6

 

Die kalte Luft in der Lobby fühlte sich nach der Hitze draußen trocken und leblos an; Claire fröstelte und blinzelte rasch, damit sich ihre Augen an die relative Dunkelheit gewöhnten. Einige Mädchen saßen an Tischen, an die sie ihre Bücher lehnten; der Fernseher lief, aber niemand schaute hin.

Niemand sah sie an, als sie vorbeiging. Sie ging zum Glaskasten, in dem die Aufsichtsperson saß; die studentische Hilfskraft darin schaute von ihrer Zeitschrift auf, sah ihre blauen Flecken und formte mit dem Mund ein stummes Oh! »Hi«, sagte Claire. Ihre Stimme klang dünn und trocken und sie musste zweimal schlucken. »lch bin Claire aus dem Vierten. Ähm, ich hatte gestern einen Unfall. Aber ich bin okay. Alles in Ordnung.“

»Du bist die - sie suchen schon nach dir, oder?“

»Yeah. Sag bitte allen, dass ich okay bin. Ich muss jetzt los zum Unterricht.«

»Aber...«

»Sorry, ich muss mich beeilen!« Claire eilte zur Treppe und ging, so schnell ihr schmerzender Knöchel es erlaubte, hinauf. Sie kam an einigen Mädchen vorbei, die sie mit großen Augen anstarrten, aber niemand sagte etwas.

Monica war nirgends zu sehen. Weder auf der Treppe noch oben. Der Korridor war leer, alle Türen waren geschlossen. Aus drei oder vier Zimmern kam Musik. Sie hastete zum Ende des Korridors, wo sich ihr Zimmer befand, und wollte es aufschließen.

Der Knauf drehte sich schlaff in ihren Fingern. Na prima. Das war besser als jedes Graffiti, auf dem Monica war hier stand.

Das Zimmer war natürlich ein Trümmerhaufen. Was nicht kaputt war, war auf einen Haufen geworfen. Bücher waren verunstaltet - das schmerzte wirklich. Ihre wenigen Klamotten waren aus dem Schrank gezerrt und auf dem Boden verstreut worden. Einige der Blusen waren zerrissen, aber das war ihr eigentlich egal; sie sah sie durch, fand zwei oder drei, die noch heil waren, und stopfte sie in den Müllsack. Eine Jogginghose war noch in Ordnung, deshalb packte sie sie ebenfalls ein. Sie hatte Glück und fand noch einige schäbige Unterwäscheteile, die in der Schublade nach hinten gerutscht und nicht entdeckt worden waren, und stopfte sie auch in die Tüte.

Darüber hinaus noch ein Paar Schuhe, die Bücher, die sie retten konnte, und die kleine Tasche mit Make-up und Toilettenartikeln, die sie auf dem Regal neben ihrem Bett aufbewahrte. Ihr iPod war weg. Die CDs ebenso. Sie konnte nicht sagen, ob das Monicas Werk war oder das irgendeiner anderen Wohnheimratte, die später zum Plündern vorbeigekommen war.

Sie sah sich um, fegte die schlimmste Unordnung in eine Ecke und nahm das Foto von Mom und Dad von der Kommode, um es mitzunehmen.

Dann ging sie, ohne sich die Mühe zu machen, die Tür abzuschließen.

Gut, dachte sie zittrig. Das wäre jedenfalls geschafft. Sie war schon halb die Treppe unten, als sie aus dem zweiten Stock Stimmen hörte. »... schwör dir, sie war es! Du hättest ihr blaues Auge sehen sollen. Unglaublich. Du hast ihr echt eine gegongt.«

»Wo zum Teufel steckt sie?« Das war Monicas scharfe Stimme. »Und wie kommt's, dass keiner mich geholt hat?«

»Wir - haben wir doch!«, protestierte jemand. jemand, der so angstvoll klang, wie Claire sich plötzlich fühlte. Sie griff in ihre Tasche, griff nach dem Handy und umklammerte es, um sich sicherer zu fühlen. Sternchen zwei. Einfach Sternchen zwei drücken - Shane ist nicht weit weg und Eve ist gleich hier unten...

»Sie war oben in ihrem Zimmer. Vielleicht ist sie immer noch dort?«

Mist. Es gab niemanden in diesem Wohnheim, dem sie trauen konnte, zumindest nicht jetzt. Niemand würde sie verstecken oder zu ihr halten. Claire trat den Rückzug an, die Treppen hinauf in den dritten Stock. Dort ging sie zur Feuertreppe, riss die Tür auf und eilte die Betonstufen hinunter, so schnell sie sich traute. Sie duckte sich unter dem Glasfenster im Ausgang zum zweiten Stock durch und schaffte es bis zur Lobbytür, schwitzend und zitternd vor Anstrengung wegen ihres Rucksacks und des Müllsacks, der schmerzhaft an ihren ramponierten Muskeln zerrte; sie riskierte einen raschen Blick durch das Fenster in die Lobby.

Monicas Groupie Jennifer hielt Wache und beobachtete die Treppe. Sie sah angespannt und konzentriert aus und - so fand Claire - auch ein wenig ängstlich. Sie spielte dauernd mit dem Armband an ihrem rechten Handgelenk, drehte es immer wieder herum. Eins war sicher: In dem Moment, in dem Claire die Tür aufmachte, würde sie sie sehen. Sicher, vielleicht würde das nichts ausmachen; vielleicht könnte sie an Jen vorbei und zur Tür hinauskommen - sie würde sie nicht in aller Öffentlichkeit angreifen, oder?

Als sie Jennifers Gesicht betrachtete, war sie sich dessen nicht so sicher. Überhaupt nicht mehr sicher.

Einige Stockwerke über ihr flog die Tür zur Feuertreppe mit einem lauten Knall auf; Claire zuckte zusammen und schaute sich nach einem Versteck um. Die einzige Möglichkeit war unter den Betonstufen. Dort war eine Art Vorratsschrank eingepfercht, aber als sie den Knauf ausprobierte, war er verschlossen und sie hatte nicht Monicas Superpower beim Türenaufbrechen.

Außerdem hatte sie sowieso keine Zeit dafür. Schritte kamen die Treppe herunter. Sie konnte entweder darauf hoffen, dass die Person nicht nach hinten in die Ecke schaute, oder sie konnte sich durch die Tür flüchten. Claire berührte noch einmal das Handy in ihrer Tasche. Nur einen Anruf entfernt. Alles okay.

Und wieder ließ sie das Handy, wo es war, holte tief Luft und wartete ab.

Es war nicht Monica, sondern Kim Valdez, eine aus dem ersten Jahr wie Claire. Ein Musik-Freak, wodurch sie nur eine winzige Stufe über Claires Status rangierte, die als absoluter Oberfreak durchging. Kirn blieb für sich und sie schien sich vor Monica und ihrer Eskorte nicht allzu sehr zu fürchten. Sie war jedoch nicht freundlich. Nur... eigenbrötlerisch.

Kim schaute sie an, blinzelte ein-, zweimal und blieb dann stehen, bevor sie die Hand auf die Türklinke legte.

»Hey«, sagte sie. Sie schob die Kapuze ihres Sweatshirts zurück, unter der kurzes, schwarz glänzendes Haar erschien. »Sie suchen nach dir.“

»Ja, ich weiß.«

Kim hielt ihren Instrumentenkoffer in der Hand. Claire war sich nicht sicher, was für ein Instrument er enthielt, aber es musste groß und sperrig sein in seinem abgewetzten Kasten. Kim setzte es ab. »War das Monica?« Sie deutete auf Claires blaue Flecken. Claire nickte wortlos. »Ich wusste schon immer, dass sie ein Biest ist. Also. Du musst hier irgendwie raus?«

Claire nickte wieder und schluckte schwer. »Hilfst du mir?“

»Nee.« Kim ließ plötzlich ein lebhaftes Grinsen aufblitzen. »Nicht offiziell. Das wäre nicht besonders schlau.«

Nach einigen fieberhaften Sekunden stand der Plan fest: Claire machte den Reißverschluss an Kims Sweatshirt zu und zog sich die Kapuze tief ins Gesicht. Den Instrumentenkoffer hielt sie am Griff.

»Höher«, wies Kim sie an. »Kipp ihn, sodass er dein Gesicht bedeckt. Ja, genau so. Lass den Kopf unten.“

»Was ist mit meinen Taschen?«

»Ich warte ein paar Minuten, dann komm ich mit ihnen raus. Warte draußen. Und geh nirgends mit meinem Cello hin, hörst du? Sonst kannst du was erleben!«

»Mach ich nicht«, versprach sie. Kim öffnete ihr die Tür, sie nahm einen keuchenden Atemzug und drängte sich mit gesenktem Kopf hinaus; sie versuchte, so zu tun, als sei sie zu spät dran für die Probe.

Als sie an Jennifer vorbeikam, bedachte das Mädchen sie mit einem nachdenklichen Blick und wandte sich dann wieder ab, um sich auf die Treppe zu konzentrieren.

Claire fühlte einen heißen Adrenalinstoß, der sich anfühlte, als würde ihr Gesicht in Flammen aufgehen; sie widerstand dem Drang, den Rest der Strecke bis zur Tür zu rennen. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie die Lobby bis zu den Glastüren durchquert hatte.

Sie schwang gerade die Tür auf, als sie Monica sagen hörte: »Sie kann hier nicht rausgekommen sein! Durchsuch den Keller. Vielleicht ist sie durch den Müllschacht gerutscht wie ihre blöde Wäsche.«

»Ja, aber...«, war Jens lahmer Protest. »Ich will nicht runter in den...«

Sie ging trotzdem. Claire unterdrückte ein wildes Grinsen - hauptsächlich, weil es noch immer wehtat - und schaffte es, aus dem Wohnheim herauszukommen.

Das heiße Sonnenlicht empfand sie als Überraschung. Es fühlte sich so nach Geborgenheit an.

Claire sog einen tiefen Atemzug von der heißen Nachmittagsluft ein und bog um die Ecke, um auf Kim zu warten. Die Hitze staute sich brutal an den sonnenbeschienenen Mauern; es war stickig. Sie blinzelte in die Sonne und sah in der Ferne Eves Auto funkeln, das ganz hinten geparkt war. Da drin musste es noch viel heißer sein, dachte sie und fragte sich, ob Eve wohl schon den Ledermantel ausgezogen hatte, den ihr Gothic-Outfit erforderte.

Und gerade als sie das gedacht hatte, sah sie, wie ein Schatten von hinten auf ihren eigenen fiel; sie drehte sich halb um, aber da war es schon zu spät. Etwas Weiches und Dunkles blockierte ihre Sicht und verstopfte Mund und Nase; sie fühlte einen Druck auf ihrem Kopf, der sie aus dem Gleichgewicht brachte. Sie schrie oder versuchte es zumindest, aber jemand boxte ihr in den Magen, wodurch sich das mit dem Schreien und überwiegend auch mit dem Atmen erledigte. Claire sah schwachen, verschwommenen Sonnenschein durch das Gewebe des Stoffs über ihrem Gesicht, Schatten, und dann wurde alles dunkel. Nicht dass sie ohnmächtig geworden wäre oder so was, auch wenn sie sich nichts sehnlicher gewünscht hätte.

Der heiße Druck des Sonnenlichts verließ sie und dann wurde sie an einen dunklen, stillen Ort halb gezerrt, halb getragen. Dann eine Treppe hinunter.

Als sie aufhörten, sich vorwärtszubewegen, hörte sie Atmen und Flüstern, Geräusche von mehreren Personen, dann wurde sie hart nach hinten geschubst, sodass sie aus dem Gleichgewicht geriet und auf einen harten Betonboden fiel. Die Wirkung betäubte sie, und als sie sich aus der Tasche befreit hatte, die über ihren Kopf gestülpt war - offensichtlich ein schwarzer Rucksack - sah sie, dass ein ganzer Kreis Mädels um sie herumstand.

Sie hatte keine Ahnung, was das für ein Raum war. Vielleicht eine Art Lagerraum im Keller. Er war mit Krempel vollgestopft - Koffer, Schachteln, die mit Namen beschriftet waren, alles Mögliche. Einige der Schachteln waren aufgeplatzt und alte Kleider quollen wie blasse Gedärme aus ihnen hervor. Es roch nach vermoderndem Papier und Rost und sie nieste hilflos, als sich durch ihr hektisches Japsen Mund und Nase mit Staub füllten. Einige der Studentinnen kicherten. Die meisten taten gar nichts und sahen auch nicht besonders glücklich darüber aus, hier zu sein. Resigniert, schätzte Claire. Froh darüber, dass sie nicht selbst hier am Boden lagen.

Monica trat aus einer Ecke.

»Nun«, sagte sie und stemmte die Hände in die Hüften. »Sieh mal einer an, was die Katze da hereingeschleppt hat.« Sie funkelte Claire mit einem kalten Zahnpastawerbungslächeln an, als ob die anderen überhaupt nicht da wären. »Du bist weggelaufen, kleine Maus. Gerade als wir anfingen, Spaß zu haben.«

Claire täuschte eine weitere Niesattacke vor und Monica trat angewidert zurück. Claire fand heraus, dass es gar nicht so einfach war, Niesen vorzutäuschen, wie sie gedacht hatte. Es tat weh. Aber sie gewann dadurch Zeit und verschaffte sich Deckung, um das Handy aus der Tasche zu ziehen, es mit ihrem Körper zu verdecken und hastig Sternchen zwei zu wählen.

Sie drückte auf SENDEN, schob es zwischen zwei Kartons und hoffte, dass der blaue Schimmer der Tasten nicht Monicas Aufmerksamkeit erregen würde. Hoffte, dass Shane nicht gerade mit seinem iPod oder seiner Xbox beschäftigt wäre und das Telefon ignorierte. Hoffte, dass...

Hoffte einfach nur.

»Oh Mann, kommt schon, hoch mit ihr!«, befahl Monica. Ihre Monickettes traten vor, Jen packte Claire am einen Arm, Gina am anderen. Sie zerrten sie auf die Beine und hielten sie fest. Monica zog die Kapuze von Claires ramponiertem Gesicht und lächelte wieder, als sie den Schaden eingehend betrachtete. »Verdammt, Freak, du siehst ja höllisch aus. Tut das weh?“

»Was habe ich dir denn getan?«, platzte Claire heraus. Sie hatte Angst, aber sie war auch wütend. Zornig. Sieben Studentinnen standen um sie herum und unternahmen nichts, weil sie Angst hatten, und wovor? Vor Monica? Was zum Teufel gab den Monicas dieser Welt das Recht, alle zu beherrschen?

»Du weißt ganz genau, was du getan hast. Du hast versucht, mich bloßzustellen«, sagte Monica.

»Versucht?«, schoss Claire zurück, was dumm war, aber sie konnte den Impuls nicht unterdrücken. Es brachte ihr einen Schlag ins Gesicht ein. Einen heftigen Schlag. Direkt auf eine ihrer vorherigen Prellungen; das langsame, qualvoll glühende Pochen stellte ihr die Luft ab. Alles fühlte sich seltsam an, erschüttert durch die Wirkung von Monicas Schlag. Claire fühlte Druck auf ihren Armen und ihr wurde bewusst, dass die Monickettes sie aufrecht hielten. Sie machte die Beine etwas steif, öffnete die Augen und funkelte Monika an.

»Wie kommt es eigentlich, dass du in Howard lebst?«, fragte sie.

Monika, die ihre Knöchel auf blaue Flecken untersuchte, blickte in ehrlicher Überraschung auf.

»Was?«

»Deine Familie ist reich, oder? Du könntest in einem Appartement wohnen. Oder in einem Verbindungshaus. Wie kommt es, dass du mit uns anderen Freaks in Howard Hall wohnst?« Sie holte Luft, als sie die plötzliche kalte Glut in Monicas Augen sah. »Es sei denn, du bist selbst ein Freak. Ein Freak, dem es einen Kick gibt, Schwächere zu verletzen. Ein Freak, für den sich die ganze Familie schämt. Jemand, den sie hier verstecken, um ihn nicht immer vor Augen haben zu müssen.

»Halt den Mund«, zischte ihr Jennifer ins Ohr. »Du musst bescheuert sein! Sie wird dich umbringen - hast du das immer noch nicht kapiert?«

Sie zuckte mit ihrem Kopf zur Seite. »Ich habe gehört, du bist woanders aufs College gegangen«, fuhr Claire fort. Ihr Magen rebellierte, sie fühlte sich, als müsste sie sich gleich übergeben und sterben; alles, was sie tun konnte, war, auf Zeit zu spielen. Shane würde kommen. Eve würde kommen. Michael vielleicht. Sie malte sich aus, wie Michael mit diesen eisblauen Augen und diesem Engelsgesicht in der Tür stehen und Monica mit Blicken durchbohren würde. Yeah, das wäre cool. Monica würde dann gleich nicht mehr so großartig dastehen. »Was war los? Hast du es nicht gepackt? Das überrascht mich nicht; wer denkt, der Zweite Weltkrieg hätte in China stattgefunden, beeindruckt nicht...«

Sie sah den Schlag dieses Mal kommen und duckte sich, so gut es ging. Monicas Faust krachte auf ihre Stirn, was wehtat, aber Monica musste es um einiges mehr wehgetan haben, denn sie stieß einen kleinen schrillen Schrei aus und fuhr zurück, wobei sie die rechte Hand mit ihrer linken umklammerte. Dadurch wurde das schreckliche Pochen in Claires Kopf beinahe erträglich.

»Vorsicht«, keuchte Claire und kicherte fast. Der Schorf an ihrem Mund war aufgebrochen und sie leckte sich Blut von den Lippen. »Brich dir keinen Nagel ab. Denk daran, ich bin es nicht wert.«

»Richtig erkannt!«, schnauzte Monica sie an. »Lasst das Miststück gehen. Worauf wartet ihr noch? Los, macht schon! Glaubt ihr etwa, das Würstchen kann mir was anhaben?«

Die Monickettes schauten sich gegenseitig an und fragten sich offensichtlich, ob ihre Oberhexe den Verstand verloren hatte. Dann ließen sie Claires Arme los und traten zurück. Jennifer stieß gegen einen gewaltigen Stapel aus Schachteln und brachte eine Lawine aus Staub und alten Papieren ins Rollen, aber als Claire sie anschaute, starrte sie auf eine Stelle zwischen den Schachteln.

Die Stelle, wo Claire das Handy versteckt hatte. Jen musste es gesehen haben und Claire keuchte laut auf-, da sie plötzlich mehr Angst hatte, als sie gedacht hätte.

»Was zum Teufel starrst du so an?«, führ Monica Jen an und Jen wandte dem verfänglichen Handy sehr geflissentlich den Rücken zu und schlug die Arme übereinander; sie stand einfach da und versperrte die Sicht. Sie schaute Claire nicht an. Wow. Das ist... was? Nicht unbedingt Glück. Jennifer hatte schon zuvor Schwächen gezeigt. Und vielleicht war sie noch nicht ganz in Monicas Lager übergelaufen.

Vielleicht war sie nur einmal zu oft sauer auf Monica gewesen. Nicht dass sie in nächster Zeit auf Claires Seite überlaufen würde, aber...

Claire wischte sich das Blut von der Lippe und schaute die anderen Mädels an, die beklommen und unentschlossen dastanden. Monica war herausgefordert worden und hatte nicht gerade den Showdown geliefert, den alle - einschließlich Claire - erwartet hatten. Irgendwie seltsam. Es sei denn, Claire hatte noch einen weiteren Nerv getroffen außer dem in Monicas Fingerknöcheln.

Monica rieb sich die Hand und schaute Claire an, als sähe sie sie zum ersten Mal. Abschätzend. Sie sagte: »Dir hat wohl noch niemand die harten Fakten des Lebens erklärt, Claire. Fakt ist, wenn du plötzlich mal so verschwindest...« Sie deutete mit ihrem hübschen spitzen Kinn auf die staubigen aufgetürmten Schachteln. »... außer dem Hausmeister wird es niemand jemals erfahren oder sich darum scheren. Glaubst du, Mom und Dad wären aufgelöst? Vielleicht schon, aber wenn sie ihren letzten Cent dafür ausgegeben haben werden, ein Bild von dir auf Milchtüten drucken zu lassen und Gerüchten nachzujagen, nach denen du mit dem Freund einer anderen durchgebrannt bist? Sie werden es irgendwann hassen, überhaupt noch an dich zu denken. Morganville hat es wirklich drauf, Leute verschwinden zu lassen. Sie verschwinden niemals hier. Sondern immer irgendwo anders.«

Monica wollte sie nicht ärgern. Das war das Unheimliche daran. Sie redete sachlich und ruhig, wie in einer freundlichen Plauderei zwischen zwei Gleichgesinnten.

»Du willst wissen, warum ich in Howard wohne?«, fuhr sie fort. »Weil ich in dieser Stadt wohnen kann, wo ich will. Wie ich will. Und du - du bist lediglich ein wandelnder Organspender. Deshalb gebe ich dir einen guten Rat, Claire. Komm mir nicht mehr unter die Augen, sonst hast du deine eigenen die längste Zeit gehabt. Haben wir uns verstanden?«

Claire nickte langsam. Sie wagte nicht, woanders hinzuschauen. Monica erinnerte sie an einen wilden Hund, der einem an die Kehle springt, wenn man Schwäche zeigt. »Ja, wir haben uns verstanden«, sagte sie. »Du bist total psycho. Das hab ich kapiert.«

»Kann schon sein«, stimmte Monica zu und zeigte ihr ein langsames, merkwürdiges Lächeln. »Du bist ein schlauer kleiner Freak. Jetzt lauf aber davon, schlauer kleiner Freak, bevor ich es mir anders überlege und dich in einen dieser alten Koffer stecke, damit irgendein Architekt dich in hundert Jahren findet.«

Claire blinzelte. »Archäologe.«

Monicas Augen wurden frostig. »Besser, du fängst gleich damit an wegzulaufen.«

Claire ging zurück, dorthin, wo Jennifer stand, und griff hinter sie, um das Handy zwischen den Schachteln hervorzuholen. Sie hielt es Monica hin. »Bitte deutlich ins Mikrofon sprechen. Ich möchte sichergehen, dass meinen Freunden kein Wort entgeht.«

Eine Sekunde lang rührte sich niemand und dann lachte Monica. »Verdammt noch mal, Freak. Mit dir werden wir noch unseren Spaß haben.« Sie schaute über Claires Schulter hinweg. »Nicht, bevor ich es sage.«

Claire schaute über ihre Schulter. Dort stand Gina, direkt hinter ihr, und sie hatte eine Art Metallstange in der Hand.

Oh mein Gott. Etwas erschreckend Kaltes lag in Ginas Augen. »Sie bekommt schon noch, was sie verdient«, sagte Monica. »Und wir werden zuschauen. Aber hey, warum die Eile? Ich habe seit Jahren nicht mehr so viel Spaß gehabt.«

Claires Beine fühlten sich an, als hätten sie sich plötzlich in verkochte Spaghetti verwandelt. Sie wollte sich übergeben, wollte weinen, konnte aber nichts anderes tun, als die Tapfere zu spielen. Sie würden sie gleich hier unten umbringen, wenn sie merkten, dass sie blufft.

Sie ging an Gina vorbei, zwischen zwei der Mädels durch, die den Blickkontakt mit ihr mieden, und legte die Hand auf den Türknauf. Dabei warf sie einen Blick auf das Handy-Display.

KEIN SIGNAL.

Sie öffnete die Tür, ging hinaus und fand ihre Sachen im Gras, wohin man sie verschleppt hatte. Sie steckte das Handy in die Tasche, nahm die Sachen und ging hinüber zu Eves Auto auf dem Parkplatz. Eve saß noch immer auf dem Fahrersitz, ihr Gesicht war weiß wie das eines Clowns und sie sah verängstigt aus.

Claire warf den Müllsack auf den Rücksitz, als Eve fragte: »Was ist passiert? Haben sie dich gesehen?«

»Nein«, sagte Claire. »Lief alles gut. Ich hab jetzt Unterricht, wir sehen uns später. Danke, Eve. Hier, dein Telefon.« Sie gab es ihr. Eve nahm es, noch immer stirnrunzelnd. »Ich bin dann zu Hause, bevor es dunkel wird.«

»Besser ist das«, sagte Eve. »Im Ernst, Claire. Du siehst so - seltsam aus.«

Claire lachte. »Ich? Schau doch mal in den Spiegel!«

Eve zeigte ihr den Mittelfinger, aber auf dieselbe Weise, wie sie es bei Shane getan hätte. Claire griff sich ihren Rucksack, schloss die Autotür und sah zu, wie sich Eves großes schwarzes Auto entfernte. Zurück zur Arbeit, wie sie annahm.

Sie war schon halb auf dem Weg zum Chemielabor, als sie die Reaktion einholte, und sie setzte sich auf eine Bank und weinte still in ihre Hände.

Oh Gott, ich will nach Hause! Sie war sich nicht sicher, ob sie damit Michaels Haus meinte oder ganz nach Hause, in ihr Zimmer, in die Obhut ihrer Eltern.

Ich kann nicht aufgeben. Sie konnte es wirklich nicht. Sie hatte es in ihrem ganzen Leben noch nicht gekonnt, selbst dann nicht, wenn es das Schlauste gewesen wäre.

Sie rieb sich ihre verschwollenen Augen und ging in den Unterricht.

***

An diesem Nachmittag wurde sie von niemandem umgebracht. Nach den ersten paar Stunden hörte sie auf zu erwarten, dass das passieren würde, und konzentrierte sich auf den Unterricht. Ihre aufeinanderfolgenden Laborstunden waren nicht übel und in Geschichte wusste sie sogar die Antworten. Wetten, Monica hätte es nichtgewusst, dachte sie und schaute sich schuldbewusst im dämmrigen Klassenzimmer um, um zu sehen, ob Monica oder jemand aus ihrer Crew da war. Es war keine große Klasse. Sie sah niemanden, der vorhin mit im Keller gewesen war.

Sie schaffte es auch bis zum Lebensmittelladen, ohne umgebracht zu werden. Niemand stürzte sich auf sie, als sie Kopfsalat und Tomaten aussuchte oder als sie in der Schlange an der Kasse stand. Der Typ an der Fleischtheke hatte jedoch misstrauisch geschaut, fand sie.

Sie ging zu Fuß zurück zum Glass House und hielt, während der Nachmittag zu Ende ging, nach Vampiren Ausschau, wobei es ihr völlig bescheuert vorkam, überhaupt an so etwas zu denken. Sie begegnete niemandem außer anderen College-Studenten mit prallen Rucksäcken. Die meisten von ihnen waren in Gruppen unterwegs. Als sie den Bereich, in dem die Studenten einkauften, hinter sich gelassen hatte, waren die Läden geschlossen, die Lichter aus und die wenigen Leute, die unterwegs waren, schienen es eilig zu haben.

An der Ecke von Vom Winde verweht und The Munsters stand das Tor offen. Sie machte es hinter sich zu, schloss mit dem schimmernden neuen Schlüssel, den sie heute Morgen auf der Kommode gefunden hatte, die Tür auf und schlug sie hinter sich zu.

Am Ende des Gangs sah sie einen Schatten. Einen großen, breiten Schatten in einem schäbigen gelben T-Shirt und tief hängenden, ausgefransten Jeans. Barfuß.

Shane.

Er musterte sie einige Sekunden lang und sagte dann: »Eve hat deinen Krempel hoch in dein Zimmer gebracht.“

»Danke«

»Was ist das?«

»Zutaten fürs Abendessen.«

Er legte den Kopf ein wenig zur Seite und starrte sie weiterhin an. »Dafür, dass du so klug bist, baust du ganz schön Mist. Weißt du das eigentlich?«

»Ich weiß.« Sie ging auf ihn zu. Er rührte sich nicht. »Eve sagt, du hast Monica gar nicht getroffen.“

»Hab ich doch gesagt.«

»Weißt du was? Das kauf ich dir nicht ab.«

»Weißt du was?«, schoss sie zurück. »Das ist mir scheißegal. Tschuldige.« Sie drückte sich an ihm vorbei in die Küche und setzte ihre Taschen ab. Ihre Hände zitterten. Sie ballte sie zu Fäusten und begann, Sachen auf die Theke zu legen. Hackfleisch. Kopfsalat. Tomaten. Zwiebeln. Bohnenmus. Scharfe Soße, die, die sie so mochte. Käse. Saure Sahne. Taco-Shells.

»Lass mich raten«, sagte Shane von der Tür her. »Du kochst chinesisch.«

Sie gab ihm keine Antwort. Sie war noch immer sauer und - ganz plötzlich - hatte sie Angst. Sie wusste nicht, wovor. Vor allem. Vor nichts. Vor sich selbst.

»Kann ich dir irgendwie helfen?« Seine Stimme klang anders. Ruhiger, sanfter, fast schon freundlich.

»Schneid Zwiebeln«, sagte sie, auch wenn sie wusste, dass es nicht unbedingt das war, was er gemeint hatte. Er kam jedoch herüber, nahm die Zwiebeln und holte ein riesiges, furchterregend aussehendes Messer aus einer Schublade. »Du musst sie zuerst schälen.«

Er warf ihr einen bösen Blick zu, einen, mit dem er auch Eve bedacht hätte, und machte sich an die Arbeit.

»Hm - ich sollte wohl meine Mom anrufen«, sagte Claire. »Kann ich das Telefon benutzen?«

»Für Ferngespräche musst du bezahlen.«

»Klar.«

Er zuckte die Schultern, griff nach dem schnurlosen Telefon und warf es ihr heimtückisch zu. Sie hätte es beinahe fallen lassen und war ein bisschen stolz, dass sie es gefangen hatte. Sie zog eine große gusseiserne Bratpfanne unten aus dem Schrank und stellte sie auf die Arbeitsfläche, entfachte die Flamme auf dem Gasherd und fand das Öl. Während es sich erhitzte, überflog sie noch einmal das kleine Rezeptbuch, das sie im Laden gekauft hatte, und wählte dann die Nummer.

Ihre Mutter ging nach dem zweiten Klingeln dran. »Ja?« Ihre Mutter sagte niemals Hallo.

»Mom, ich bin's, Claire.«

»Claire! Wo hast du gesteckt, Kindchen? Ich versuche schon seit Tagen, dich zu erreichen!«

»Unterricht«, sagte sie. »Tut mir leid, ich bin nicht so oft zu Hause.«

»Bekommst du denn genug Schlaf? Wenn nicht, dann ruh dich mal ein bisschen aus, sonst wirst du noch krank - du weißt doch, wie du bist.«

»Mom, mir geht es gut.« Claire schaute stirnrunzelnd auf das Rezept auf der Arbeitsfläche vor ihr. Was genau hieß eigentlich sautieren? War das so etwas wie braten? Gewürfelt verstand sie. Das bedeutete einfach, die Sachen in Würfel zu schneiden, und Shane war gerade schon dabei. »Wirklich, alles okay jetzt.«

»Claire, ich weiß, dass es schwierig ist. Es war uns nicht recht, dass du auch nur die paar Hundert Kilometer entfernt auf die TPU gehst, Herzchen. Wenn du zurück nach Hause kommen würdest, wären dein Dad und ich so glücklich, dich wieder hier zu haben...!«

»Ehrlich, Mom, ich will nicht - es geht mir gut. Es ist schon okay. Der Unterricht ist wirklich gut« - das war nun wirklich überzogen - »und ich hab hier auch schon Freunde gefunden, die auf mich aufpassen.«

»Bist du sicher?“

»Ja, Mom.«

»Ich mache mir nur Sorgen. Ich weiß, dass du sehr reif bist für dein Alter, aber...« Shane öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Claire formte fieberhaft ihre Lippen zu einem NEIN NEIN NEIN und deutete auf das Telefon. Mom!, sagte sie lautlos. Shane hob kapitulierend die Hände und schnippelte weiter. Mom redete immer noch. Claire hatte einiges davon verpasst, aber sie glaubte nicht, dass es besonders wichtig gewesen sein konnte. »- Jungs, stimmt's?«

Wow. Moms Radar funktionierte sogar auf diese Entfernung. »Was hast du gesagt, Mom?«

»In deinem Wohnheim ist es nicht erlaubt, dass Jungs mit aufs Zimmer kommen, oder? Es gibt doch wohl eine Aufsichtsperson am Eingang, um das zu garantieren?“

»Ja, Mom. In Howard Hall sorgt 24 Stunden 7 Tage lang jemand dafür, dass die bösen, bösen Jungs nicht in unsere Zimmer kommen.« Das war eigentlich nicht gelogen, entschied Claire. Es war die reine Wahrheit. Die Tatsache, dass sie eigentlich nicht mehr in Howard Hall wohnte... na ja, das musste sie jetzt nicht unbedingt anbringen, oder?

»Das ist nicht witzig, Claire. Du bist sehr behütet aufgewachsen und ich möchte nicht, dass du...«

»Mom, ich muss jetzt los, ich muss noch zu Abend essen und ich hab noch haufenweise zu lernen. Wie geht's Dad?«

»Dad geht es gut, Schatz. Er lässt dich grüßen. Komm schon, Les, steh mal auf und sag Hallo zu deiner superklugen Tochter. Du wirst dir schon kein Bein dabei ausreißen.«

Shane reichte ihr eine Schüssel voll gewürfelter Zwiebeln. Claire klemmte sich den Hörer ans Ohr und gab eine Handvoll davon in die Pfanne. Zu ihrem Schrecken begannen sie sofort zu brutzeln; sie nahm die Pfanne vom Herd und ließ beinahe das Telefon fallen.

»Hi, Kleines. Was macht die Schule?« Das war typisch Dad. Kein Wie war dein Tag? oder Hast du schon Freunde gefunden? Nein, sein Motto war schon immer Augen auf das Ziel richten, der andere Kram ist dabei nur im Weg.

Sie liebte ihn trotzdem. »Der Unterricht ist großartig, Daddy.“

»Brätst du da gerade was? Sind warme Mahlzeiten im Wohnheim erlaubt? Zu meiner Zeit war das ja nicht so, kann ich dir sagen...«

»Ähm.., nein, ich hab mir gerade eine Cola aufgemacht.« Okay, das war eine glatte Lüge. Sie setzte hastig die Pfanne ab, ging zum Kühlschrank und nahm eine kalte Cola heraus, um sie zu öffnen. Bitte schön. Rückwirkend wahrheitsgemäß. »Wie fühlst du dich?«

»Bestens. Ich wünschte, alle würden aufhören, sich Sorgen um mich zu machen. Es ist ja nicht so, dass ich der Erste in der Geschichte bin, der sich einer kleinen Operation unterzieht.“

»Ich weiß, Daddy.«

»Die Ärzte sagen, ich sei in Ordnung.“

»Das ist großartig.«

»Ich muss jetzt aufhören, Claire, gleich läuft ein Spiel. Dir geht es gut da unten, oder?«

»Ja. Mir geht es gut. Daddy...“

»Was denn, Liebes?«

Claire biss sich auf die Lippen und nippte unentschlossen an ihrer Cola. »Weißt du irgendetwas über Morganville? Geschichte, so was in der Art?«

»Recherchierst du, was? Für ein Referat oder so was? Nein, ich weiß nicht viel darüber. Die Uni gibt es dort schon seit fast hundert Jahren, das ist alles, was ich darüber weiß. Ich weiß, du brennst darauf, auf eine der größeren Unis zu kommen, aber ich finde, du solltest ein paar Jahre in der Nähe von zu Hause verbringen. Wir haben ja über all das schon gesprochen.“

»Ich weiß, ich habe mich nur gefragt... es ist eine interessante Stadt, das ist alles.«

»Dann ist ja okay. Erzähl uns, was du herausfindest. Deine Mutter möchte dir noch Tschüss sagen.« Dad sagte das nie selbst. Noch bevor Claire »Tschüss, Dad!« gesagt hatte, war er weg und sie hatte wieder Mom in der Leitung. »Liebes, du rufst uns an, wenn du etwas auf dem Herzen hast, okay? Oh, ruf uns einfach an, egal, was passiert. Wir haben dich lieb!“

»Ich hab dich auch lieb, Mom. Bis dann.«

Sie legte das Telefon auf und starrte die brutzelnden Zwiebeln an, dann das Rezept. Als die Zwiebeln glasig wurden, gab sie das Hackfleisch dazu.

»So, endlich fertig damit, deine Familie anzulügen?«, fragte Shane und griff um Claire herum, um ein bisschen von dem geriebenen Käse aus der Schüssel auf der Theke zu angeln. »Tacos. Wunderbar. Ich bin verdammt froh, dass ich für jemanden gestimmt habe, der wenigstens was kann.“

»Das habe ich gehört, Shane!«, brüllte Eve vom Wohnzimmer herüber, gerade als die Tür zu krachte. Shane zuckte zusammen. »Du kannst das Bad am Wochenende selbst putzen!«

Shane zuckte zusammen. »Waffenstillstand!“

»Na also.«

Eve kam herein, sie war noch immer erhitzt von den Temperaturen draußen. Der größte Teil ihres Make-ups war dem Schweiß zum Opfer gefallen und darunter sah sie überraschend jung und hübsch aus. »Oh mein Gott, das sieht ja nach was Richtigem zum Essen aus!«

»Tacos«, sagte Shane stolz, als sei es seine Idee gewesen. Claire stieß ihm den Ellbogen in die Rippen oder versuchte es zumindest. Seine Rippen waren weit härter als ihr Ellbogen. »Autsch«, sagte er. Aber nicht so, als hätte es wehgetan.

Claire warf einen Blick aus dem Fenster. Die Nacht brach schnell herein, wie das in Texas jeden Abend der Fall war; die gleißende Sonne wich ganz plötzlich einem warmen, stickigen Zwielicht. »Ist Michael da?«, fragte sie.

»Ich denke schon«, sagte Shane und zuckte die Achseln. »Zum Abendessen ist er immer da.«

Die drei machten alles fertig und mitten in dem Fließbandverfahren, das sie entwickelt hatten - Claire stopfte das Fleisch in die Taco-Shells, Eve fügte die Garnierung hinzu, Shane schaufelte Bohnen auf die Teller -, schloss sich ein viertes Paar Hände der Reihe an. Michael sah aus, als wäre er gerade aufgestanden und hätte geduscht - nasse Haare, verschlafene Augen, Wassertropfen, die noch immer vom Kragen seines schwarzen Strickpullis hinunterliefen. Wie Shane trug er Jeans, war aber etwas förmlicher, da er Schuhe trug.

»Hey«, begrüßte er sie. »Das sieht gut aus.“

»Claire hat es zubereitet«, griff Eve ein, als Shane den Mund öffnete. »Lass jetzt bloß nicht Shane die Lorbeeren dafür ernten.“

»Wollte ich doch gar nicht!« Shane machte ein beleidigtes Gesicht.

»Klaaar.«

»Ich habe geschnippelt. Was hast du denn dazu beigetragen?“

»Hinter dir hergeputzt, wie immer.«

Michael schaute hinüber zu Claire und schnitt eine Grimasse. Sie lachte und nahm ihren Teller; Michael nahm seinen und folgte ihr hinüber ins Wohnzimmer.

Jemand - Michael, wie sie annahm - hatte den großen Holztisch neben den Bücherregalen abgeräumt und vier Stühle darum herumgestellt. Das Zeug, das vorher dort gestapelt war - CD-Hüllen, Bücher, Notenblätter -, war mit einer heiteren Gleichgültigkeit woanders hingeworfen worden. (Vielleicht, so berichtigte sie sich, war dies auch Shanes Idee gewesen.) Sie stellte ihren Teller ab und Eve knallte ihren unmittelbar daneben; danach schob sie ihr eine kalte Cola, eine Gabel und eine Serviette hin. Michael und Shane kamen herein, setzten sich und begannen, Essen in sich hinein zuschaufeln wie - na ja, wie Jungs eben. Eve knabberte daran. Claire war erstaunlich hungrig und war schon beim zweiten Taco, bevor Eve mit ihrem ersten fertig war.

Shane kehrte bereits mit Nachschub zurück.

»Hey, Kumpel«, sagte er, als er mit seinem vollen Teller zurückkehrte, »wann hast du denn mal wieder einen Gig?«

Michael hörte auf zu kauen, warf Eve einen Blick zu, dann Claire, kaute zu Ende und sagte: »Wenn ich dazu bereit bin.“

»Weichei. Du hattest eine schlechte Nacht, Mike. Spring wieder aufs Pferd oder was auch immer.« Eve warf Shane einen bösen Blick zu und schüttelte den Kopf. Shane ignorierte sie. »lm Ernst, Mann. Lass dich nicht von ihnen unterkriegen.“

»Tu ich ja gar nicht«, sagte Michael. »Es geht nicht immer nur darum, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen.“

»Nur meistens«, seufzte Shane. »Wie auch immer. Lass mich wissen, wenn du damit aufhören willst, wie ein Einsiedler zu leben.«

»Ich lebe nicht wie ein Einsiedler. Ich übe.«

»Als würdest du nicht gut genug spielen. Also bitte!«

»Keiner respektiert mich«, sagte Michael. Shane, der gerade damit beschäftigt war, einen weiteren Bissen in sich hineinzuschaufeln, schaute ihn spöttisch an.

»Jaja, ich weiß, eine Runde Mitleid für mich... Themenwechsel. Wie war eigentlich das heiße Date mit Lisa? Gemietete Bowlingschuhe machen sie wohl an?«

»Sie heißt Laura«, sagte Shane. »Yeah, sie war heiß, okay, aber wohl eher heiß auf dich - sagte die ganze Zeit, dass sie dich letztes Jahr drüben im Waterhouse gesehen hat und dass du so - wow - unglaublich warst. Es war wie eine Ménage-à-trois, außer dass du Gott sei Dank nicht dabei warst.«

Michael machte ein selbstzufriedenes Gesicht. »Halt die Klappe und iss.«

Shane zeigte ihm den Mittelfinger.

Alles in allem hatten sie einen schönen Abend.

***

Michael und Eve wuschen ab, sie hatten beim Münzwurf verloren; Claire lungerte im Wohnzimmer herum und war sich unschlüssig, was sie tun wollte. Lernen klang - langweilig, was sie überraschte. Shane konzentrierte sich auf die Game-Sammlung, seine nackten Füße hatte er auf dem Couchtisch aufgestützt. Ohne Claire direkt anzuschauen, sagte er: »Soll ich dir etwas Cooles zeigen?«

»Klar«, sagte sie. Sie erwartete, dass er ein Garne einlegte, aber er ließ es zurück auf den Stapel fallen, erhob sich von der Couch und trottete die Treppe hoch. Sie stand unten, starrte hinauf und fragte sich, was sie tun sollte. Shane erschien wieder oben an der Treppe und winkte ihr, ihm zu folgen.

Im ersten Stock war es natürlich ruhig, das Licht war dämmrig; sie blinzelte und sah, dass Shane schon halb den Gang hinuntergegangen war. Ging er in ihr Zimmer? Plötzlich stand ihr ein verrücktes, heißes Szenario vor Augen, in dem sie mit ihm auf dem Bett saß und knutschte... sie hatte keine Ahnung, weshalb ihr das jetzt in den Sinn kam, außer dass er einfach... yeah.

Shane schob ein Bild zur Seite, das zwischen ihrem und Eves Zimmer hing, und drückte darunter auf einen Knopf.

Auf der anderen Seite öffnete sich eine Tür in der Wand. Sie war in die Täfelung eingelassen und war ihr noch nie aufgefallen. Sie schnappte nach Luft und Shane strahlte, als hätte er soeben das Rad erfunden. »Cool, was? Das ganze verdammte Haus ist voll von solchen Sachen. Glaub mir, in Morganville lohnt es sich, die Verstecke zu kennen.« Er schob die Tür auf und eine weitere Treppe kam zum Vorschein, die er hinaufstieg. Sie hätte erwartet, dass sie staubig sei, war sie aber nicht; das Holz war sauber und gewienert. Shanes Füße hinterließen Abdrücke seiner Fußballen und Zehen.

Es war eine schmale Treppe, die aus nur acht Stufen bestand, eigentlich nur ein halbes Stockwerk und oben befand sich eine weitere Tür. Shane öffnete sie und knipste innen einen Schalter an. »Als ich das hier und den Raum hinter der Speisekammer zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich, alles klar, ein Vampirhaus. Was hältst du davon?«

Wenn sie an Vampire geglaubt hätte, hätte sie ihm recht gegeben. Es war ein kleines, fensterloses Zimmer und es war... alt. Nicht mal so sehr die antiken dunklen Sachen, die darin standen, sondern das Zimmer selbst vermittelte ein Gefühl von etwas Uraltem - etwas Unheilvollem. Und es war kalt. Kalt, mitten in einer texanischen Hitzewelle.

Sie schauderte. »Wissen die anderen von diesem Zimmer?“

»Ja, klar. Eve behauptet, dass es hier spukt. Das kann man ihr echt nicht verdenken. Mir jagt es auch verdammte Angst ein. Aber trotzdem cool. Wir hätten dich hier versteckt, als die Cops kamen, aber sie hätten durch das Fenster gesehen, wenn du aus der Küche gekommen wärst. Sie sind neugierig, die Mistkerle.« Shane ging über den dicken Perserteppich und ließ sich auf das dunkelrote viktorianische Sofa fallen. Eine Staubwolke erhob sich und er wedelte hustend mit der Hand. »Also, was meinst du? Glaubst du, dass Michael hier drin seine schlimmen untoten Tage verschläft, oder was?«

Sie blinzelte. »Was?«

»Ach komm schon. Du glaubst, er sei einer von ihnen, stimmt's? Weil er tagsüber nie auftaucht?«

»Ich - ich glaube gar nichts!«

Shane nickte mit gesenktem Blick. »Okay. Du wurdest also nicht hierhergeschickt.«

»Hierhergeschickt - von wem?«

»Ich habe ein bisschen nachgedacht... die Cops haben nach dir gesucht, aber vielleicht haben sie nur nach dir gesucht, um sicherzugehen, dass wir dich hierbehalten und nicht rausschmeißen. Also, wie ist das jetzt. Arbeitest du für sie?“

»Sie?«, wiederholte sie schwach. »Wer sie?« Shane sah sie plötzlich an und sie schauderte erneut. Er war nicht wie Monica, überhaupt nicht, aber auch ihm war es ernst. »Shane, ich weiß wirklich nicht, was du meinst. Ich kam nach Morganville, um aufs College zu gehen, und wurde zusammengeschlagen; ich kam hierher, weil ich Angst hatte. Wenn du mir nicht glaubst - nun ja, dann geh ich wohl besser. Hoffe, die Tacos haben geschmeckt.«

Sie ging zur Tür und hielt verwirrt an. Es gab keinen Türknauf. Hinter ihr sagte Shane ruhig: »Der Grund, weshalb ich diesen Raum für ein Vampirzimmer halte? Du kommst nicht raus, wenn du das Geheimnis nicht kennst. Das ist echt bequem, wenn man Opfer hier hochbringen möchte, um ein wenig an ihnen zu knabbern.«

Sie wirbelte herum und erwartete, dass er mit dem großen Messer dort stand, mit dem er die Zwiebeln geschnitten hatte. Und sie hatte wohl die erste Horrorfilmregel gebrochen, oder war es die zweite? Sie hatte jemandem vertraut, dem sie nicht hätte vertrauen sollen...

Aber er saß noch immer auf dem Sofa und ließ die Arme über die Rückenlehne baumeln. Völlig entspannt.

Er schaute sie nicht einmal an.

»Lass mich raus«, sagte sie. Ihr Herz hämmerte.

»Gleich. Aber erst sagst du mir die Wahrheit.«

»Das hab ich doch schon!« Und zu ihrer Wut und Beschämung fing sie an zu weinen. Schon wieder. »Verdammter Mist! Glaubst du, ich möchte dich verletzen? Oder Michael? Wie könnte ich? Ich bin diejenige, die dauernd verletzt wird!«

Er schaute sie an und sie sah, wie seine Härte dahinschmolz. Seine Stimme klang sanfter, als er sprach. »Und wenn ich Michael umbringen wollte, dann würde ich jemanden wie dich einsetzen, um das zu erledigen. Es wäre wirklich einfach für dich, jemanden zu töten, Claire. Das Essen vergiften, ihm ein Messer in den Rücken stoßen... ich muss auf Michael aufpassen.«

»Ich dachte, er passt auf dich auf.« Sie wischte sich verärgert über die Augen. »Warum glaubst du, dass ihn jemand umbringen will?«

Shane hob die Augenbrauen. »Einen Vampir möchte immer jemand umbringen.«

»Aber er ist keiner. Eve hat gesagt..,«

»Yeah, ich weiß, dass er keiner ist, aber er steht tagsüber nicht auf, er verlässt das Haus nicht und ich kann ihn nicht dazu bringen, mir zu erzählen, was passiert ist; also könnte er genauso gut einer sein. Und irgendjemand wird das früher oder später denken. Die meisten Menschen in Morganville stehen entweder unter einem Schutz oder sind ahnungslos - ungefähr so, wie man Kaninchen entweder als Kuscheltiere oder als Fleischlieferanten aufziehen kann. Aber einige von ihnen schlagen zurück.«

Sie blinzelte die Reste des kurzen Tränenausbruchs weg.

»Wie du?«

Er legte den Kopf auf die Seite. »Vielleicht. Wie ist es mit dir? Bist du eine Kämpferin, Claire?«

»Ich arbeite für niemanden. Und ich würde Michael selbst dann nicht töten, wenn er ein Vampir wäre.

Shane lachte. »Warum nicht? Mal abgesehen von der Tatsache, dass er dich zerquetschen würde wie eine Laus, wenn er einer wäre.«

»Weil.,. weil...«, sie konnte es nicht so richtig in Worte fassen. »Weil ich ihn mag.«

Shane betrachtete sie für ein paar weitere lange Sekunden und drückte dann auf eine kleine Erhebung auf dem geschnitzten Löwenkopf an der Armlehne des Sofas.

Die Tür klickte und öffnete sich einige Zentimeter. »Das wollte ich hören«, sagte er. »Nachtisch?«