16

 

Das ganze Haus roch nach Rauch und verbrannter Matratze, aber alles in allem hätte es weit schlimmer kommen können. Claires Zimmer sah katastrophal aus, ihr Bett und die Vorhänge waren völlig verwüstet. Der Fußboden war versengt und an der Decke hatte der Rauch Flecken gebildet.

Trotzdem.

Shane kippte noch mehr Wasser auf die Matratze, die ohnehin schon völlig durchgeweicht war, und ließ sich neben Claire und Eve gegen die Wand fallen.

»Sie wundern sich jetzt wahrscheinlich, dass wir nicht gerade dabei sind, schreiend zu verbrennen«, sagte Eve. »Ich meine, logischerweise.«

»Geh nachschauen.«

»Geh doch selbst. Ich hatte eine miserable Nacht.«

Claire seufzte, stand auf und ging zu dem Fenster am anderen Ende des Zimmers, das nicht eingeschlagen war. Nichts zu sehen. Keine Vampire, was klar war, da inzwischen die Sonne am Himmel brannte, aber auch keine ihrer menschlichen Lakaien.

»Vielleicht sind sie alle vorne«, sagte sie der Stille hörte sie ganz deutlich... die Türklingel.

»Das kann ja wohl nicht wahr sein«, sagte Shane. »Hey, habt ihr Pizza bestellt? Spitzenidee! Ich bin am Verhungern.“

»Du bist wohl nicht ganz dicht«, schoss Eve zurück.

»Ja, weil ich so ausgehungert bin.«

Von unten war ein Krachen zu hören und Shane hörte auf zu lächeln. Seine Augen wurden dunkel und konzentriert. »Schätze mal, das war's«, sagte er. »Sorry, auf zum letzten Gefecht.«

Eve umarmte ihn ohne ein Wort. Claire ging hinüber und umarmte sie beide nacheinander, zuletzt Shane, damit sie sich mehr Zeit dafür lassen konnte. Die Zeit wurde jedoch knapp, denn sie hörte Schritte die Treppe heraufkommen und sie fühlte einen kalten Hauch über sich hinwegstreichen. Michael war bei ihnen. Vielleicht war es seine Version einer Umarmung.

»Stark bleiben«, flüsterte ihr Eve ins Ohr. Sie nickte und ergriff Eves Hand. Shane trat vor sie - das war genau das, was Shane immer tat, wie sie inzwischen wusste. Er nahm den Baseballschläger, den er aus dem Flur geholt hatte, und machte sich bereit.

»Das ist nicht nötig«, sagte eine helle, kühle Stimme vorn Flur her. »Du musst wohl Shane sein. Guten Tag, ich bin Amelie.«

Claire schnappte nach Luft und spähte hinter seinem breiten Rücken hervor. Es war die blonde Vampirin aus der Kirche, sie stand vollkommen cool und gelassen mit gefalteten Händen da. »Du kannst den Schläger weglegen«, sagte Amelie. »Du wirst ihn nicht brauchen, das versichere ich dir.«

Sie drehte sich um und ging wieder zur Tür hinaus. Die drei schauten einander an.

Ist sie weg?, artikulierte Eve mit den Lippen. Shane näherte sich dem Türrahmen und schaute hinaus, dann schüttelte er den Kopf. Was macht sie?

Ein paar Sekunden später wurde es offensichtlich, als ein schwaches Klicken ertönte und die Täfelung auf der anderen Seite aufsprang.

Amelie öffnete die Geheimtür und ging die Stufen hinauf.

»Ihr habt bestimmt einige Fragen«, rief sie herunter. »Ich übrigens auch, und es wäre klug, wenn wir sie uns gegenseitig beantworten würden. Wenn nicht, steht es euch natürlich frei zu gehen - aber ich muss euch warnen. Oliver ist nicht besonders glücklich. Und wenn Oliver nicht glücklich ist, neigt er dazu wie ein Kind um sich zu schlagen. Ihr seid noch nicht, wie man so schön sagt, aus dem Schneider, mes petits.«

»Gebt eure Stimme ab«, sagte Shane. »Ich bin dafür, dass wir gehen.«

»Bleiben«, sagte Eve. »Weglaufen nützt uns nichts, das weißt du selbst. Wir müssen uns zumindest anhören, was sie zu sagen hat.«

Sie schauten beide Claire an. »Ich darf abstimmen?«, fragte sie überrascht.

»Warum nicht? Du bezahlst schließlich Miete.«

»Oh.« Sie brauchte nicht darüber nachzudenken. »Sie hat mir heute das Leben gerettet. Ich glaube nicht, dass sie - na ja, vielleicht ist sie böse, aber sie ist nicht, ihr wisst schon, böse. Ich würde sagen, wir hören uns an, was sie zu sagen hat.«

Shane zuckte die Achseln. »Wie auch immer. Nach euch.«

***

Amelie hatte sich auf dem altertümlichen viktorianischen Sofa niedergelassen. Zwei weitere Vampire waren noch mit im Zimmer; sie trugen dunkle Anzüge und standen sehr still in einer Ecke. Claire schluckte schwer und unterdrückte das Bedürfnis, sich zurückzuziehen und ihre Entscheidung zu ändern. Amelie lächelte sie mit geschlossenen Lippen an und machte eine elegante Geste zum Sessel neben dem Sofa hin. »Claire. Ah, und Eve, wie entzückend.«

»Sie kennen mich?«, fragte Eve verblüfft. Sie schaute sich nach den anderen beiden Vampiren um.

»Natürlich. Ich achte immer auf die Enteigneten. Und deine Eltern sind mir besonders ans Herz gewachsen.“

»Yeah, großartig. Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte Shane unverblümt. Amelie betrachtete ihn einen Augenblick lang überrascht.

»Amelie«, antwortete sie, als ob das alles erklärte. »Ich dachte, du weißt, wessen Symbol du von Geburt an trägst, mein Lieber.«

Shane schaute sie - natürlich - sauer an. »Ich trage keine Symbole.«

»Stimmt. Jetzt nicht mehr.« Sie zuckte die Achseln. »Aber jeder in dieser Stadt trug eines, einschließlich derer, von denen du abstammst. Auf die eine oder andere Weise besitzt dich jemand mit Leib und Seele.«

Shane versuchte ausnahmsweise einmal keine Retourkutsche. Er starrte sie nur mir dunklen, zornigen Augen an. Es schien ihr nichts auszumachen.

»Du willst etwas fragen«, stellte Amelie fest. Shane zwinkerte. »Ja. Wie sind Sie hier hereingekommen? Oliver konnte es nicht“

»Eine ausgezeichnete Frage, gut ausgedrückt. Wäre ich irgendein anderer Vampir, wäre mir das nicht gelungen. Dieses Haus gehört jedoch in erster Linie mir. Ich habe es gebaut, genau wie mehrere andere solcher Gebäude in Morganville. Ich lebe abwechselnd in ihnen, und wenn ich dort wohnhaft bin, verteidigt mich ihre Schutzfunktion gegen jeden Feind, egal ob Mensch oder Vampir. Wenn ich nicht da bin, werden Vampire ausgeschlossen, wenn die Bewohner Menschen sind, und wenn die Bewohner Vampire sind, werden natürlich Menschen ausgeschlossen. Es sei denn, es wird eine entsprechende Einladung ausgesprochen.« Sie neigte ihren Kopf. »Ist deine Frage damit beantwortet?«

»Vielleicht.« Shane brütete ein bisschen darüber und sagte dann: »Warum haben diese Schutzfunktionen Michael nicht geschützt?«

»Er erteilte Oliver die Erlaubnis, einzutreten, und verwirkte damit den Schutz des Hauses. Das Haus hat jedoch getan, was es konnte, um ihn zu bewahren.« Amelie breitete ihre Hände aus. »Vielleicht half es auch, dass Oliver ihn eigentlich nicht töten, sondern nur verändern wollte.«

»In einen Vampir«, sagte Eve.

»Ja.«

»Ja! Ich wollte schon immer mal wissen, warum das nicht funktioniert. Ich meine, die Vampire beißen weiterhin, aber...«

Amelie schwieg. Sie schien nachzudenken oder Erinnerungen nachzuhängen; wie auch immer, es folgte eine lange, unbehagliche Stille, bevor sie sagte: »Kennt sich jemand von euch mit geometrischer Folge aus?«

Claire hob die Hand.

»Und wie viele Vampire würde es brauchen, um alle Menschen zu Vampiren zu machen, wenn es so einfach wäre?«

Amelie lächelte, als Claire den Mund öffnete. »Ich erwarte keine Antwort von dir, meine Liebe, aber wenn du eine mathematische Lösung dafür ausarbeitest, kannst du mir das irgendwann mal erklären, es würde mich sehr interessieren. Tatsache ist, dass wir schon einmal nah dran waren, als ich noch jung war und es weniger Menschen gab. Und man einigte sich darauf - wie ihr Menschen euch kürzlich auch geeinigt habt -, dass es vielleicht weise wäre, jagdbare Tiere zu schützen. Deshalb vernichteten wir das Wissen, wie man mehr Vampire erschafft, indem wir uns einfach weigerten, es zu lehren. Mit der Zeit ging das Wissen verloren, nur die Ältesten hatten es noch und heute ist es ganz verschwunden, abgesehen von zwei Orten.«

»Hier?«, fragte Claire.

»Hier«, sagte Amelie und berührte ihre Schläfe. »Und dort.« Sie deutete auf Shane.

»Was?«, platzten Claire und Eve heraus und Claire dachte: Oh, mein Gott, ich habe ihn geküsst und er ist ein Vampir! Aber Shane sah seltsam aus. Nicht direkt verwirrt. Eher schuldbewusst.

»Yeah«, sagte er und griff mit der Hand in die Tasche seiner Jeans. Er zog ein kleines Buch hervor. Auf dem Einband stand Shakespeare Sonette - Claire konnte es von dort, wo sie saß, lesen. »Das war alles, was mir eingefallen ist.«

Er kippte es seitlich und die Seiten glitten aus dem Einband. Sie waren sorgfältig aus beiden Rändern des Buchdeckels herausgeschnitten.

»Sehr clever«, sagte Amelie. »Du hast ihnen den Einband gegeben, gefüllt mit Wörtern, die sie nicht haben wollen, und behältst das, was wichtig ist, für dich. Aber was, wenn ich dir sagen würde, dass es der Einband ist, hinter dem sie her sind, und nicht der Inhalt?«

Er sah erschüttert aus. »Ich musste nach meinen Möglichkeiten spielen.«

»Kluger Spielzug«, sagte sie. »Ich habe euch schon gesagt, dass Oliver unglücklich ist, und zwar ist er das, weil ihm das« - sie deutete auf die Seiten - »durch die Lappen gegangen ist. Und so kommt es, dass ich euch um einen Gefallen bitte.«

Seine Augen leuchteten auf und er sagte: »Einen Gefallen? Eine Art Tauschgeschäft?«

»Ja, Shane. Ich würde das, was du in der Hand hältst, bekommen, und euch dafür versprechen, dass es das einzige Geschäft sein wird, auf das es ankommt, weil ich der einzige Vampir bin, auf den es ankommt. Ich werde das Buch nehmen und den letzten geschriebenen Bericht zerstören, in dem festgehalten ist, wie Vampire erschaffen werden. Dadurch wird mein dauerhaftes Überleben gesichert, da es meine Feinde nicht wagen werden, sich gegen mich zu stellen, aus Angst, das zu verlieren, was nur ich weiß.« Sie lehnte sich in die bauschigen Kissen zurück und beobachtete ihn gelassen. »Und dafür werdet ihr und alle in diesem Haus unter meinem Schutz stehen, solange ihr das wollt. Dadurch werden sämtliche kleinere Verträge, die ihr vielleicht abgeschlossen habt, hinfällig, zum Beispiel die Übereinkunft, die ihr mit Oliver durch Brandon getroffen habt«

»Oliver ist Brandons Boss?«, fragte Claire.

»Boss?« Amelie dachte darüber nach und nickte dann. »Ja. Genau. Ich kann Oliver keine Befehle geben, aber umgekehrt er mir auch nicht. Solange er die Geheimnisse, die ich hüte, nicht aufdeckt, kann er mich in Morganville nicht meiner Position entheben, und er kann sich nicht seine eigene Gefolgschaft erschaffen, um meine zu überwältigen. Wir sind einander ebenbürtig.«

Shane schaute auf das Buch in seiner Hand hinunter. »Und das hätte alles verändert.«

»Ja«, sagte sie leise. »Das Buch hätte uns letztendlich alle zerstört. Vampire ebenso wie Menschen. Ich schulde euch etwas dafür und ich will bezahlen, so gut es die Umstände erlauben.« Shane dachte eine quälende Sekunde lang darüber nach, dann schaute er Eve an. Sie nickte. Claire nickte ebenfalls, als er sie um ihre Zustimmung ersuchte, dann hielt er das Buch hoch. »Michael?«, fragte er. »Ja oder nein?« Nach einem weiteren langen Augenblick seufzte er. »Ich glaube, das war ein Ja. Na ja, alles, was Oliver sauer macht, ist eine gute Sache, deshalb...« Er hielt es Amelie hin.

Sie rührte sich nicht, um es zu nehmen. »Ihr müsst verstehen«, sagte sie und ihre Augen waren bitterkalt, »dass das nicht rückgängig gemacht werden kann. Euer Glass House bleibt, aber ihr seid aneinander gebunden. Danach kann keiner mehr von euch Morganville verlassen. Ich kann nicht riskieren, dass sich euer Wissen meiner Kontrolle entzieht“

»Na ja, wenn wir jetzt aussteigen, werden wir ohnehin geröstet, oder?« Shane hielt ihr das Buch noch immer hin. »Nehmen Sie es. Oliver hatte in einer Sache recht: Es bringt uns nur den Tod.«

»Au contraire«, sagte sie und sie nahm es mit ihren blassen, weißen Fingern aus seinen. »Es ist eigentlich eure Rettung.«

Sie stand auf, schaute sich im Zimmer um und stieß einen kleinen Seufzer aus. »Ich habe diesen Ort vermisst«, sagte sie. Und ich glaube, ich habe ihm auch gefehlt. Eines Tages werde ich zurückkommen.« Sie drückte auf den verborgenen Knopf auf' der Armlehne des Sofas und wandte sich ohne ein weiteres Wort zum Gehen.

»Hey, was ist mit den Cops?«, fragte Shane. »Ganz zu schweigen von all diesen Menschen, die heute versucht haben, uns umzubringen?«

»Sie unterstehen Oliver. Ich werde verbreiten, dass ihr nicht mehr behelligt werden dürft. Ihr dürft jedoch nicht weiter Unruhe stiften. Wenn ihr das doch tut und es eure eigene Schuld ist, dann werde ich gezwungen sein, meine Entscheidung noch einmal zu überdenken. Und das wäre sehr... ungünstig.« Sie schenkte ihm ein breites Lächeln. Mit Vampirzähnen. »Au revoir, Kinder. Passt in Zukunft besser auf das Haus auf.«

Ihre beiden Vamp-Bodyguards begleiteten sie. Rauch und Stille. Sie hörten danach keinen Laut auf der Treppe. Claire schluckte. »Hm... was haben wir da gerade getan?«, fragte sie. »So ziemlich das Einzige, was wir konnten«, sagte Shane. »Ich überprüfe mal die Straße.«

Es endete damit, dass sie alle drei zusammen nach unten gingen - Shane mit dem Baseballschläger, Eve mit dem Messer, das Jennifer zurückgelassen hatte, und Claire mit einem abgebrochenen Stuhlbein bewaffnet, das an einem Ende spitz war. Das Haus war verlassen. Die Eingangstür stand offen und draußen auf der Straße entfernten sich Polizeiautos von der Bordsteinkante vor und hinter dem schwarzen Cadillac. Auch eine Limousine fuhr weg. Die getönten Scheiben reflektierten die Sonne, dass es blendete.

In wenigen Sekunden war alles vorüber. Keine Autos, keine Vampire, niemand lungerte mehr herum. Keine Monica. Kein Richard. Kein Oliver.

»Shit«, sagte Shane. Er stand auf der Veranda und betrachtete etwas, das neben der Türklingel hing. Es war eine schwarz lackierte Plakette mit einem Symbol. Dasselbe Symbol wie auf dem Bucheinband, den er Oliver geschickt hatte. »Bedeutet das, dass sie auch das Buch geschrieben hat?“

»Ich wette, das hat sie, als Absicherung«, sagte Eve. »Weißt du, das Symbol befindet sich auch auf dem Brunnen im Stadtzentrum. Es ist das Symbol des Gründers.“

»Sie ist die Gründerin«, sagte Shane.

»Na ja, irgendjemand muss es ja sein.“

»Yeah, aber ich hatte mir vorgestellt, dass es jemand Totes ist“

»Komisch«, sagte Claire, »ich glaube, es ist jemand Totes.«

Das brachte Shane zum Lachen; Eve prustete los und Shane schlang die Arme um Claires Schultern. »Gibst du noch immer das College auf?«, fragte er.

»Nicht wenn ich die Stadt nicht verlassen kann.« Claire schlug sich an die Stirn. »Oh, mein Gott! Ich kann die Stadt nichtverlassen! Ich kann nie wieder diese Stadt verlassen? Was ist mit der Uni? Cal Tech? Meinen Eltern?«

Shane küsste sie auf die Stirn. »Darüber zerbrechen wir uns morgen den Kopf«, sagte er. »Ich bin jedenfalls im Moment einfach nur froh, dass es überhaupt ein Morgen gibt.«

Eve schloss die Eingangstür. Beim nächsten Luftzug schwang sie wieder auf. »Ich glaube, wir brauchen eine neue Haustür.“

»Ich denke, wir sollten in den Baumarkt fahren.“

»Verkaufen sie hier im Baumarkt auch Pfähle?«, fragte Claire. Shane und Eve schauten sie verständnislos an. »Dumme Frage. Vergesst es einfach.«