollte weiterfahren, als ich aus dem Impuls heraus an die Seitenscheibe klopfte. Er kurbelte das Fenster herunter.

»Hören Sie, ich wollte nur sagen ...« Was? Was zum Teufel wollte ich sagen? »Ich wollte nur sagen, dass mir die Bemerkungen leidtun, die ich gemacht habe. Sie wissen schon ... darüber, dass Sie nicht reden. Ich wusste nicht ... na ja, Sie wissen schon. Das war Scheiße ...« Ich verstummte. Es war das Beste für uns beide, nachdem ich offenbar verlernt hatte, zusammenhängende Sätze zu bilden.

Singer sah mich kurz an, in seiner kalten, ausdruckslosen Art. Dann nickte er und fuhr davon. Ich stand am Straßenrand und sah dem Sheerline hinterher, bis er um die Ecke verschwand. Ich fragte mich, weshalb ich nach allem, was ich im Leben schon gesehen und getan hatte, das Bedürfnis gehabt hatte, mich bei einem billigen Glasgower Gangster zu entschuldigen. Vielleicht lag es daran, dass Singer die ganze Scheiße als kleiner Junge miterlebt hatte. So etwas sollte einem Kind erspart bleiben. Du liebe Zeit, was Kindern so alles widerfahren konnte. Im Krieg. Im eigenen Zuhause.

Nicht zum ersten Mal sann ich über das farbige Leben nach, das ich mir hier in Glasgow geschaffen hatte. Und was für interessante Menschen ich kennenlernte.