13

 

»Weißt du«, sagte Shane zwanzig Minuten später, »ich würde mich, was uns beide angeht, sehr viel besser fühlen, wenn du nicht denken würdest, ich sei die Ansprechperson für Einbrüche.«

Sie standen auf Professor Wilsons Veranda und Claire spähte durch ein trübes Fenster in ein ebenso trübes Wohnzimmer. Ein schlechtes Gewissen überkam sie wegen des Einbruchs - sie hatte Shane tatsächlich angerufen. Aber kurz danach machte ihr Herz einen seltsamen kleinen Sprung, als sie sich daran erinnerte, dass er uns beide gesagt hatte.

Sie wagte es nicht, ihn anzuschauen. Bestimmt hatte er das gar nicht so gemeint. Bestimmt meinte er Freundschaft und so was. Er behandelte sie wie ein Kind. Wie seine Schwester. Er hatte nicht - er konnte nicht -

Aber was, wenn doch?

Und sie konnte es nicht fassen, dass sie ausgerechnet jetzt daran dachte, auf der Türschwelle eines toten Mannes. Durch die Erinnerung an Professor Wilsons schlaffen, gummiartigen Körper erlangte sie ihre Fassung wieder und sie konnte sich schließlich vom Fenster losreißen und Shanes Blick begegnen, ohne zu flattern wie ein erschrockener Spatz. »Na ja, Eve konnte ich schließlich schlecht fragen«, sagte sie sachlich. »Sie ist bei der Arbeit.«

»Macht Sinn. Hey, schau mal, was ist das?« Shane zeigte auf etwas. Sie wirbelte herum. Hinter ihr klirrte Glas, und als sie sich wieder umwandte, öffnete er gerade die Hintertür. »Bitte schön. Jetzt kannst du immer noch behaupten, dass du nicht wusstest, dass ich es tun würde. Du hast also kein Verbrechen begangen.«

Na ja, nicht direkt. Sie hatte noch immer den Metallzylinder über ihren Schultern hängen. Sie fragte sich, ob jemand darauf gekommen war, den TA aus dem Labor zu befragen. Sie hoffte nicht. Er war nett und auf seine Art war er auch mutig, aber sie hatte keine Zweifel daran, dass er sie in einer brenzligen Situation verraten und verkaufen würde. Es gab nicht viele Helden in Morganville.

Einer der letzten von ihnen wandte sich gerade im Flur zu ihr um und sagte: »Rein oder raus, Süße, es ist helllichter Tag.«

Sie folgte Shane über die Schwelle in Professor Wilsons Haus. Es war wirklich seltsam, sich vorzustellen, dass er vor ein paar Stunden noch hier war und sein Leben gelebt hat; das Haus schien auf ihn zu warten. Vielleicht weniger seltsam als vielmehr traurig. Sie kamen durch die Küche, wo noch eine Müslischale, ein Glas und eine Kaffeetasse im Abtropfsieb standen. Zumindest hatte der Professor noch gefrühstückt. Als sie das Geschirrtuch unter dem Sieb berührte, merkte sie, dass es noch immer feucht war.

»Hey«, sagte Shane. »Nach was suchen wir hier eigentlich?“

»Bücherregale«, sagte sie.

»Jau. Schon gefunden.« Er klang merkwürdig. Sie folgte ihm in das nächste Zimmer - das Wohnzimmer - und ihr Herz sank ein wenig. Warum hatte sie nicht daran gedacht? Er war Professor. Natürlich würde er abartig viele Bücher haben... und hier waren sie, vom Boden bis zur Decke, einmal rings um den ganzen Raum. In Regale gezwängt. Hier und auf dem Boden oder auf Tischen gestapelt. Sie hatte gedacht, das Glass House sei ein Leseparadies, aber das hier...

»Wir haben zwei Stunden«, sagte Shane. »Dann sind wir hier raus. Ich will nicht riskieren, dass du nach Einbruch der Dunkelheit noch draußen bist«

Sie nickte benommen und ging zur ersten Regalreihe. »Er sagte, es hätte einen schwarzen Einband. Vielleicht hilft das ja.«

Aber es half nichts. Sie zog alle schwarz eingebundenen Bücher heraus und stapelte sie auf dem Tisch; ebenso Shane. Als sie mit der Hälfte der Regale durch waren, war bereits eine Stunde vergangen und der Stapel war riesig. »Was zum Henker suchen wir eigentlich?«, fragte er, als er den Stapel anstarrte. Sie glaubte nicht, dass er ein Ich weiß es nicht als Antwort akzeptieren würde.

»Kennst du das Tattoo auf Eves Arm?« Shane reagierte wie von der Tarantel gestochen. »Wir suchen das Buch? Hier?«

»Ich...«, sie gab auf. »Ich weiß es nicht. Vielleicht. Es ist einen Versuch wert.«

Er schüttelte nur den Kopf und sein Gesichtsausdruck lag irgendwo zwischen Du musst verrückt sein und Du bist absolut erstaunlich. Aber nicht auf eine positive Art. Sie zog einen Stuhl heran und begann, die Bücher durchzublättern. Eines nach dem andern. Nichts... nichts... nichts...

»Claire.« Shanes Stimme klang komisch. Er gab ihr ein schwarzes, in Leder gebundenes Buch. »Schau dir das mal an.«

Es war zu neu. Sie suchten nach einem alten Buch, oder? Das war… das war eine Bibel. Mit einem Kreuz vorne.

»Schau mal rein«, sagte er. Sie öffnete sie. Die ersten paar Goldschnittseiten waren standardmäßig, sie enthielten die vertrauten Worte, mit denen sie aufgewachsen war und an die sie noch immer glaubte. Eve hatte gesagt, dass es einige wenige Kirchen in Morganville gab, oder? Vielleicht gab es dort Gottesdienste. Sie würde dem nachgehen.

Sie war halb durch das zweite Buch Mose durch, als die Seiten plötzlich hohl waren. Ein winziges Buch war in der Bibel versteckt. Es war alt. Sehr alt. Der Einband hatte Wasserflecken und ein Symbol zeichnete sich darauf ab.

Das Symbol.

Claire zog es aus der Bibel und öffnete es.

»Und?«, fragte Shane nach ein paar Sekunden. »Was ist damit?“

»Es ist -« Sie schluckte schwer. »Es ist auf Lateinisch.“

»Und? Was steht drin?«

»Ich kann kein Latein!«

»Das ist jetzt nicht wahr, oder? Ich dachte, alle Genies können Latein. Ist das nicht die Weltsprache der Klugscheißer?«

Sie ergriff ohne hinzusehen ein Buch und warf es nach ihm. Er duckte sich. Es fiel auf den Boden. Claire überblätterte einige Seiten in dem kleinen Buch. Es war in verblichener kupferfarbener Tinte verfasst, in einer dieser perfekten, wunderschönen Handschriften, die Hunderte von Jahren alt waren.

Sie hielt es tatsächlich in der Hand.

Und sie hatte noch vorgehabt, es zu fälschen.

»Wir verschwinden jetzt besser«, sagte Shane. »Im Ernst. Ich möchte nicht hier sein, wenn die Bullen vorbeikommen.“

»Denkst du, sie kommen?«

»Na ja, wenn der gute alte Professor Wilson aus den Latschen gekippt ist, nachdem er die Vampire heimlich beklaut hat, glaube ich schon, sie werden ein paar Cops rüberschicken, um die besten Stücke abzuschöpfen. Deshalb machen wir jetzt lieber den Abgang.«

Sie legte das Bändchen zurück in die Bibel und begann, alles in ihren Rucksack zu stopfen; dann hielt sie verzweifelt inne. Zu viel Kram. »Wir brauchen noch eine Tasche«, sagte sie. »Irgendwas Kleines.«

Shane kam mit einer Tüte aus der Küche zurück, verstaute die Bibel darin und schob Claire hinaus. Sie schaute ein letztes Mal zurück in Professor Wilsons einsames Wohnzimmer. Eine Uhr tickte auf dem Kaminsims und alles wartete auf ein Leben, das n1e wieder aufgenommen würde.

Sie hatte recht, es war traurig.

»Erst abhauen«, sagte Shane. »Dann trauern.«

Es war das perfekte Motto für Morganville.

***

Sie schafften es nach Hause, obwohl ihnen noch etwa eine halbe Stunde blieb, aber als sie um die Ecke in die Lot Street einbogen, in der die massive Gotik des Glass House die anderen, neueren Häuser darum herum winzig erscheinen ließ, wanderten Claires Augen sofort zu dem blauen Geländewagen, der am Bordstein geparkt war. Er kam ihr bekannt vor...

»Oh mein Gott«, sagte sie und blieb wie angewurzelt stehen.

»Okay, anhalten? Keine gute Idee. Komm schon Claire, lass uns...«

»Das ist das Auto meiner Eltern!«, sagte sie. »Meine Eltern sind da! Oh mein Gott! Den letzten Teil quiekte sie praktisch, und sie hätte sich umgedreht und wäre weggerannt, wenn Shane sie nicht hinten am Kragen ihres T-Shirts gepackt und herumgewirbelt hätte.

»Besser, du bringst es hinter dich«, sagte er. »Wenn sie deine Spur bis hierher verfolgt haben, werden sie nicht wegfahren, ohne dir Hallo zu sagen.«

»Oh, Mann! Lass mich los!« Er gehorchte. Sie zupfte ihr T-Shirt an den Schultern zurecht und starrte ihn an; er verbeugte sich extravagant.

»Nach Ihnen«, sagte er. »Ich halte dir den Rücken frei.«

Sie machte sich, zumindest vorübergehend, mehr Sorgen um das, was von vorne auf sie zukam.

Als sie die Eingangstür öffnete, konnte sie Eves ängstliche Stimme hören. »Ich bin sicher, dass sie bald kommt - sie hat Unterricht, wissen Sie, und...«

»Junge Frau, meine Tochter ist nicht im Unterricht. Ich war in ihrer Klasse. Sie war den ganzen Nachmittag nicht im Unterricht. Sagen Sie mir jetzt, wo sie ist, oder muss ich erst die Polizei rufen?«

Dad klang sauer. Claire schluckte schwer, unterdrückte den Drang, umzukehren, die Tür hinter sich zuzumachen und wegzulaufen - hauptsächlich weil Shane direkt hinter ihr war, und der fand das Ganze viel zu witzig, als dass er sie entkommen lassen würde. Sie ging den Gang entlang auf die Stimmen zu. Nur Eve und Dad bis jetzt. Wo war...

»Claire!« Sie würde diesen Schrei der Erleichterung überall wiedererkennen. Bevor sie Hi, Mom sagen konnte, war sie schon unter einer Umarmung begraben und in eine Wolke L'Oreal-Parfüm gehüllt. Das Parfüm hielt länger an als die Umarmung; Claires Mutter hielt sie auf Armeslänge von sich und schüttelte sie wie eine Stoffpuppe. »Claire, was hast du getan? Was machst du hier?«

»Mom...«

»Wir haben uns solche Sorgen gemacht, nachdem du diesen schrecklichen Unfall hattest, aber Les konnte sich erst heute freinehmen...«

»Es ist wirklich nicht so schlimm, Mom!«

»Und wir mussten einfach kommen, um dich zu sehen, aber dein Zimmer im Wohnheim ist leer. Du warst nicht beim Unterricht, Claire, was ist passiert? Ich kann nicht glauben, dass du so etwas tust!«

»Wie, so etwas?«, fragte sie seufzend. »Mom, würdest du bitte aufhören, mich zu schütteln, mir wird ganz schwindlig.«

Mom ließ sie los und verschränkte die Arme. Sie war nicht besonders groß - nur ein paar Zentimeter größer als Claire, sogar mit halbhohen Absätzen - aber Dad, der im Hintergrund Shane anfunkelte, war so groß und doppelt so breit wie dieser.

»Ist er das?«, fragte Dad. »Hat er dich in Schwierigkeiten gebracht?«

»Hab ich nicht«, sagte Shane. »Ich sehe nur so aus.«

»Halt die Klappe!«, zischte Claire. Sie konnte heraushören, dass er all das ziemlich witzig fand. Sie fand das gar nicht komisch.

»Shane ist einfach nur ein Freund. Wie Eve auch.«

»Eve?« Ihre Eltern schauten einander verständnislos an. »Du meinst..,« Gleichzeitig warfen sie Eve einen entsetzten Blick zu, die mit gefalteten Händen dastand und versuchte, so sittsam auszusehen, wie es eben möglich war, wenn man etwas anhatte, das wie die Kleidung einer Goth-Ballerina aussah - untenrum schwarzer Netzstoff, obenrum roter Satin. Sie setzte ihr liebenswürdigstes Lächeln auf, was ein wenig durch den roten Lippenstift (hatte sie sich etwa Mirandas ausgeliehen?) und die Totenkopf-Ohrringe beeinträchtigt wurde.

Mom sagte schwach: »Claire, du hattest früher so nette Freundinnen. Was ist denn aus Elizabeth geworden?“

»Sie geht auf die Texas A&M University, Mom.“

»Das ist doch kein Grund, nicht mehr befreundet zu bleiben.« Moms Logik. Claire beschloss, dass Shane recht hatte - da musste sie jetzt durch. Ebenso gut hätte sie ins Wasser springen können; die Haie zogen ihre Kreise, egal, was sie tat. »Mom, Eve und Shane sind zwei meiner Mitbewohner. Hier, in diesem Haus.«

Stille. Mom und Dad sahen aus wie tiefgefroren. »Les?«, sagte Mom. »Hat sie gerade gesagt, dass sie hier wohnt?«

»Junge Frau, du wohnst nicht hier«, sagte Dad. »Du wohnst im Wohnheim.«

»Nein, tu ich nicht. Ich wohne hier, und das ist meine eigene Entscheidung.«

»Das ist illegal! Dem Gesetz nach musst du auf dem Campus wohnen, Claire. Du kannst nicht einfach...«

Draußen vor dem Fenster zog die Nacht herauf, still und rasch wie ein Mörder. »Kann ich schon«, sagte Claire. »Ich habe es schon getan. Ich gehe nicht mehr dorthin zurück.“

»Nun, ich zahle nicht gutes Geld dafür, dass du in einem alten Schuppen hockst mit einem Haufen von...« Dad fehlten die Worte zu beschreiben, wie wenig er von Eve und Shane hielt. »...Freunden! Gehen die überhaupt aufs College?“

»Ich stehe im Moment zwischen zwei Hauptfächern«, bot Shane an.

»Halt die Klappe!« Claire war inzwischen den Tränen nahe.

»Okay, das war's. Hol deine Sachen, Claire. Du kommst mit uns.«

Jegliche Amüsiertheit wich aus Shanes Gesicht. »Nein, tut sie nicht«, sagte er. »Nicht bei Nacht. Sorry.«

Dad wurde rot im Gesicht und noch zorniger. Er deutete mit dem Finger auf sie. »Bist du deshalb hier? Ältere Jungs? Unter demselben Dach mit ihnen leben?«

»Oh, Claire«, seufzte Mom. »Du bist dafür noch zu jung. Du..,“

»Shane«, half Shane weiter.

»Shane, ich bin mir sicher, du bist ein absolut bezaubernder Junge« - sie klang nicht gerade überzeugt - »aber du musst verstehen, dass Claire ein ganz besonderes Mädchen ist, und sie ist noch sehr jung.«

»Sie ist noch ein Kind!«, unterbrach Dad sie. »Sie ist sechzehn! Und wenn du sie ausnutzt...«

»Dad!« Claire fühlte, dass ihr Gesicht wohl genauso rot war wie seines, aber aus ganz anderen Gründen. »Das reicht jetzt! Shane ist ein Freund von mir! Hör auf, mich zu blamieren!“

»Dich blamieren? Claire, was denkst du eigentlich, wie wir uns fühlen?«, brüllte Dad. In die folgende Stille hinein sagte Michael von der Treppe her milde: »Vielleicht ist es besser, wir setzen uns alle erst mal hin.«

***

Sie setzten sich nicht alle hin. Shane und Eve flüchteten sich in die Küche, von wo Claire das Klappern von Töpfen und wütendes Geflüster hörte; sie saß unbehaglich zwischen ihren Eltern auf der Couch, die sie wie Buchstützen umrahmten, und sah Michael, der im Ohrensessel saß, traurig an. Er wirkte ruhig und gesammelt, aber das war ja klar. Mom, Dad, das ist Michael, ein toter Typ... Yeah, das würde echt helfen.

»Ich heiße Michael Glass«, sagte er und streckte Claires Vater seine Hand hin, als seien sie sich ebenbürtig. Dad nahm sie überrascht und schüttelte sie. »Unsere beiden anderen Mitbewohner Eve Rosser und Shane Collins haben Sie ja schon kennengelernt. Sir, ich weiß, Sie machen sich Sorgen um Claire. Das sollten Sie auch. Sie lebt zum ersten Mal allein und sie ist jünger als die meisten anderen Kids am College. Ich kann es Ihnen nicht verübeln, dass Sie sich Sorgen machen.«

Dad, dem dadurch der Wind aus den Segeln genommen war, beschloss, sich stur zu stellen. »Und wer zum Kuckuck sind Sie, Michael Glass?«

»Mir gehört dieses Haus«, sagte er. »Ich vermiete ein Zimmer an Ihre Tochter.«

»Wie alt sind Sie?«

»Etwas über achtzehn. Shane und Eve ebenfalls. Wir kennen uns schon seit Langem und ehrlich gesagt wollten wir eigentlich keine weitere Person aufnehmen, aber...« Michael zuckte mit den Schultern. »Wir hatten noch ein leeres Zimmer und es ist günstiger, die Kosten durch vier zu teilen. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich Claire hier wohnen lassen sollte. Wir hatten deswegen eine Hausversammlung.«

Claire blinzelte. Hatte er? Hatten sie?

»Meine Tochter ist noch minderjährig«, sagte Dad. »Ich bin nicht glücklich über diese Angelegenheit. Ganz und gar nicht.«

»Sir, ich kann Sie verstehen. Ich war auch nicht besonders glücklich darüber. Es ist ein Risiko für uns, dass sie überhaupt hier ist.« Michael musste nicht deutlicher werden, bemerkte Claire. Ihr Dad verstand es voll und ganz. »Aber sie brauchte uns und wir konnten sie nicht abweisen.«

»Sie meinen, Sie konnten ihr Geld nicht abweisen«, sagte Dad und blickte ihn finster an. Anstatt einer Antwort ging Michael zu einer Holzschatulle, die auf dem Regal stand, und entnahm ihr einen Umschlag, den er Dad übergab.

»Das ist das Geld, das sie mir gegeben hat«, sagte er. »Der gesamte Betrag. Ich habe ihn für den Fall aufbewahrt, dass sie gehen möchte. Es ging nicht um Geld, Mr Danvers. Es ging um Claires Sicherheit.«

Michael warf ihr einen Blick zu und sie biss sich auf die Lippen. Sie hatte verzweifelt gehofft, dies vermeiden zu können, jetzt sah sie keinen Ausweg mehr. Sie nickte schwach und ließ sich nach hinten auf die Sofakissen sinken, wobei sie versuchte, sich kleiner zu machen. Noch kleiner.

»Claires Wohnheim ist nur für Mädchen«, wandte Claires Mom ein. Sie griff herüber und strich Claire abwesend über das Haar, so wie sie es getan hatte, als Claire noch klein war. Claire ließ es über sich ergehen. Tatsächlich mochte sie es insgeheim und musste dagegen ankämpfen, dass sie sich nicht an Moms Seite lehnte und sich umarmen ließ. Sich beschützen. »Sie war dort sicher, oder? Diese Monica sagte...«

»Du hast mit Monica gesprochen?«, fragte Claire scharf und schaute ihre Mutter mit großen Augen an. Mom runzelte die Stirn, ihr Blick war besorgt.

»Ja, natürlich. Ich versuchte herauszufinden, wo du abgeblieben bist, und Monica hat mir sehr weitergeholfen.“

»Darauf wette ich«, murmelte Claire. Die Vorstellung, dass Monica dort gestanden und ihre Mutter angelächelt, sie vermutlich unschuldig und freundlich angeschaut hatte, machte sie krank.

»Sie sagte, dass du hier wohnst«, endete ihre Mom noch immer stirnrunzelnd. »Claire, Schätzchen, warum in aller Welt wolltest du das Wohnheim verlassen? Ich weiß, du bist kein dummes Mädchen. Du hättest es nicht getan, wenn du nicht einen guten Grund dafür gehabt hättest«

Michael sagte: »Den hatte sie. Sie wurde schikaniert.“

»Schikaniert?« Mom wiederholte das Wort, als hätte sie keine Ahnung, was er damit meinte.

»Nach allem, was Claire mir erzählt hat, fing es klein an - die Erstsemester bekommen es immer von den Älteren ab. Das ist fies, aber nicht gefährlich. Aber sie erwischte das falsche Mädel auf dem falschen Fuß und sie wurde verletzt.“

»Verletzt?« Das war Dad, jetzt hatte er endlich etwas, an das er sich halten konnte.

»Als sie hierherkam, hatte sie so viele blaue Flecken, dass sie aussah wie eine Landkarte«, sagte Michael. »Ehrlich gesagt wollte ich die Cops rufen. Sie ließ es nicht zu. Aber ich konnte sie nicht dorthin zurückkehren lassen. Sie wurde nicht nur ein bisschen herumgeschubst... Ich glaube, ihr Leben war in Gefahr.«

Mom ließ ihre Hand erstarrt auf Claires Haaren ruhen und stöhnte leise.

»So schlimm ist es nicht«, tröstete Claire sie. »Ich meine, schau mal, ich habe mir nichts gebrochen oder so. Ich hatte eine Zeit lang einen verstauchten Knöchel und ein blaues Auge, aber...“

»Ein blaues Auge?«

»Es ist schon verheilt. Schau!« Sie klimperte mit den Wimpern. Moms Blick suchte mit peinlicher Sorgfalt ihr Gesicht ab. »Ehrlich, es ist vorbei. Verheilt. Alles ist jetzt wieder gut.«

»Nein«, sagte Michael. »Ist es nicht. Aber Claire geht gut damit um und wir passen auf sie auf. Vor allem Shane. Er - er hatte eine kleine Schwester und ihm liegt daran, für Claires Sicherheit zu sorgen. Darüber hinaus glaube ich aber, dass Claire auf sich selbst aufpassen kann. Und genau das sollte sie auch lernen, finden Sie nicht auch?«

Michael lehnte sich nach vorne, die Hände locker verschränkt, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Im Schein der Lampe hatten seine Haare einen goldenen Schimmer, seine Augen waren blau und engelhaft. Wenn irgendjemand vertrauenerweckend aussah, dann war es Michael Glass.

Natürlich war er tot und so, und Claire musste sich auf die Zunge beißen, um nicht in der Panik dieser Ausnahmesituation damit herauszuplatzen.

Mom und Dad dachten nach. Sie wusste, dass sie jetzt etwas sagen musste... etwas Wichtiges. Etwas, das verhinderte, dass sie sie nicht an den Ohren nach Hause schleppten.

»Ich kann nicht weggehen«, sagte sie. Sie sagte es aus tiefstem Herzen und meinte jedes Wort. Ihre Stimme blieb ausnahmsweise einmal absolut fest.

»Mom, Dad, ich weiß, dass ihr Angst um mich habt, und ich - ich liebe euch. Aber ich muss hierbleiben. Michael hat euch das nicht gesagt, aber sie haben sich für mich in die Schusslinie begeben und ich bin es ihnen schuldig zu bleiben, bis sich das alles geklärt hat und ich sicher sein kann, dass sie wegen mir keine Schwierigkeiten bekommen. Ich muss das einfach tun, versteht ihr? Und ich kann das. Ich muss das.“

»Claire«, sagte Mom mit schwacher, erstickter Stimme. »Du bist sechzehn! Du bist noch ein Kind!«

»Nein, bin ich nicht«, sagte sie schlicht. »Ich bin sechzehneinhalb und ich gebe nicht auf. Ich habe noch nie aufgegeben. Das wisst ihr doch.«

Allerdings wussten sie das. Claire hatte schon ihr ganzes Leben lang allen Schwierigkeiten getrotzt und ihre Eltern wussten das nur zu gut. Sie wussten, wie dickköpfig sie war. Und sie wussten, wie wichtig das für sie war.

»Das gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte ihr Dad, aber er klang jetzt unglücklich, nicht mehr böse. »Es gefällt mir nicht, dass du mit älteren Jungs zusammenwohnst. Außerhalb des Campus. Und ich möchte, dass diese Leute, die dich verletzen, aufgehalten werden.«

»Dann muss schon ich sie aufhalten«, sagte Claire. »Das ist mein Problem. Andere Mädchen in diesem Wohnheim werden auch verletzt, es geht also nicht nur um mich. Ich muss es auch für sie tun.«

Michael hob leicht die Augenbrauen, sagte aber nichts dazu. Mom wischte sich die Augen mit dem Taschentuch ab. Eve erschien im Türrahmen; sie trug eine riesige Schürze, auf der rote Lippen abgebildet waren, unter denen SIE DÜRFEN DIE KÖCHIN JETZT KÜSSEN stand; sie sah sie forschend an und schenkte Claires Eltern ein nervöses Lächeln.

»Abendessen ist fertig!«, sagte sie.

»Oh, wir können nicht«, sagte Mom.

»Von wegen wir können nicht...«, sagte Dad. »Ich bin am Verhungern! Ist das Chili?«

***

Das Abendessen war ungemütlich. Dad gab ein unverbindliches Grunzen hinsichtlich der Qualität des Chilis von sich. Shane sah die meiste Zeit aus, als könnte er nur mit Mühe sein Gelächter unterdrücken. Eve war so nervös, dass Claire dachte, sie würde demnächst von ihrem Stuhl flattern, und Michael… Michael war der Ruhige. Der Erwachsene. Noch nie zuvor hatte sich Claire so sehr wie das Kind am großen Tisch gefühlt.

»Nun, Michael«, sagte Claires Mutter, als sie einen Löffelvoll Chili genommen hatte. »Was machen Sie eigentlich so?«

Spukt in dein Haus rum, in dem er gestorben ist, dachte Claire und biss sich auf die Lippen. Sie trank rasch einen Schluck von ihrer Cola.

»Ich bin Musiker«, sagte er.

»Ach wirklich?« Ihre Miene hellte sich auf. »Was spielen Sie? Ich liebe klassische Musik!«

Nun sah sogar Michael unbehaglich aus. Shane hustete in seine Serviette und trank seine Cola in riesigen Schlucken, um seinen Schluckauf zu ertränken, den das unterdrückte Lachen hervorgerufen hatte.

»Klavier und Gitarre«, sagte er. »Aber hauptsächlich Gitarre. Akustische und elektrische Gitarre.«

»Hpmf«, sagte Claires Dad. »Taugt es was?«

Shanes Schultern bebten.

»Ich weiß nicht«, sagte Michael. »Ich arbeite hart daran.«

»Er ist sehr gut«, sprang Eve ein; ihre Augen glänzten und blitzten. »Wirklich, Michael, du solltest aufhören, so bescheiden zu sein. Du bist wirklich großartig. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du erfolgreich sein wirst, das weißt du genau!«

Michael schaute… nichtssagend. Ausdruckslos. Dadurch gelang es nicht unbedingt, den Schmerz zu verbergen, dachte Claire. »Irgendwann«, sagte er und zuckte die Achseln. »Hey, Shane, danke für das Abendessen. War gut, das Zeug.“

»Yeah«, sagte Eve. »Nicht schlecht.«

»Würzig«, sagte Dad, als wäre das ein Fehler. Claire wusste, dass er normalerweise über die Hälfte von dem, was er aß, Tabasco schüttete. »Könnte ich noch ein bisschen was zu trinken haben?«

Eve sprang wie der Blitz auf. »Ich hole es!«

Aber Dad saß an dem Ende des Tisches, das der Küche am nächsten war, und stand auf und ging in Richtung Küche. Michael und Shane wechselten einen Blick. Claire runzelte die Stirn und überlegte, weshalb die beiden so beunruhigt aussahen.

Sie saßen still da, als sich die Kühlschranktür öffnete, Flaschen klirrten und der Kühlschrank wieder zuging. Dad kam mit einer eiskalten Cola in der Hand zurück. In der anderen Hand hielt er ein Bier. Er stellte es in die Mitte des Tisches und funkelte Michael an.

»Möchten Sie mir jetzt vielleicht erklären, warum Bier im Kühlschrank steht, wenn eine Sechzehnjährige im Haus ist?«, fragte er. »Ganz abgesehen davon, dass keiner von euch alt genug ist, es zu trinken!«

Das war es dann also. An manchen Tagen, dachte Claire, konnte man einfach nicht gewinnen.

***

Ihr blieben zwei Tage, und das auch nur, weil Dad am nächsten Morgen zurück zur Arbeit musste und einverstanden war, dass sie ins Studentensekretariat ging, um den Papierkram zu erledigen. Michael hatte sein Bestes gegeben, aber selbst engelhaftes Aussehen und absolute Aufrichtigkeit hatten dieses Mal nicht ausgereicht. Shane hatte irgendwann aufgehört, es amüsant zu finden, und ging dazu über herumzuschreien. Eve hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Claire hatte vor Wut viel geweint. Tatsächlich war sie so böse, dass es sie kaum kümmerte, dass Mom und Dad in der Dunkelheit, ohne Schutz und ohne Vorwarnung, aus Morganville abfuhren. Michael kümmerte sich jedoch darum, indem er ihnen eine Geschichte von Autodieben erzählte, die in dieser Gegend angeblich Geländewagen klauten. Das war das Beste, was er tun konnte, und sowieso schon mehr, als Claire erwartet hatte.

Dad sah sie an, als wäre sie eine große Enttäuschung.

Sie war noch niemals zuvor eine Enttäuschung gewesen und sie war total sauer, da sie es kein bisschen verdient hatte.

Michael und Shane standen in der Haustür und beobachteten, wie ihre Eltern im Dunkeln zu ihrem Geländewagen eilten. Sie sah, dass Shane ein großes, handgeschnitztes Kreuz hatte und bereit war, zu ihrer Rettung zu eilen, obwohl er höllisch wütend war. Es war jedoch nicht nötig. Mom und Dad gelangten zu ihrem Auto und brausten durch die schweigende Nacht Morganvilles davon; Michael schloss die Tür, verriegelte sie und wandte sich zu Claire um.

»Sorry«, sagte er. »Das hätte besser laufen können.«

»Findest du?«, fuhr sie ihn an. Ihre Augen waren geschwollen und brannten; sie fühlte sich, als würde sie gleich explodieren, so wütend war sie. »Ich werde nicht fortgehen. Keine Chance!“

»Claire.« Michael legte ihr die Hände auf die Schultern. »Bevor du nicht achtzehn bist, hast du wirklich nicht das Recht, das zu sagen, okay? Ich weiß, du bist schon fast siebzehn und klüger als neunzig Prozent der Menschheit...“

»Hundert Prozent klüger als alle in diesem Haus«, fügte Shane hinzu.

»...aber darauf kommt es jetzt nicht an. Es wird noch darauf ankommen, aber nicht im Moment. Du musst tun, was sie sagen. Wenn du beschließt, gegen sie zu kämpfen, wird es hässlich, und, Claire, das können wir uns nicht leisten. Verstehst du?« Er suchte ihren Blick und sie musste einfach nicken. »Sorry. Glaub mir, ich wollte nicht, dass es auf diese Weise passiert, aber zumindest wirst du aus Morganville raus sein. Du wirst in Sicherheit sein.«

Er umarmte sie. Ihr blieb einen Augenblick lang der Atem weg, dann ging er davon.

Sie schaute Shane an.

»Na ja, ich werde dich jetzt nicht umarmen«, sagte er. Er stand so nahe bei ihr, dass sie ihren Kopf in den Nacken legen musste, um ihm in die Augen zu blicken. Und für ein paar lange Augenblicke sagten sie überhaupt nichts; er... betrachtete sie einfach. Sie hörte, dass Eve mit Michael im Wohnzimmer sprach, aber hier auf dem Flur war es sehr still. Sie hörte, dass ihr Herz schnell schlug, und fragte sich, ob er es auch hören konnte.

»Claire...«, sagte er schließlich.

»Ich weiß«, sagte sie. »Ich bin sechzehn. Das habe ich schon gehört.«

Er legte die Arme um sie. Nicht auf die Art, wie Michael das getan hatte - sie konnte nicht sagen, weshalb es anders war. Es war keine Umarmung; es war - es fühlte sich nah an.

Er hielt sich nicht zurück, das war es wohl. Und sie lehnte sich mit einem atemlosen Seufzer an ihn, die Wange an seiner Brust; fast hätte sie angefangen zu schnurren. Sein Kinn ruhte auf ihrem Kopf. Sie fühlte sich neben ihm so winzig, aber das war okay. Sie fühlte sich dadurch nicht schwach.

»Ich werde dich vermissen«, flüsterte er und sie lehnte sich zurück, um wieder zu ihm aufzuschauen.

»Echt?«

»Yeah.« Sie dachte wirklich, dass er sie küssen würde, aber dann hörte sie Eve nach ihm rufen. Er zuckte zusammen, zog sich zurück und der alte Shane, der rotzfreche Shane kam wieder zum Vorschein. »Du hast hier Leben in die Bude gebracht.«

Er schritt langsam den Gang hinunter und sie fühlte, wie sie in Wut ausbrach.

Jungs. Warum mussten sie immer solche Idioten sein?

***

Die Nacht spielte ihr die üblichen Streiche - unheimliche, knarrende Geräusche, der Wind, der am Fenster vorbeifauchte, trommelnde Äste. Claire konnte nicht schlafen. Sie konnte sich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass dieses Zimmer, dieses wunderbare Zimmer, nur noch für zwei Nächte ihr gehören würde; danach würde sie weggekarrt werden, gedemütigt und besiegt; zurück nach Hause. Ihre Eltern würden sie jetzt auf gar keinen Fall nochmals irgendwohin gehen lassen. Sie würde die nächsten anderthalb Jahre warten müssen, was bedeutete, dass sie all ihre Zulassungspapiere noch einmal würde ausfüllen müssen und wieder ganz von vorne anfangen müsste…

Zumindest war es nun gleichgültig, wenn sie Unterricht schwänzte, dachte sie und boxte ihr Kissen mehrmals in eine bequemere Form.

Wenn sie geschlafen hätte, wenn sie auch nur ein bisschen eingeschlafen wäre, hätte sie das Klopfen an der Tür nicht bemerkt, weil es so leise war, aber sie war aufgekratzt und voller ruheloser Energie, deshalb schlüpfte sie aus dem Bett und öffnete.

Es war Shane. Er stand dort und wäre offensichtlich gern hereingekommen, traute sich aber nicht und war so unsicher, wie sie ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Er trug ein weites T-Shirt und eine Jogginghose und war barfuß; sie fühlte, wie eine heiße Woge von - etwas - über ihr zusammenschlug. In diesen Klamotten schlief er wohl. Oder... vielleicht in weniger.

Okay, sie musste wirklich aufhören, darüber nachzudenken. Einen Augenblick später wurde ihr bewusst, dass sie selbst in einem dünnen, übergroßen T-Shirt dastand - eines von Michaels alten - mit Beinen, die ab der Mitte des Oberschenkels unbedeckt waren. Halb nackt wäre nicht übertrieben.

»Hi«, sagte sie.

»Hi«, sagte Shane. »Habe ich dich aufgeweckt?«

»Nein. Ich konnte nicht schlafen.« Sie war sich äußerst bewusst, dass ihr Bettzeug im Hintergrund völlig zerwühlt war. Hm, möchtest du, ähm... hereinkommen?«

»Besser nicht«, sagte er leise. »Claire, ich...« Er schüttelte den Kopf, sodass sein braunes Haar in Bewegung geriet.

»Ich sollte eigentlich gar nicht hier sein.«

Aber er ging auch nicht weg.

»Nun«, sagte sie, »ich setze mich hin. Wenn du da stehen bleiben willst - bitte.«

Sie ging zum Bett und setzte sich vorsichtig, Beine zusammen, ganz sittsam und anständig. Ihre Zehen berührten kaum den Teppich. Sie fühlte sich lebendig und prickelnd. Sie schaute auf ihre Hände hinunter, auf die abgeknabberten Fingernägel, und fummelte nervös an ihnen herum.

Shane machte zwei Schritte ins Zimmer. »Ich möchte, dass du in den nächsten beiden Tagen das Haus nicht verlässt«, sagte er. Das war nicht das, was sie erwartete hatte. Absolut nicht. »Dein Dad denkt ohnehin schon, dass wir dich abfüllen und wilde Orgien veranstalten. Das Letzte, was ich möchte, ist, dass wir dich mit einem Vampirbiss im Hals zurückschicken. Oder in einem Sarg.« Seine Stimme wurde leiser. »Das würde ich nicht ertragen. Echt nicht. Das weißt du, oder?«

Sie schaute nicht auf. Er kam noch einen Schritt näher und seine nackten Füße und seine Jogginghose gerieten in ihr Blickfeld. »Claire. Du musst es mir versprechen.«

»Das kann ich nicht«, sagte sie. »Ich bin kein kleines Mädchen mehr. Und ich bin nicht deine Schwester.«

Er lachte kehlig. »Oh, yeah. Ich weiß. Aber ich möchte dich nicht wieder verletzt sehen.«

Er umfasste ihr Kinn mit der Hand und tauchte es in Wärme; dann hob er ihr Gesicht.

Die ganze Welt schien stillzustehen in einem vollkommenen Augenblick der Ruhe. Claire dachte, dass nicht einmal ihr Herz schlug.

Seine Lippen waren warm und weich und süß und das Gefühl blendete sie, versetzte sie in Unsicherheit und Angst. Ich habe noch nie... niemand hat je... ich mache es nicht richtig. Sie hasste sich selbst dafür, dass sie nicht wusste, wie sie ihn küssen sollte, wusste, dass er sie mit all diesen Mädels verglich, diesen Mädchen, die er schon geküsst hatte und die besser waren als sie.

Es hörte auf. Ihr Herz klopfte so rasch, dass es sich anfühlte, als würde ein Vogel in ihrer Brust flattern. Sie errötete und es wurde ihr warm und heiß, so warm...

Shane drückte seine Stirn an ihre und seufzte. Sein Atem wärmte ihr Gesicht und dieses Mal küsste sie ihn, wobei sie sich von ihrem Instinkt leiten ließ und ihm erlaubte, sie auf die Füße zu sich hinaufzuziehen. Ihre Hände umklammerten sich, die Finger ineinandergeschlungen, und Körperteile von ihr - Teile, die sie sonst immer nur allein aufgewärmt hatte - gingen in Flammen auf.

Als sie das nächste Mal Luft holten, zog er sich komplett zurück. Sein Gesicht war rot, seine Augen glänzten. Claires Lippen fühlten sich geschwollen an, warm und angenehm feucht.

Oh, dachte sie. Ich glaube, ich hätte das mit der Zunge machen sollen. Theorie in Praxis umzusetzen war schwierig, wenn das Gehirn kurz vor einem Kurzschluss stand.

»Okay«, sagte Shane. »Das - das hätte nicht passieren sollen.“

»Wahrscheinlich nicht«, gab sie zu. »Aber ich gehe in zwei Tagen weg. Es wäre blöd gewesen, wenn ich dich niemals geküsst hätte.«

Sie war sich nicht sicher, wer dieses Mal wen küsste. Vielleicht wurde die Schwerkraft aufgehoben, explodierten Sterne. Es fühlte sich jedenfalls so an. Er legte dieses Mal seine Hände um ihr Gesicht, streichelte ihr Haar, ihren Hals, ließ sie hinunter zu ihren Schultern wandern...

Sie keuchte in seinen offenen Mund und er stöhnte. Stöhnte. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass sie so von einem Gefühl durchdrungen sein könnte, das wie ein Blitz durch ihre Haut und ihre Nerven fuhr.

Genau da hielten seine Hände an und verweilten auf ihren Hüften.

Als sich ihre Zungen zärtlich forschend und feucht berührten, bekam sie weiche Knie. Eine Erschütterung durchlief ihre Wirbelsäule. Shane legte seinen rechten Arm um ihre Taille, drückte sie an sich und legte ihr die linke Hand auf den Hinterkopf.

Okay, jetzt wurde geknutscht. Richtig geknutscht. Nicht nur so ein Küsschen vor dem Auszug, kein Abschiedskuss. Das war ein Hallo, sexy und wow, sie hätte nicht gedacht, dass es sich so anfühlen würde.

Als er sie losließ, sank sie wieder auf das Bett und saß dort völlig schwach; wenn er ihr folgen würde, dachte sie, dann würde sie sich nach hinten fallen lassen und...

Shane machte zwei große Schritte rückwärts, dann drehte er sich um und ging in den Flur hinaus. Er hatte ihr den Rücken zugewandt. In einer traumartigen Trance betrachtete sie die starken, großen Muskeln auf seinem Rücken, die sich unter dem T-Shirt bewegten, wenn er tief einatmete.

»Okay«, sagte er schließlich, wandte sich um, blieb aber auf dem Gang stehen. »Okay, das hätte nun echt nicht passieren dürfen. Und wir werden nicht darüber reden, einverstanden? Niemals.«

»Einverstanden«, sagte sie. Sie fühlte sich, als würde Licht von ihren Fingerspitzen tropfen und sich über ihre Zehen ergießen. Sie fühlte sich voll Licht, voll warmem, butterweichem Sonnenlicht.

»Ist nie passiert«

Er öffnete den Mund, dann schloss er ihn wieder und machte die Augen zu. »Claire...«

»Ich weiß.«

»Schließ die Tür ab«, sagte er.

Sie stand auf und machte sie zu bis auf einen Spalt. Sie warf einen letzten Blick auf ihn, machte die Tür zu und schob den Riegel vor.

Sie hörte, wie etwas dumpf dagegen schlug. Shane war auf der anderen Seite zusammengesunken; sie wusste es einfach.

»Ich bin ein toter Mann«, murmelte er.

Sie ging zurück ins Bett und lag bis zum Morgen einfach nur voller Licht da.