8.

Weil ich auf die Straßenbahn warten musste, war es kurz vor achtzehn Uhr, als ich wieder ins Büro kam. Ein weiterer drückender Abend mit klebriger, feuchter, schwerer Luft schien sich anzukündigen, und ich spürte, wie mein Hemdkragen an meinem Nacken haftete. Davey Wallace rief mich Punkt achtzehn Uhr an, ganz wie vereinbart. Er konnte nicht Auto fahren, und ich sagte ihm, er solle bleiben, wo er war, und im Atlantic auf mich warten. Ich beschloss, ein Taxi nach Blanefield zu nehmen und es Davey nach Hause bringen zu lassen. Eine Taxifahrt war ein Luxus, der den meisten Glasgowern nur zu besonderen Gelegenheiten zuteil wurde. Ehe ich nach Blanefield fuhr, rief ich Sneddon an. Ich berichtete ihm, was bei MacSherry passiert war.

»Er wusste, dass Sie in meinem Auftrag da waren?«, fragte Sneddon.

»Nicht sofort. Aber später habe ich es ihm gesagt.«

»Verdammtes Slumpack. Dem werde ich ein bisschen Respekt einbläuen.«

»Dann schicken Sie lieber einen Trupp. Nach allem, was ich gesehen habe, hat der Alte noch immer seine Leute. Und er genießt einen Ruf, den er verdient haben muss.« Ich vergaß zu berichten, dass MacSherry den Schwanz eingekniffen hatte, als ich Sneddons Namen zum ersten Mal fallen ließ. Ich war stinksauer, weil der Alte versucht hatte, mir die Taschen umzudrehen. Eine Lektion in Respekt, wie Sneddon sagte.

»Aye? Na, ich verschaffe ihm ein bisschen Tapetenwechsel. Ich wette, er kommt nicht oft aus Bridgeton raus«, erwiderte Sneddon und erinnerte mich an das Versprechen, das Superintendent McNab mir gemacht hatte. Hier gab es viel Lokalkolorit; vielleicht tat es meiner Gesundheit ganz gut, wenn ich mich »nach Kanada verpisste«.

»Immerhin habe ich bei der Begegnung etwas Interessantes erfahren«, sagte ich. »Wussten Sie, dass Bert Soutar zusammen mit Small Change MacFarlane ins Geschäft eingestiegen ist? Ungefähr bei Kriegsausbruch?«

»Nein ...« Ich merkte, wie Sneddon die gleichen Puzzleteile zusammenfügte, die ich in Bridgeton zusammengesetzt hatte. »Nein, das wusste ich nicht. Halten Sie es für wichtig?«

»Na ja, dieses Supergeschäft, das sich in ein Märchen über Boxschulen verwandelte ... Es wäre doch möglich, dass Small Change nur die Details kaschiert hat und nicht das Grundsätzliche. Vielleicht hatte es etwas mit Bobby Kirkcaldy zu tun. Und vielleicht wurde das Geschäft von MacFarlanes altem Kumpel Soutar vermittelt.«

»Aber MacFarlane wollte das Geschäft mir vermitteln.«

»Vergessen wir nicht, dass Small Changes Schädel aufgeschlagen war wie ein Hühnerei«, erwiderte ich. »Ich vermute, dass alles um dieses Geschäft ging. Small Change spielte um das große Geld, nicht um irgendwelche Courtagen. Und ich vermute, dass Onkel Bert mit drinhängt.«

»Glauben Sie, er hat Small Change die Windhundstatue übergezogen?«

»Das weiß ich nicht. Vielleicht. Ich sehe nur keinen Grund, wieso er es getan haben sollte, es sei denn, irgendetwas lief falsch bei ihrem Geschäft, worin immer es bestand. Vielleicht ist der Täter aber auch der gleiche, der Kirkcaldy die Warnungen vor die Tür gelegt hat. In einer Sache bin ich mir jedenfalls sicher: dass es Kirkcaldy gar nicht recht ist, wie viel Aufmerksamkeit wir ihm schenken. Apropos, kann ich mir ein paar Leute borgen, die Kirkcaldys Haus abwechselnd im Auge behalten? Ich habe nur einen Mann und mich.«

»Okay«, sagte Sneddon. »Sie können Twinkletoes haben. Sie beide scheinen ja gut miteinander auszukommen.«

»Klar«, sagte ich. »Wie ein Feuer mit einem Haus ... danke. Ich melde mich, wenn ich ihn brauche.«

Nachdem ich eingehängt hatte, schloss ich das Büro ab und nahm ein Taxi zum Pacific Club. Wie beim letzten Mal traf ich dort ein, als das Lokal für den Abend vorbereitet wurde. Der Manager, der den Laden für Jonny Cohen leitete, war ein kleiner, gut aussehender Jude Anfang vierzig. Er hieß Larry Franks. Ich war Franks noch nie begegnet, doch er schien mich zu erkennen; er kam zu mir und stellte sich vor, kaum dass ich den Fuß in den Nachtclub gesetzt hatte. Er trug kein Jackett und hatte die Hemdsärmel hochgekrempelt.

»Mr. Cohen sagt, Sie suchen Claire Skinner.« Franks grinste breit. Er sprach mit einem Akzent, der schwer einzuordnen war, aber auf jeden Fall war ein Hauch London dabei. Und ein Hauch von etwas viel weiter Entferntem. So etwas begegnete einem hin und wieder. Der Krieg warf noch immer einen langen Schatten, und obwohl bis auf eines alle Lager mit verschleppten Personen im Nachkriegseuropa geschlossen waren, bauten sich nach wie vor unzählige Menschen in neuer Umgebung neue Existenzen auf. Was immer Franks durchgemacht hatte, es schien seine Gutmütigkeit nicht zu beeinträchtigen. »Möchten Sie einen Drink? Geht natürlich aufs Haus.«

»Danke, lieber nicht. Ja, ich suche nach Claire. Jonny sagte, Sie hätten ihre Adresse.«

»Hier, bitte.« Franks grinste erneut und reichte mir einen gefalteten Zettel, den er aus der Westentasche zog. Ich bemerkte etwas an seinem Unterarm, und er zog beiläufig den Hemdsärmel herunter. »Aber da wäre es leichter, in Fort Knox einzudringen.«

»Wie meinen Sie das?« Ich entfaltete den Zettel; darauf stand eine Anschrift am Craithie Court in Partrick.

»Das ist ein Muschihotel«, sagte er nüchtern und ohne jeden Hauch von Anzüglichkeit. »Ein Wohnheim für unverheiratete Frauen, betrieben von der Glasgow Corporation, erst ein paar Jahre alt. Claire wohnt dort. Sie haben da eine Vorsteherin, die reißt Ihnen die Eier ab, wenn Sie versuchen, dort reinzukommen. Absolut kein Herrenbesuch. Vielleicht wäre es klüger, Claire abzupassen, wenn sie das nächste Mal hier singt.«

»Wann wird das sein?«, fragte ich.

»Wenn ich ehrlich bin, kann es noch eine Woche dauern, oder länger. Für die nächsten zwei Freitage habe ich eine neue Combo gebucht.«

»Nein, ich muss sie vorher sprechen.« Ich starrte einen Augenblick lang auf den Zettel; mit den Gedanken war ich woanders. »Ich suche Sammy Pollock. Oder Gainsborough, wie er sich lieber nannte. Claires Freund. Haben Sie ihn in letzter Zeit gesehen?«

»Diese blöde Flasche?« Franks grinste. »Nein. Bestimmt zwei Wochen nicht.«

»Er ist hier bei Ihnen zum letzten Mal gesehen worden. Vor ungefähr zwei Wochen gab es draußen vor Ihrem Club eine kleine Meinungsverschiedenheit. Haben Sie etwas davon gesehen oder gehört?«

»Nein.« Franks schürzte die Lippen. »Nein, das kann ich nicht behaupten. Und es hat auch niemand erwähnt.«

»Gut, ich verstehe.« Ich steckte den Zettel ein. »Danke. Und danke auch, dass Sie mir einen Drink angeboten haben. Ich komme darauf zurück, wenn ich das nächste Mal hier bin.«

»Klar.« Sein Lächeln war noch da, aber es hatte sich verändert. Er las meine Gedanken, und ich die seinen. Seine lauteten: Ich brauche Ihr Mitleid nicht.

Ich verließ das stickige Pacific und trat hinaus in den stickigen Glasgower Abend. Das Taxi wartete auf mich. Ich stieg in den Fond und bat den Fahrer, mich nach Blanefield zu bringen. Unterwegs schwieg ich die ganze Zeit und dachte an Larry Franks’ fröhliche Art. Und an die Nummer, die in seinen Unterarm tätowiert war.

***

Als ich aus dem Taxi stieg, hätte ich schwören können, dass Davey Wallace noch genau da stand, wo ich ihn am Morgen zurückgelassen hatte, und zwar in genau der gleichen Haltung. Wir setzten uns zusammen in meinen Atlantic, und er erstattete mir zwanzig Minuten lang detailliert Bericht. Zwanzig Minuten detailliertes Nichts. Er war wirklich ein guter Junge, und ganz helle.

»Bist du morgen noch mal frei für die gleiche Schicht?«, fragte ich. »Vielleicht ein bisschen länger?«

»Klar, Mr. Lennox. Jederzeit. Und Sie brauchen mich auch nicht herzufahren. Ich weiß ja jetzt, wo es ist, und kann mit der Straßenbahn kommen.«

»Gut. Wir treffen uns hier ein bisschen später. Morgen Abend um sechs. Tagsüber passiert eh nichts. Was ist mit deiner Arbeit? Kommst du trotzdem rechtzeitig zur Frühschicht?«

»Kein Problem, Mr. Lennox.«

»Gut«, sagte ich. Natürlich war es kein Problem. Nicht einmal die Überquerung des Himalaja hätte Davey abgehalten. Ich gab ihm einen Fünfer. »Du lässt dich jetzt nach Hause fahren.«

»Danke, Mr. Lennox«, sagte Davey ehrfürchtig.

***

Ich nutzte meine Zeit nicht gut. Drei Stunden lang saß ich im Wagen und beobachtete Kirkcaldys Haus, ohne dass etwas geschah. Dann traf Bobby Kirkcaldy ein, nachdem er offenbar den ganzen Tag in Maryhill trainiert hatte. Er bog mit einem Sunbeam-Talbot Sports mit offenem Verdeck, Wert über Tausend Pfund, in die Auffahrt. Kirkcaldy war ein erfolgreicher Profiboxer, doch selbst in dieser Eigenschaft schien er seine Finanzkraft gewaltig zu dehnen. Vielleicht trug er zusätzlich Zeitungen aus.

Ich lehnte mich in den Sitz zurück, ließ mich herunterrutschen, damit ich eine Nackenstütze hatte, und schob mir den Hut über die Augen. Unbequemlichkeit hatte keinen Zweck. Trotzdem war es noch klamm im Auto, und ich kurbelte das Fenster herunter, aber die Luft draußen war feucht und drückend, und es ging kein Wind, der Kühlung gebracht hätte. Ich würde Schwierigkeiten haben, wach zu bleiben. Ich schaltete das Radio ein, bekam aber nur Frank Sinatra herein, wie er sich durch eine neue, gleich wieder vergessene Melodie quasselte.

Ich beschloss, mein Gehirn dadurch aktiv zu halten, dass ich durchging, wo ich mit was stand.

Mit dem Mord an Small Change gab es eine Verbindung. Bobby Kirkcaldy steckte bis zum Hals in einer Sache, bei der die Queensberry-Regeln nicht befolgt wurden. Über Soutar bestand eine Verbindung zwischen Small Change und Kirkcaldy. Und hier saß ich nun, versuchte, mich nicht noch tiefer in krumme Geschäfte ziehen zu lassen, und bekam es gleichzeitig immer mehr mit Small Changes Tod zu tun.

Gleichzeitig kam ich in meinem anderen Fall – meinem hundert Prozent legitimen Fall – einfach nicht weiter. Ich beschloss, am nächsten Tag zu versuchen, Kontakt mit Claire Skinner zu bekommen, aber ich wusste schon, dass es mich nicht weiterführen würde. Sammy Pollock war vom Angesicht der Erde verschwunden. Das konnte nicht einfach gewesen sein, und ich machte mir Sorgen, dass Profis dahintersteckten. Und dann war da Jock Fergusons Reaktion auf den Namen Largo. Wenn er den gleichen Largo meinte, den Paul Costello zu kennen behauptet hatte, handelte es sich um jemanden außerhalb der üblichen Verbrecherkreise, der dennoch wichtig genug war, dass die Glasgower Kripo seinen Namen sofort erkannte.

Ich neigte nicht gerade zur Selbstbetrachtung, vielleicht, weil ich während des Krieges gesehen hatte, wohin tiefe persönliche Reflexion führte: in den Wahnsinn oder in den Tod. Doch als ich so vor dem Haus eines vermutlich unehrlichen Boxers in einem Auto saß, hatte ich plötzlich Heimweh.

Blanefield liegt oberhalb von Glasgow. Die Sonne stand nun tiefer und strahlte in Gold-, Bronze- und Kupfertönen durch den Dunst der Stadt ins Tal. Ich erlebte einen Augenblick, in dem mich Erinnerungen überkamen: Saint John hatte ähnliche Sonnenuntergänge. Das industrielle Herz der USA lag in Michigan, und die dicke, rußige Luft trieb nach Nordwesten, zerriss die Sonne über den kanadischen Seeprovinzen in granatfarbene Strahlen und tauchte die Bay of Fundy in Rot. Doch damit endete die Ähnlichkeit auch schon. Ich dachte zurück an die Zeit vor dem Krieg. Damals war alles anders gewesen. Mir kam es vor, als wären die Menschen anders gewesen. Ich war anders gewesen. Oder vielleicht auch nicht.

***

Hinter mir fuhr ein Wagen an den Straßenrand, ein flaschengrüner Rover. Ich brauchte mich nicht umzudrehen; ich wusste auch so, dass Twinkletoes der Fahrer war. Entweder das, oder es gab eine unvorhergesehene Sonnenfinsternis. Er kam zur Beifahrertür und klopfte gegen die Scheibe. Ich öffnete die Tür, und er stieg ein, was mir Grund genug gab, über die Qualität der Federung des Atlantics zu staunen.

»Hallo, Mr. Lennox.« Twinkletoes lächelte. »Sind Sie wohlauf?«

»Mir geht es gut, Twinkle. Und Ihnen?«

»Strotze vor Gesundheit, Mr. Lennox. Strotze vor Gesundheit. Mr. Sneddon hat mich geschickt, damit ich die Überwachung von Mr. Kirkcaldys Haus übernehme. Singer übernimmt von mir am Morgen.«

»Das wird eine lange Nacht, Twinkle.«

»Ich habe das Radio«, erwiderte er. »Ich stelle fest, dass Jazz einen besänftigenden Einfluss auf meine Stimmung ausübt.«

»Das kann ich mir vorstellen. Wen hören Sie denn gern?«

»Vor allem Elephants Gerald«, sagte er lächelnd.

»Wen?«

»Sie wissen schon ... Elephants Gerald. Die Jazz-Sängerin.«

»Oh.« Ich verkniff mir ein Grinsen. »Sie meinen Ella Fitzgerald.«

»Heißt die so? Ich dachte, es heißt Elephants Gerald. Sie wissen schon, einer von diesen Jazz-Namen. Wie Duke Wellington.«

»Duke Ellington, Twinkle.« Mir fiel auf, dass das Lächeln von seinem Gesicht verschwunden war. Es war Zeit zu gehen. »Aber ich könnte mich auch irren. Viel Spaß auf jeden Fall. Wir sehen uns später.«

***

Ich ließ Twinkletoes in Sneddons Rover zurück, um Kirkcaldys Haus im Auge zu behalten, beruhigt von seinem Versprechen, er würde während seiner Überwachungspflichten völlig abstinent bleiben. Ich fuhr direkt zu meiner Wohnung. Als ich die gemeinsame Eingangstür hinter mir schloss, hörte ich wieder einmal, wie in der White’schen Wohnung unvermittelt der Fernseher abgestellt wurde. Ich stieg rasch die Treppe zu meiner Wohnung hinauf und machte mich an die Zubereitung von echtem Bohnenkaffee und Schinkensandwiches mit Brot, das schon vor zwei Tagen hätte verbraucht werden müssen, es sei denn, ich hatte vor, die Scheiben zur Dachisolation zu verwenden.

Ich hatte mich gerade hingesetzt und aß, als ich die Türklingel unten hörte. Fiona White öffnete. Ich hörte ein kurzes Gespräch; dann kamen schwere Schritte die Stufen hinauf. Es ist nicht so, dass ich ungastlich gewesen wäre, aber ich hatte nicht die Gewohnheit, Besucher in meiner Wohnung zu empfangen. Einer der Gründe, weshalb ich das Horsehead als Büro für außerhalb der Bürostunden etabliert hatte, war mein Wunsch, dass die Leute, mit denen ich zu tun hatte, nicht erfuhren, wo ich wohnte. Ehe ich auf das Klopfen hin die Tür öffnete, ging ich daher an die Garderobenschublade, in die ich den Totschläger legte, sobald ich das Jackett aufhängte, und ließ ihn mir in die Tasche gleiten. Ich machte die Tür auf und trat dabei einen Schritt zurück. Vor mir stand Jock Ferguson. Hinter ihm war noch ein Mann, größer und schwerer. Er trug einen hellgrauen Anzug mit extrem schmalem Revers über breiten Schultern; auf seinem Kopf saß ein blau gebänderter Strohhut in Form eines Trilbys. Der Mann hatte ein breites Gesicht, das ein bisschen zu fleischig war, um gut auszusehen, und sein Hautton war um ein paar Sommer dunkler als bei den Einheimischen. Ihm fehlte nur ein Schild um den Hals, auf dem »Gott segne Amerika« stand. Ferguson vor meiner Tür zu sehen, in solch seltsamer Gesellschaft, verblüffte mich im ersten Augenblick.

»Jock? Was machen Sie denn hier?«

»Hallo, Lennox. Können wir reinkommen?«

»’tschuldigung ... klar. Immer hereinspaziert.«

Der große Amerikaner grinste mich an, als er eintrat. Er nahm den hellen Strohhut ab und präsentierte den erstaunlichsten Haarschnitt, den ich je gesehen hatte. Sein graumeliertes Haar hatte einen Bürstenschnitt, im Nacken und an den Seiten bis fast zur Kopfhaut gestutzt, oben aber länger. Was es so erstaunlich machte, war das Geschick des Friseurs, der die Oberseite perfekt flach hinbekommen hatte. Mir stieg das Bild eines Frisieringenieurs vor Augen, Schere in der einen Hand, Wasserwaage in der anderen.

»Lennox, das ist ein Kollege von uns aus den Vereinigten Staaten. Dexter Devereaux. Er ist Ermittler wie Sie.«

»Nennen Sie mich Dex«, sagte das Grinsen unter dem Bürstenschnitt.

Ich schüttelte dem Amerikaner die Hand; dann wandte ich mich wieder Ferguson zu. »Sie sagten, Mr. Devereaux sei Ermittler wie ich. Oder meinen Sie, ein Ermittler wie Sie?«

»Ich bin Privatdetektiv. So wie Sie.« Devereaux grinste mich kollegial an. »Ich bin wegen einer privaten Ermittlung gekommen. Wegen eines Verbrechens, aber eine Privatsache.«

»Okay. Was kann ich für Sie tun?«, fragte ich. Mir fiel auf, dass wir alle noch standen. »Verzeihung ... bitte setzen Sie sich, Mr. Devereaux.«

»Nennen Sie mich Dex ... danke.« Ferguson und der Amerikaner nahmen auf dem Ledersofa Platz. Ich holte eine Flasche kanadischen Roggenwhiskey und drei Gläser aus dem Schrank.

»Ich nehme an, Sie sind nicht im Dienst und können etwas trinken?«

»Ich persönlich bin nie groß im Dienst«, antwortete Devereaux. Er nahm den Whiskey und nippte daran. »Mmmm, gut«, sagte er anerkennend. »Ich dachte, hier trinkt man nur Scotch.«

»Ich bin kein großer Scotchtrinker«, entgegnete ich und setzte mich in den Sessel gegenüber. Devereaux musterte mein Apartment. Sein Blick glitt beiläufig über die Möbel, die Flaschen auf dem Sideboard, die Bücher auf den Regalen. Doch diese Beiläufigkeit war genauso aufgesetzt wie bei einem Profigolfer, der sich zum Schlag bereitmacht.

»Sie haben viele Bücher«, sagte er, wobei er sich wieder mir zuwandte. »Haben Sie auch was von Hemingway?«

»Nein«, erwiderte ich. »Keinen Hemingway. Genauso wenig wie verschnittenen Scotch. Was kann ich für Sie tun, Mr. Devereaux?«

»Dex, bitte. Und was Sie für uns tun können ... Sie haben Detective Ferguson gegenüber John Largo erwähnt, glaube ich.«

Ich fragte ihn, ob er Largo kenne oder etwas über ihn wisse.

»Und was wissen Sie über John Largo?« Devereaux wandte den Blick von mir ab, während er vom Whiskey trank.

»Über Largo wusste ich bisher nur, dass sein Vorname John ist, und das auch nur, weil Jock es mir unbeabsichtigt verraten hat. Jetzt weiß ich, dass er ein richtig großer Fisch ist, weil jemand bereit ist, seinetwegen einen Privatdetektiv über den Atlantik zu schicken, der zwanzig Dollar die Stunde kassiert. Ich fürchte, das ist auch schon alles, was ich weiß. Außer dass jemand ihn kennt, der ein Freund von einem Vermissten war. Und der ist jetzt auch verschwunden.«

»Paul Costello. Ich habe Ihnen von seinem Vater erzählt«, warf Jock Ferguson ein. Devereaux nickte ungeduldig, ohne dass sein Lächeln verschwand. Der kurze Einwurf verriet mir alles über die Hierarchie in ihrer Beziehung. Es mochte Fergusons Stadt sein, aber Devereaux bestimmte, wo es bei diesem Fall langging. Wer immer Largo war, was immer er machte, er war ein hohes Tier.

»Wer ist denn der Freund Costellos, der vermisst wird?«, fragte Devereaux und trank wieder einen Schluck Whiskey. Erneut führte er Frage und Handlung mit professioneller Beiläufigkeit aus.

»Ich fürchte, das kann ich Ihnen nicht sagen, Mr. Devereaux.« Ich erwiderte sein Lächeln. »Berufliche Verschwiegenheit. Die Person, die mich beauftragt hat, möchte nicht, dass die Polizei sich einschaltet.«

»Sie sind Kanadier?«, fragte Devereaux.

»Richtig. New Brunswick. Saint John.«

»Das ist praktisch Maine. Ich bin aus Vermont.«

»Wirklich? Das ist praktisch Quebec.«

Devereaux lachte. »Da liegen Sie nicht falsch. Wussten Sie, dass wir den höchsten Anteil an Frankoamerikanern in den Staaten haben? Höher sogar als in Louisiana. Daher habe ich auch meinen Namen.« Er lachte. »Französisch-Vermont, meine ich, nicht Louisiana.«

»Klar. Ich wusste es übrigens. Wie Sie sagen, Neuengland ist gleich hinter der Grenze. Und New Brunswick ist zweisprachig.«

»Ah, ja ...« Devereaux gab einen übertriebenen Seufzer von sich. Ich hatte den Eindruck, dass unser Händedruck über den Ozean hinweg abrupt auseinanderriss. »Wissen Sie, Mr. Lennox, es wäre uns wirklich eine sehr große Hilfe, wenn Sie sich durchringen könnten, uns zu sagen, wer Ihr Klient ist.«

»Kann ich nicht machen, Mr. Devereaux. Als Rechercheagent sollten Sie das wissen. Aber ich helfe Ihnen gern in jeder anderen Hinsicht. Wer ist John Largo?«

Devereaux blickte in sein Glas. Jock Ferguson hatte seinen Whiskey nicht angerührt. Als Devereaux wieder aufsah, lächelte er noch immer, aber den Thermostaten hatte er ganz heruntergedreht.

»Sie können von uns nicht erwarten, dass wir Ihnen trauen, Mr. Lennox, wenn Sie uns nicht trauen. Seien wir ehrlich, ich habe Detective Fergusons Kollegen bei der Arbeit zugesehen. Die Polizei hier scheint sich ebenfalls sehr für Mr. Largo zu interessieren. Wenn Sie wegen Zurückhaltens von Beweismaterial festgenommen werden, könnte es ein langer und schmerzhafter Prozess werden.«

»Ich gebe meine Klienten nicht preis, Dex. Auch nicht, wenn man mich prügelt, auch nicht gegen Geld, und ganz bestimmt nicht, weil man mir droht.« Ich stand auf. »Ich glaube, die Herren sollten jetzt gehen.«

Devereaux hob beschwichtigend die Hände. »Okay, okay ... nur die Ruhe, Kollege. Die Wahrheit ist, ich kann Ihnen gar nicht besonders viel über Largo sagen. Aber Sie haben recht, er ist ein großer Fisch. Und er ist irgendwo hier in Glasgow. Ich habe von den Drei Königen gehört – eine lahmarschige Cosa-Nostra-Kopie. John Largo könnte diese drei Hampelmänner in null Komma nichts kaltmachen. Der Unterschied zwischen Largo und den Drei Königen ist wie der Unterschied zwischen einem Hai und einem Algenteppich. Der Hai weiß nicht, dass es die Algen gibt, und wenn er es wüsste, wäre es ihm egal, aber er kann das Universum der Algen mit einem Schlag seines Schwanzes vernichten. Nach allem, was wir über ihn wissen, steht John Largo eine Stufe über Verbrecherkönigen. Er stellt praktisch eine Bedrohung für die Sicherheit der Vereinigten Staaten dar. Eine besonders gefährliche, clevere und erfinderische Bedrohung.«

»Und was macht er in Glasgow?«

»Er hat in den letzten fünf Jahren etwas in die Wege geleitet, das die ganze Welt umspannt. Er hat verschiedene Elemente in verschiedenen Ländern zusammengefügt wie die Glieder einer Kette, und diese Kette führt hierher.«

»Lassen Sie mich raten ... Glasgow ist nur das vorletzte Kettenglied? Deshalb sind Sie gekommen.«

Devereaux’ Lächeln wurde breiter. Er wandte sich Ferguson zu. »Sie hatten recht, Jock. Er ist ein kluges Köpfchen.« Er sah wieder mich an. »Genau. Ihre Familie kommt hierher, oder? Ich meine, Sie sind schottischer Abstammung?«

»Ja. Wir sind von Port Glasgow ausgelaufen.«

»Genau. Zusammen mit Hunderttausenden ... nein, Millionen anderen. Russen, Juden, Deutsche, Polen. Sie alle kamen durch diesen Hafen, zusammen mit den gebürtigen Schotten, die nach Kanada und in die USA auswandern wollten. Das ist einer der großen Startpunkte, Lennox, so wie Marseille, Neapel oder Rotterdam. Nicht nur für Menschen. Largo will etwas in die Staaten bringen, und er hat Leute in New York, die darauf warten, dass es ankommt. Leute, die die Möglichkeiten haben, Largos Warensendung optimal zu nutzen.«

Ich trank von meinem Whiskey und nickte. »Lassen Sie mich raten. Diese Leute haben die USA nicht von Glasgow aus erreicht, sondern eher von Palermo oder Neapel.«

»Sie sind wirklich ein schlaues Kerlchen, Lennox. Ich hoffe nur, Sie sind schlau genug, um das ganze Bild zu sehen. Es ist ein verdammt großes Bild.«

»Woher soll ich wissen, dass Sie nicht von unseren spaghettiversessenen Neuamerikanern hergeschickt wurden?«, fragte ich.

Devereaux stieß ein Lachen aus, das mir nicht gefiel. »Detective Ferguson kann für mich bürgen. Und wenn er Ihnen nicht reicht, rufen Sie Superintendent McNab an. Die Stadt Glasgow ist sehr hilfsbereit.«

»Da zeigt sie sich doch wirklich großherzig«, erwiderte ich.

Eine Pause folgte, die schwangerer war als ein Mädchen aus Gorbals nach einem Wochenende in Largs.

Ich seufzte und sagte in meinem besten Okay-ihr-habt-mich-überzeugt-ich-packe-aus-Tonfall: »Gut ... die Sache ist so. Mein Klient steht in der Öffentlichkeit. Wie ich Jock schon sagte, suche ich einen Vermissten. Und der Vermisste ist ein Verwandter meines Klienten. Ein enger Verwandter. Als ich seine Wohnung durchsuchte, kam Paul Costello herein. Er hatte einen Schlüssel. Costello denkt, ich wäre ein Bulle. Als ich sage, dass ich keiner bin, fragt er mich, ob Largo mich geschickt hat. Am Ende diskutieren wir ein bisschen hitzig. Ich frage ihn, wer Largo ist, und er speist mich damit ab, dass Largo jemand ist, dem er Geld schuldet. Das ist alles. Ein paar Tage später ruft mich Costellos Papa zu sich, und ich erzähle ihm alles, was ich Ihnen gerade erzählt habe. Daraufhin eröffnet er mir, dass Paul verschwunden ist.«

»Genau wie der Verwandte Ihres Klienten?« Jock Ferguson nahm den ersten Schluck Whiskey.

»Das heißt noch nicht, dass es einen Zusammenhang gibt.«

»Was ist mit diesem Bobby Kirkcaldy?«, fragte Devereaux. »Jock sagt, Sie bearbeiten auch einen Fall, bei dem es um Kirkcaldy geht. Sie hätten Largo erwähnt, als Sie Jock über Kirkcaldy befragten.«

Ich winkte ab. »Nein, das steht in keinem Zusammenhang. Mir ist nur zufällig eingefallen, Jock nach Largo zu fragen, als ich sowieso schon mit ihm sprach. Ich habe mich in der ganzen Stadt nach Largo erkundigt. Niemand hat je von ihm gehört.«

»Das überrascht mich nicht«, sagte Devereaux. »Wie schon gesagt, Largo arbeitet auf einem ganz anderen Level.«

»Könnte es sein, dass wir vielleicht von zwei unterschiedlichen Largos sprechen? Wie schon gesagt, kannte ich nicht einmal den Vornamen, ehe Jock ihn erwähnte. Vielleicht geht es bei mir gar nicht um John Largo.«

»Das wäre möglich«, räumte Devereaux ein. »Aber wir wissen, dass er hier in Glasgow ist, und Ihr Hinweis ist die erste Spur seit Monaten.«

»Teufel noch mal, Lennox!«, machte Ferguson plötzlich seinem Unmut Luft. »Verraten Sie uns schon, wer Ihr Klient ist. Wir brauchen sonst nur zu Jimmy Costello zu gehen, und er wird es uns sagen.«

»Dann haben Sie es von ihm und nicht von mir. Und auf Costello als Informationsquelle würde ich mich nicht unbedingt verlassen.« Ich seufzte. »Hören Sie, ich habe Ihnen alles gesagt, was ich Ihnen sagen kann. Mehr gibt es nicht. Warum beenden wir die Pattsituation nicht, und Sie sagen mir, was Sie über Largo wissen und worin er verwickelt ist? Dann sage ich Ihnen, ob es zu irgendetwas passt, das hier vorgegangen ist.«

Devereaux erhob sich und setzte sich den Strohhut auf seinen perfekten, spiegelglatten Haarrasen. »Vielleicht machen wir das. Danke, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben, Lennox. Das nächste Mal gehen die Drinks auf mich«, sagte er mit seinem gewohnten gutmütigen Grinsen. Es lag an diesem Grinsen, dass ich nicht sagen konnte, wieso sein letzter Satz für mich wie eine Drohung klang.

***

Zehn Minuten, nachdem sie gegangen waren, klopfte es wieder an der Tür. Als ich öffnete, stand Fiona White vor mir. Sie trug ein blassrosa Hemdblusenkostüm mit umgelegten Manschetten und eine missbilligende Miene. Das Ensemble war mir mittlerweile vertraut.

»Bitte kommen Sie herein, Mrs. White«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass sie ablehnen würde. Sie betrat niemals meine Wohnung. Ihre hellgrünen Augen glänzten kalt, aber ich bemerkte, dass sie Lippenstift aufgetragen hatte.

»Mr. Lennox, ich habe Ihnen gesagt, was ich davon halte, wenn die Polizei bei mir klingelt. Nach Ihrer letzten Verhaftung ...«

Ich bremste sie mit erhobener Hand, als regelte ich den Verkehr. »Sie haben recht, Mrs. White. Einer der Herren, die mich besucht haben, ist tatsächlich Polizist. Aber Sie haben bestimmt auch bemerkt, dass der andere Mann Amerikaner war. Er ist in dem gleichen Beruf tätig wie ich.« Ich machte eine kurze Pause, damit diese beeindruckende Tatsache einsickerte: Ich war auf der internationalen Bühne tätig. Ich blickte erwartungsvoll in ihr Gesicht: Sie zeigte sich kein bisschen beeindruckt. »Die Männer waren nicht hier, um mich festzunehmen oder zu verhören, Mrs. White. Sie kamen als Kollegen, um bei einem Fall meine Meinung einzuholen. Und was den letzten Vorfall betrifft – ich dachte, die Sache wäre geklärt. Es war ein Missverständnis, zu dessen Klärung Sie selbst entscheidend beigetragen haben.«

Sie blickte mich kalt an. Ich wünschte mir von Herzen, ich könnte sie erwärmen, den letzten schwachen Funken von Weiblichkeit in ihr finden und ihn anhauchen, bis er wieder aufloderte. Und ich glaube, das wusste sie.

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihr Geschäft nicht von diesem Haus aus führten.«

»Detective Inspector Ferguson ist ein Freund von mir, Mrs. White. Seine Besuche bei mir sind ebenso privater wie beruflicher Natur. Wie Ihnen bekannt sein dürfte, ist es nicht meine Gewohnheit, Gäste hierher zu bringen, gleich welcher Art.« Das war die Wahrheit. Ich brachte nie Frauen mit ins Haus, und ich hatte getan, was ich konnte, um es von meinem restlichen Leben getrennt zu halten. Fast war es eine Zuflucht. Ich seufzte. »Bitte kommen Sie herein und setzen Sie sich, Mrs. White. Ich würde gern ein paar Dinge mit Ihnen bereden.«

»So?« Etwas noch Kälteres, Härteres fiel vor ihren Augen herunter wie ein Rollladen.

Ich mischte ein wenig Ungeduld in mein Lächeln und wies auf das Sofa. Fiona White gelang es irgendwie, ihr Nachgeben randvoll mit Unwillen zu übergießen, als sie an mir vorbeistolzierte. Sie setzte sich nicht aufs Sofa, sondern in den Sessel. Dann hockte sie in einer kerzengeraden, steifschultrigen Haltung auf der Kante, die keinerlei Behagen ausdrückte, nur Ungeduld.

»Was möchten Sie mit mir besprechen?«

»Ich wohne hier nun schon zwei Jahre, Mrs. White, und ich habe regelmäßig und pünktlich die Miete bezahlt, auch die sechs Monate im vergangenen Jahr, die ich außer Landes war. Ich mache keinen Lärm, betrinke mich nicht bis zur Besinnungslosigkeit, und singe am frühen Morgen keine Loblieder auf das schöne Irland. Ich bringe auch keine jungen Damen mit und zeige ihnen meine Briefmarkensammlung. Alles in allem betrachte ich mich als Idealbild des angenehmen Mieters.«

Fiona White sah mich schweigend an und bot mir unverändert ihren steinharten Widerstand. Wenn ich erwartet hatte, dass sie meinen Leumund als Mieter bestätigte, wurde ich enttäuscht.

»Ich habe den Eindruck, dass Sie mit mir als Mieter nicht zufrieden sind«, fuhr ich fort. »Wäre es Ihnen lieber, Sie hätten mich nicht als Mieter ins Haus geholt? Wenn das so ist, Mrs. White, dann sagen Sie es mir, und ich betrachte es als Kündigung.«

»Ob Sie bleiben oder nicht, ist allein Ihre Entscheidung, Mr. Lennox«, erwiderte sie, und hinter dem Eis zeigte sich ein Hauch von Feuer. »Ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir hören möchten. Mir kommt es eher so vor, als wären Sie mit mir als Vermieterin unzufrieden. Wenn mein Verhalten Sie kränkt, entschuldige ich mich dafür. Sollte das der Fall sein, steht es Ihnen selbstverständlich frei zu gehen.«

»Ich möchte nicht gehen, Mrs. White, aber ich möchte ungezwungen gelegentlich Besuch empfangen können oder dass Sie hin und wieder einen Anruf für mich entgegennehmen, ohne dass ich den Eindruck bekomme, dass es Ihnen zu weit geht. Mir ist natürlich klar, dass Sie sich nicht freiwillig entschieden haben, Ihr Haus aufzuteilen und einen Mieter aufzunehmen. Aber Sie haben es getan, und ich bin hier. Und wenn nicht ich es wäre, dann wäre es jemand anders. Ich bin nicht schuld an den Umständen, durch die diese Wohnung verfügbar wurde.« Ich stand auf und ging zur Anrichte. Ich nahm die gleiche Whiskeyflasche und goss mir ein Glas ein. Auf der Anrichte stand auch eine Flasche Williams and Humbert Walnut Brown Sherry, und ohne zu fragen, füllte ich damit ein Glas für Mrs. White und reichte es ihr. Einen Augenblick lang sah es aus, als würde sie den Kopf schütteln, doch dann nahm sie das Glas wortlos entgegen.

»Wenn Sie bleiben möchten, dann bleiben Sie«, sagte sie. »Aber erwarten Sie nicht von mir, dass ich Ihnen ein Verdienstabzeichen anstecke, nur weil Sie Ihren vertraglichen Pflichten als Mieter nachkommen.«

Sie trank einen Schluck Sherry ab. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich glaubte zu sehen, wie ihre starren Schultern sich ein wenig lockerten.

»Mir gefällt es hier«, erwiderte ich, »das sagte ich ja schon. Außerdem möchte ich für die Mädchen tun, was ich kann.« Damit meinte ich Fiona Whites Töchter.

»Wir sind nicht auf Mildtätigkeit angewiesen, Mr. Lennox. Wir brauchen nichts von Ihnen.« Das Tauwetter war kurz und trügerisch gewesen. Sie stellte das Sherryglas auf den Tisch und stand abrupt auf. »Wenn das alles ist, Mr. Lennox, gehe ich jetzt lieber zu den Mädchen zurück.«

»Was mögen Sie nicht an mir, Mrs. White?«, fragte ich geradeheraus. »Liegt es daran, dass ich Kanadier bin? Ist es mein Beruf? Oder nur der Umstand, dass ich hier bin?«

Das war es. Aus einem Kältehauch in der Luft wurde eine Eiszeit.

»Was soll das heißen?«

»Ich meine damit, dass ich hier bin. Dass ich wiedergekommen bin. Ich habe überlebt und Ihr Mann nicht. Manchmal glaube ich, Sie lehnen mich ab, weil ich für jeden stehe, der nicht im Krieg gefallen ist.«

Sie wandte sich ab, steuerte die Tür an. Ich huschte an ihr vorbei, legte meine Hand auf den Knauf und wollte ihr öffnen, doch sie missverstand meine Absicht und zerrte an meiner Hand. Ihr Griff war kräftig; warme, schlanke Finger umfassten mein Handgelenk.

Sie stand ganz nahe bei mir. Ich roch den Sherry in ihrem Atem. Den Geruch von Lavendel an ihrem Hals. Wir erstarrten, und unsere Blicke trafen sich. Sie atmete schwer. Ich atmete gar nicht. Die Sekunde schien sich ewig zu dehnen. Dann riss sie die Tür auf und stürmte die Treppe hinunter.

»Gute Nacht, Mr. Lennox«, sagte sie, den Rücken zu mir, mit schwankender Stimme.

»Mrs. White ... Fiona ...«

Sie erreichte das untere Ende der Treppe und warf die Wohnungstür hinter sich zu, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Ich kehrte in meine Wohnung zurück und nahm mir noch einen Whiskey, um mein diplomatisches Talent zu feiern und mich daran zu erinnern, wann ich das letzte Mal in einer Situation mit einer ähnlichen sexuellen Spannung gewesen war. Ich fragte mich beiläufig, was wohl aus Maisie MaxKendrie geworden sein mochte, mit der ich auf dem Gemeindefest der presbyterianischen Kirche von Saint John getanzt hatte, als wir beide fünfzehn gewesen waren.

Aber das war nicht alles, was mir durch den Kopf ging. Nachdenklich trank ich meinen Whiskey. Es gab vieles, worüber ich mir den Kopf zerbrechen musste.

Dex Devereaux zum Beispiel. Und wie es kam, dass die Polizei der Stadt Glasgow ihn so großherzig unterstützte. Bis an die Grenze der Unterwürfigkeit.