9

 

Als sie erwachte, lag sie auf der Seite und es war ihr schön warm. Sie war schläfrig. Jemand saß neben ihr, ein junge; sie blinzelte zweimal und erkannte, dass es Shane war. Shane war in ihrem Zimmer. Nein, Moment, das war nicht ihr Zimmer; sie war woanders...

»Notaufnahme«, sagte er. Sie muss wohl verwirrt ausgesehen haben. »Verdammt, Claire, sag nächstes Mal gefälligst Bescheid, bevor es dich auf die Fresse legt. Ich hätte den Helden spielen und dich auffangen können oder so.«

Sie lächelte. Ihre Stimme war träge und langsam. »Du hast Gina gefasst.« Das war lustig, deshalb sagte sie es noch einmal. »Du hast Giiiiina gefasst«

»Yeah, haha, und du bist high wie ein Drachen. Sie haben übrigens deine Eltern angerufen.«

Sie brauchte eine Weile, bis sie kapierte, was er eben gesagt hatte. »Eltern?«, wiederholte sie und versuchte, den Kopf zu heben. »Oh, autsch. Nicht gut.«

»Nein, nicht so. Mom und Dad sind wohl ziemlich ausgeflippt, als sie hörten, dass du einen Laborunfall hattest. Die Campus-Cops vergaßen zu erwähnen, dass dir Gina absichtlich Säure über den Rücken geschüttet hat. Sie glauben, es war nur einer dieser absurden Unfälle.«

»War es das?«, fragte sie. »Unfall?«

»Auf keinen Fall. Sie hatte vor, dich zu verletzen.«

Claire zupfte an dem hässlichen blauen Krankenhauskittel, den sie trug. »Hat mein T-Shirt gekillt.«

»Yeah, ziemlich.« Shane sah blass und angespannt aus.

»Ich habe versucht, Michael anzurufen. Ich weiß nicht, wo er steckt. Ich möchte dich nicht allein hierlassen, aber...“

»Es ist okay«, sagte sie sanft und schloss die Augen. »Ich bin auch okay.«

Sie glaubte, seine Hand auf ihrem Haar zu spüren, ein sekundenlanger, leichter, süßer Druck. »Yeah«, sagte Shane. »Du bist okay. Ich werde da sein, wenn du aufwachst«

Sie nickte schläfrig, dann versank alles in einem zitronengelben Nebel, und sie fühlte sich, als würde sie in der Sonne liegen.

***

Autsch.

Aufwachen war kein Spaß. Kein zitronengelber, sonniger Drogennebel; eher ein Schneidbrenner, der ihren Rücken direkt über dem Schulterblatt verbrannte. Claire wimmerte und grub ihren Kopf in das Kissen; sie versuchte damit, dem Schmerz zu entkommen, aber er war ihr dicht auf den Fersen.

Die Wirkung der Medikamente war verflogen. Sie zwinkerte, wimmerte und setzte sich auf; eine Krankenschwester, die gerade vorbeikam, hielt an und kam herein, um nach ihr zu schauen. »Gut«, sagte sie. »Alles in Ordnung. Die Verbrennung wird noch eine Weile wehtun, aber wenn du die Antibiotika einnimmst und die Wunde sauber hältst, wird alles gut. Du hattest Glück, dass jemand da war, der es abgewaschen und die Reaktion neutralisiert hat. Ich habe schon Verätzungen mit Batteriesäure gesehen, die bis auf den Knochen gingen.«

Claire nickte, sie war sich nicht sicher, ob sie sprechen konnte, ohne sich zu übergeben. Ihre gesamte Seite fühlte sich heiß und gequetscht an.

»Möchtest du aufstehen?«

Sie nickte wieder. Die Schwester half ihr und überreichte ihr die Reste ihrer Kleider, als sie danach fragte. Der zerschnittene BH war total im Eimer. Vorn T-Shirt war auch nicht mehr viel übrig. Die Schwester brachte ihr ein weites schwarzes T-Shirt aus der Fundgrube und machte sie salonfähig; ein Arzt kam vorbei, um sie noch einmal kurz zu untersuchen. Der forschen Art nach, sie abzufertigen, war eine kleine Verätzung mit Schwefelsäure nichts, worüber man sich aufregte, zumindest nicht in Morganville.

»Wie schlimm ist es?«, fragte sie Shane, als er sie im Rollstuhl durch die Gänge zum Ausgang schob. »Ich meine, ist es irgendwie richtig eklig?«

»Unglaublich eklig. Horrorfilm-grausig.“

»Oh Gott.«

Er wurde weich. »Es ist nicht so schlimm. Es ist etwa so groß wie eine Münze. Dieser Typ, dein Lehrer, hat seinen Job gut gemacht, als er dir die Kleider aufschnitt und von deiner Haut entfernte. Ich weiß, es tut höllisch weh, aber es hätte weit schlimmer kommen können.«

Es war noch eine Menge mehr in Ginas Becherglas gewesen. »Glaubst du - denkst du, sie wollte...“

»Alles über dich schütten? Ja, klar! Ihr blieb nur keine Zeit.«

Wow. Das war... unangenehm. Ihr wurde heiß und kalt und ein bisschen übel; und das hatte dieses Mal nichts mit Schock zu tun. »Ich vermute mal, das war Monicas Rache.«

»Ein Teil davon zumindest. Sie wird jetzt erst recht sauer sein, dass es nicht so gelaufen ist, wie sie sich das vorgestellt hatte.«

Die Vorstellung, dass Monica richtig sauer ist, war nicht die beste Art, einen Tag zu beenden - und der Tag war schon zu Ende, wie ihr bewusst wurde, als Shane sie zu der Doppeltür aus Glas schob.

Es war dunkel.

»Oh«, sagte sie und schlug die Hand vor den Mund. »Oh nein.«

»Yeah. Na ja, für den Transport ist zumindest gesorgt. Bereit?«

Sie nickte und Shane rannte, so schnell er konnte, mit dem Rollstuhl los. Claire kreischte und hielt sich an den Griffen fest; sie fühlte sich völlig außer Kontrolle, als der Stuhl die Rampe hinunter hopste und schleudernd zum Stehen kam, nur Zentimeter von Eves schimmernd schwarzem Wagen entfernt. Eve warf die Beifahrertür auf und Claire versuchte, allein aufzustehen, aber Shane packte sie um die Hüfte und hob sie direkt in den Sitz. Es dauerte nur Sekunden, dann kickte er den Rollstuhl zurück in Richtung Rampe, wo er gegen das Geländer prallte und verloren stehen blieb.

Shane stürzte sich auf den Rücksitz. »Los!«, rief er. Eve stieg aufs Gas, während Claire sich bemühte, den Sicherheitsgurt so anzulegen, dass sie nicht vor Schmerz keuchen und in Tränen ausbrechen würde. Sie begnügte sich damit, sich vorzubeugen Und sich auf dem Armaturenbrett abzustützen, als Eve sich aus der Parklücke schälte und die dunkle Straße hinunter raste. Die Straßenlampen sahen gespenstisch aus und standen zu weit voneinander entfernt - war das Absicht? Kontrollierten die Vampire auch, wie weit die Straßenlampen voneinander entfernt waren? Oder flippte sie jetzt total aus?

»Ist er da?«, fragte Shane und lehnte sich über den Sitz. Eve warf ihm einen Blick zu.

»Ja«, sagte sie. »Er ist drin. Aber lass mich da aus dem Spiel. Ich arbeite dort, wie du weißt.«

»Ich verspreche, deinem Boss nicht auf die Nerven zu gehen.«

Sie glaubte ihm nicht - so viel war klar - aber Eve bog trotzdem an der nächsten Ampel rechts anstatt links ab, und zwei Minuten später parkte sie am Randstein vor dem Common Grounds, das hell erleuchtet war. Voll war es auch. Claire runzelte die Stirn, aber bevor sie auch nur fragen konnte, war Shane schon ausgestiegen und auf dem Weg ins Café.

»Was hat er vor?«, fragte sie.

»Etwas Bescheuertes«, sagte Eve, »Wie geht es deiner Verätzung? Tut weh, was?«

Claire hätte mit den Schultern gezuckt, aber allein der Gedanke daran ließ sie vor eingebildeten Schmerzen zusammenzucken. »Nicht so schlimm«, sagte sie tapfer und versuchte zu lächeln. »Hätte viel schlimmer kommen können, glaube ich.“

»Kann ich mir vorstellen«, stimmte Eve zu. »Ich sagte dir doch, dass es gefährlich ist, in den Unterricht zu gehen. Wir müssen das unter Kontrolle kriegen. Du kannst nicht dorthin zurück, wenn so was passiert.«

»Ich kann nicht aufgeben!«

»Natürlich kannst du«, sagte Eve fröhlich. »Die Leute machen das doch die ganze Zeit. Nur nicht Leute wie du - oh, verdammt!«

Eve biss sich auf die schwarz angemalten Lippen, ihre Augen waren geweitet und sie starrte besorgt durch das Fenster in das hell erleuchtete Innere des Cafés. Einige Sekunden später sah Claire, was sie so beunruhigte: Der Hippie-Geschäftsführer, Oliver, stand am Fenster und beobachtete sie auch, und hinter ihm zog Shane einen Stuhl zu dem Tisch in der hinteren Ecke, an dem eine dunkle Gestalt saß.

»Sag mir jetzt, dass er nicht mit Brandon spricht«, sagte Claire. »Ähm.., okay. Er spricht nicht mit Brandon.“

»Du lügst.«

»Yeah. Er spricht mit Brandon. Hör mal, lass Shane dieses Ding durchziehen, okay? Er ist nicht so dumm, wie er aussieht. Meistens zumindest.«

»Aber er hat keinen Schutz, oder?«

»Deshalb spricht er mit ihm im Common Grounds. Es ist eine Art Waffenstillstandszone. Vampire jagen dort nicht oder sollen es zumindest nicht. Und es ist der Ort, an dem alle möglichen Deals und Verträge und so Zeug abgeschlossen werden. Shane ist also sicher genug dort drin.«

Aber sie biss sich noch immer auf die Lippen und sah besorgt aus.

»Es sei denn?«, riet Claire.

»Es sei denn, Shane greift als Erster an. Selbstverteidigung zählt nicht.«

Mit Shane war alles in Ordnung, soweit Claire sehen konnte...

Seine Hände lagen auf dem Tisch, und obwohl er sich gerade nach vorne beugte und etwas sagte, schlug er niemanden. Das war doch schon mal gut, oder? Auch wenn sie nicht die geringste Idee hatte, was er mit Brandon zu besprechen haben könnte. Brandon war schließlich nicht derjenige, der ihr Säure über den Rücken geschüttet hatte.

Was immer Shane sagte, es brachte ihn nicht aus der Ruhe; schließlich schob Shane seinen Stuhl zurück und ging hinaus; unterwegs nickte er Oliver zu. Brandon glitt finster und aalglatt hinter dem Tisch hervor, um Shane zur Tür zu folgen, dicht genug, um nach ihm greifen zu können. Aber das war nur ein Psychospiel, erkannte Claire, als sie zu einem warnenden Schrei ansetzte. Brandon wollte nur, dass er ausflippte, er wollte ihn nicht angreifen.

Shane warf nur einen Blick über die Schulter, zuckte die Achseln und ging aus dem Café. Brandon wollte ihm folgen, doch Oliver ging dazwischen und blockierte den Weg mit seinem Arm. Als Brandon ihm etwas zuknurrte, saß Shane bereits im Auto und Eve schoss von der Bordsteinkante weg.

»Müssen wir jetzt Angst haben?«, fragte sie. »Ich hätte nämlich gern einen Vorsprung, bevor der offizielle Terroralarm losgeht.“

»Nee, alles klar«, sagte Shane. Er klang müde und ein wenig seltsam. »Claire hat einen Freibrief. Niemand wird ihr etwas tun. Einschließlich Monica und ihre Marionetten.“

»Aber - was? Warum?«, fragte Claire. Eve musste offensichtlich nicht fragen. Sie sah nur grimmig und böse aus.

»Wir haben einen Deal gemacht«, antwortete Shane. »Vampire sind ganz heiß darauf.«

»Du bist so ein Idiot!«, zischte Eve.

»Ich hab getan, was ich tun musste! Ich konnte Michael nicht fragen, er war nicht...« Shane biss sich auf die Zunge und schluckte brutal hinunter, was immer er hatte sagen wollen; er hielt den Ärger in seiner Stimme streng unter Kontrolle. »Er war wieder nicht da. Ich musste etwas unternehmen. Claire hat nicht übertrieben. Sie werden sie umbringen oder sie zumindest so schwer verletzen, dass sie wünschen wird, sie würden es zu Ende bringen. Ich kann das nicht zulassen.«

Am Ende seines Satzes stand ein stummes nicht noch einmal, dachte Claire. Sie wollte sich umdrehen und ihn anschauen, aber allein der Versuch tat zu sehr weh. Sie suchte stattdessen seine Augen im Spiegel.

»Shane«, sagte sie. »Was hast du ihm versprochen?“

»Nichts, das ich nicht entbehren könnte.“

»Shane!«

Aber Shane antwortete nicht. Eve ebenso wenig, auch wenn sie einige Male die Lippen öffnete und sie dann, ohne einen Laut von sich zu geben, wieder schloss. Sie schwiegen den Rest der Fahrt über, und als sie am Randstein parkten, stieg Eve aus und eilte den Gartenweg hinauf, um die Tür aufzuschließen. Claire öffnete die Beifahrertür und wollte aussteigen, aber wieder war Shane schneller und half ihr auf. Oh Mann, er war so... stark. Und er hatte große, warme Hände. Sie fröstelte und sofort fragte er: »Ist dir kalt?« Aber das war es nicht. Überhaupt nicht.

»Shane, was hast du versprochen?«, brach es aus ihr heraus und sie ergriff seinen Arm. Nicht dass er sich nicht hätte befreien können, aber... das tat er nicht. Er schaute nur auf sie hinunter. Sie standen wirklich nah beieinander, so nah, dass sie fühlte, wie jeder Nerv in ihrem Körper bitzelte wie eine geschüttelte Coladose. »Du hast nichts - ich meine...“

»Nichts Dummes gemacht?«, fragte er. Er schaute auf ihre Hand hinunter und berührte sie einen Augenblick später mit seiner eigenen. Nur eine Sekunde lang, dann zuckte er zurück, als hätte er sich an ihr verbrannt. Sie hatte recht gehabt; er konnte sich von etwas losmachen, ohne überhaupt darüber nachzudenken. »Yeah, darin bin ich gut. Im Dummheitenmachen. Es ist wahrscheinlich eh besser, wenn nicht gleich zwei Superhirne im Haus sind, sonst würde uns der Platz ausgehen.« Als sie versuchte, etwas zu sagen, deutete er zum Haus hin und sagte: »Los, beweg dich, sonst kannst du dir gleich ein Schild um den Hals hängen, auf dem ›Vene zu vermieten‹ steht.«

Sie bewegte sich. Die Haustür stand offen und Shane folgte ihr, blieb dicht hinter ihr, bis sie die Treppe hinaufging.

Dann hörte sie seine Schritte nicht mehr und drehte sich um. Er stand am Fuß der Treppe und beobachtete die Straße.

An der Ecke stand ein Vampir unter der Straßenlampe. Brandon. Er stand nur da, die Arme übereinandergeschlagen und an den Laternenpfahl gelehnt, als hätte er alle Zeit der Welt.

Er warf ihnen eine Kusshand zu, wandte sich um und ging weg. Shane zeigte ihm den Mittelfinger und schubste Claire praktisch über die Schwelle. »Bleib nie wieder hier draußen stehen!“

»Du sagtest, ich hätte einen Freibrief!«

»Es gibt aber keine schriftliche Garantie dazu!“

»Was hast du ihm versprochen?«, schrie sie.

Shane schlug die Tür fest hinter sich zu und drängte sich an ihr vorbei, um ins Eingangszimmer zu gehen, aber als er gerade dort angelangt war, verstellte ihm Michael den Weg. Und Michael sah sauer aus.

»Antworte ihr«, sagte er. »Was zum Teufel hast du getan, Shane?«

»Ach, jetzt machst du dir auf einmal Sorgen? Wo Zum Henker warst du, Mann! Ich kam hierher und habe dich gesucht, Alter, ich habe sogar das Schloss von deiner Zimmertür geknackt!«

Michaels blaue Augen flackerten von Shane zu Claire und wieder zurück. »Ich hatte etwas zu erledigen.“

»Ach, du hattest heute also etwas zu erledigen? Wie auch immer, Mann. Ich musste den Anruf machen, also hab ich ihn gemacht.«

»Shane.« Michael fasste ihn am Arm und hielt ihn auf. »Ich finde, sie hat eine Antwort auf ihre Frage verdient. Wir alle.« Hinter ihm kam Eve um die Ecke und verschränkte die Arme.

Shane stieß ein kurzes, schroffes Lachen aus. »Ach, du schließt dich jetzt mit den Mädels zusammen? Wenn das mal kein Schlag ins Gesicht ist, Mann. Was ist mit der guten alten Männerfreundschaft?«

»Eve sagte, du hast mit Brandon gesprochen.«

Claire sah, wie der Kampfgeist aus Shanes Schultern wich. »Ja, hab ich. Ich musste. Ich meine - sie haben Säure über sie geschüttet und die verdammten Campus-Cops haben nicht einmal - ich musste mich an die Quelle wenden. Du hast mir das beigebracht.«

»Du hast einen Deal mit Brandon gemacht«, sagte Michael und Claire hörte das angewiderte Zittern in seiner Stimme. »Oh, verdammte Sch... Shane, sag mir, dass du das nicht getan hast!«

Shane zuckte die Schultern. Er sah Michael nicht in die Augen. »Es ist schon abgemacht, Kumpel. Mach jetzt kein großes Ding draus. Es ist nur zweimal. Und er kann mich nicht aussaugen oder so.«

»Shit!« Michael drehte sich um und schlug mit der Hand hart auf den hölzernen Türrahmen. »Du kennst sie doch nicht mal, Mann! Du kannst doch daraus jetzt keinen Krieg machen!“

»Mach ich nicht!«

»Sie ist nicht Alyssa!«, brüllte Michael und es war das lauteste Brüllen, das sie je gehört hatte. Claire zuckte zusammen und wich zurück; sie sah, dass Eve hinter ihm dasselbe tat.

Shane rührte sich nicht. Es sah so aus, als könnte er nicht. Er stand nur mit gesenktem Kopf da.

Dann holte er tief Luft, hob den Kopf und sah in Michaels zornige Augen.

»Ich weiß, dass sie nicht Alyssa ist«, sagte er und klang dabei ruhig, gelassen und absolut kalt. »Du solltest dich verdammt zurückhalten, Michael, und nicht immer denken, ich sei das verkorkste Kind, das du damals kanntest. Ich weiß, was ich tue, und du bist nicht mein Dad.«

»Aber ich bin hier so was wie deine Ersatzfamilie!« Michael hatte aufgehört zu brüllen, aber Claire konnte den Ärger in seiner Stimme hören. »Und ich lasse dich nicht den Helden spielen. Nicht jetzt«

»Ich müsste es nicht, wenn du aufgekreuzt wärst, um mir den Rücken freizuhalten!«

Shane drängte sich an ihm vorbei, stapfte die Treppe hinauf und schlug seine Zimmertür zu. Michael stand da und starrte ihm nach, bis Claire einen Schritt nach vorne machte. Sie erstarrte, als er sie ansah, sie hatte Angst, dass er auf sie noch wütender sein könnte als auf Shane. Immerhin war es ihre Schuld...

»Komm, setz dich«, sagte Michael. »Ich hol dir was zu essen.“

»Ich möchte nicht...«

»Doch, du möchtest. Setz dich. Eve, halt sie fest, wenn es sein muss.« Er nahm einen Moment lang ihre Hand und drückte sie, dann trat er beiseite, damit sie zur Couch gelangte. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ sie sich darauf sinken und legte den Kopf auf ihre Hände. Mein Gott, was für ein mieser Tag. Er hatte so schön angefangen - mit Shane - aber...

»Dir ist schon klar, was Shane getan hat, oder?«, fragte Eve und plumpste neben sie. »Du weißt schon, was für einen Deal er gemacht hat?«

»Nein.« Ihr war heiß, sie fühlte sich elend und wollte absolut nichts essen, aber Michael war nicht gerade in der Stimmung, ein Nein zu akzeptieren. »Ich hab keine Ahnung, was los ist.“

»Shane hat Brandon zwei Treffen angeboten, damit er dich im Gegenzug in Ruhe lässt.«

»Er hat - was?« Claire sah völlig bestürzt auf. War Shane schwul? An diese Möglichkeit hatte sie überhaupt nicht gedacht...

»Treffen. Das heißt Bisse.« Eve tat so, als hätte sie Vampirzähne. »Sie haben abgemacht, dass Brandon bei ihm Blut saugen darf zweimal. Er wird ihn dabei nicht töten, weißt du? Es geht dabei nicht um Nahrung, es geht ums Vergnügen. Um Macht.« Eve glättete ihren karierten Rock und schaute finster auf ihre kurzen schwarzen Fingernägel. »Michael hat recht, wenn er sauer auf ihn ist. Aber es liegt viel zwischen jemanden nicht töten und jemanden nicht verletzen. Und Brandon hat eine Menge Erfahrung mit Deals. Shane nicht.«

Irgendwie hatte sie es gewusst. Sie hatte es an der Art bemerkt, wie Shane sich benommen hatte, wie Brandon sie beobachtet hatte, daran, wie wütend Michael war. Es war nicht so, dass Shane einfach zu Brandon gesagt hätte, er solle verschwinden, oder dass er irgendein dämliches Versprechen abgegeben hätte. Shane hatte sein Leben für ihres eingesetzt oder zumindest riskierte er es.

Claire schnappte nach Luft und Angst prickelte auf ihrer Haut, so heftig, dass es sich wie Nadelstiche anfühlte. »Aber wenn er gebissen wird, ist er dann - wird er nicht...?“

»Zu einem Vampir?« Eve schüttelte den Kopf. »So funktioniert das wohl nicht, sonst wäre Morganville sicherlich längst die absolute Untoten-Metropole. Ich habe noch nie gehört, dass jemand durch einen Biss zum Vampir wurde. Die Blutsauger hier sind wirklich alt. Nicht dass Shane nicht total cool aussehen würde mit einem hübschen Paar Eckzähne, aber...« Sie fummelte an den Falten ihres Rockes herum. »Shit, das ist doch total bescheuert. Warum mach das nicht ich? Ich meine, nicht dass ich direkt scharf darauf bin - nicht mehr, aber... für Jungs ist es noch schlimmer.«

»Schlimmer? Warum?«

Eve zuckte die Achseln, aber Claire erkannte, dass sie der Frage auswich. »Shane wird absolut nicht damit umgehen können. Er kann es ja nicht einmal ertragen, wenn jemand den letzten Mais-Hotdog nimmt, dabei mag er überhaupt keine Mais-Hotdogs. Er ist ein absoluter Kontrollfreak.« Sie rutschte noch ein wenig nervös herum, dann fügte sie leise hinzu: »Und ich habe Angst um ihn.«

Als Michael ins Zimmer kam, sprang Eve auf und wuselte im Zimmer hin und her, wobei sie irgendwelche Sachen verrückte oder aufeinanderstapelte, bis ihr Michael ein nicht allzu dezentes Zeichen gab, dass sie verschwinden sollte. Sie gehorchte, murmelte eine Entschuldigung, die Claire nicht verstand, und ging mit klappernden Absätzen in ihr Zimmer hinauf.

Michael reichte Claire eine kleine Schüssel. »Chili. Sorry, es ist alles, was wir da haben.«

Sie nickte und nahm einen Löffel voll, weil sie schon immer so ziemlich das gemacht hat, was man ihr sagte... und als sie das Chili auf der Zunge fühlte, merkte sie plötzlich, dass sie völlig ausgehungert war. Sie schluckte es praktisch, ohne zu kauen, und nahm schon den nächsten Bissen, bevor es ihr überhaupt bewusst wurde. Shane sollte ins Chili-Business gehen.

Michael setzte sich in den ledernen Lehnstuhl links neben ihr und nahm die Gitarre, die er zur Seite gelegt hatte. Er fing an, sie zu stimmen, als sei diese ganze Szene mit Shane gar nicht passiert. Sie aß und warf ihm hin und wieder einen verstohlenen Blick zu, wie er so über das Instrument gebeugt dasaß und leise, klangvolle Töne erzeugte.

»Du bist nicht sauer?«, fragte sie schließlich nuschelnd.

»Sauer?« Er hob seinen blonden Lockenkopf nicht. »Sauer wird man, wenn einem auf der Autobahn jemand den Mittelfinger zeigt, Claire. Nein, ich bin nicht sauer. Ich habe Angst. Und ich denke darüber nach, was ich dagegen tun soll.«

Sie hörte einen Moment lang auf zu kauen, bis ihr bewusst wurde, dass es wohl auch nichts half, wenn sie an ihrem Essen erstickte.

»Shane ist hitzköpfig«, sagte Michael. »Er ist ein netter Typ, aber er denkt nicht nach. Ich hätte für ihn nachdenken sollen, bevor ich dich hier einziehen ließ.«

Claire schluckte. Das Essen schmeckte plötzlich ein wenig säuerlich, deshalb legte sie den Löffel weg. »Mich?«

Michaels Finger ruhten auf den Gitarrensaiten. »Du weißt das mit seiner Schwester, oder?«

Alyssa. Das war der Name, den Michael erwähnt hatte und der Shane so verletzt hatte. »Sie ist tot.“

»Shane ist ein unkomplizierter Typ. Wenn er jemanden mag, kämpft er für ihn. Ganz einfach. Lyssa - Lyssa war ein süßes Mädchen. Und er fuhr diesen Großer-Bruder-Film. Er wäre für sie gestorben.« Michael schüttelte langsam den Kopf. »Beinahe wäre er das tatsächlich. Wie dem auch sei, der springende Punkt ist, dass Lyssa jetzt in deinem Alter wäre, und du wirst jetzt von denselben Miststücken verletzt, die seine Schwester getötet haben, als sie ihn treffen wollten. Er würde also alles tun - alles -, um das nicht noch einmal durchmachen zu müssen. Du bist zwar nicht Lyssa, aber er mag dich, und darüber hinaus hasst er Monica Morrell. So sehr, dass er...« Michael schien es nicht aussprechen zu können. Er starrte ein paar Sekunden ins Leere, bevor er fortfuhr. »Wenn du Deals mit den Vampiren in dieser Stadt abschließt, hält dich das zwar äußerlich am Leben, aber innerlich frisst es dich auf. Ich hab gesehen, wie das mit meiner Familie passierte, bevor sie von hier wegging. Eves Eltern auch. Ihre Schwestern. Wenn Shane das durchzieht, wird es ihn umbringen.«

Claire stand auf. »Er wird das nicht durchziehen«, sagte sie. »Ich werde das nicht zulassen.«

»Wie willst du das denn anstellen? Nicht einmal ich kann ihn aufhalten, verdammt, und auf mich hört er. Meistens zumindest.«

»Eve sagte, dass Vampire die Stadt beherrschen. Stimmt das wirklich?«

»Ja. Sie sind schon so lange hier, wie man sich denken kann. Wenn du hier wohnst, lernst du, mit ihnen zu leben. Wenn nicht, hast du verloren.«

»Aber sie laufen nicht einfach rum und beißen Leute.«

»Das wäre unhöflich«, sagte er ernst. »Sie haben das nicht nötig. Jeder in der Stadt – jeder Bewohner - zahlt Steuern. Blutsteuern. Einen Liter pro Monat, im Krankenhaus.«

Sie starrte ihn an. »Ich musste das nicht!«

»College-Studenten müssen das nicht. Sie bezahlen ihre Steuern auf andere Weise.« Er sah grimmig aus, und mit einem Horrorgefühl, das ihr den Magen umdrehte, ahnte sie schon, was kommen würde, bevor er es aussprach. »Die Vampire haben einen Deal mit dem College. Sie erhalten direkt zwei Prozent pro Jahr. Früher war es mehr, aber ich glaube, sie wurden nervös. Die Medien kamen ihnen ins Gehege. Für Fernsehsender gibt es nichts Interessanteres als hübsche junge College-Girls, die verschwunden sind. Was hältst du davon, Claire?«

Sie holte tief Luft. »Wenn die Vamps das alles geplant haben, dann sind sie gut organisiert. Oder? Dann laufen die nicht einfach herum und jeder zieht seine eigene Show ab. Nicht wenn es viele von ihnen gibt. Es muss einen Verantwortlichen geben.«

»Stimmt. Brandon hat einen Boss. Und sein Boss hat wahrscheinlich auch einen Boss.«

»Wir müssen also nur einen Deal mit seinem Boss machen«, sagte sie. »Mit einem anderen Einsatz als Shanes Blut.«

»Nur?«

»Irgendetwas wollen sie. Etwas, das sie noch nicht haben. Wir müssen nur herausfinden, was das ist.«

Die Treppe knarrte. Michael und Claire fuhren herum. Eve stand dort.

»Ich habe dich nicht kommen hören«, sagte Michael. Sie zuckte die Schultern und trottete die Stufen herunter; sie hatte die Schuhe ausgezogen. Selbst auf ihren schwarz-weißen Strümpfen waren Totenköpfe auf den Zehen abgebildet.

»Ich weiß, was sie wollen«, sagte sie. »Aber wir werden es nicht finden können.«

Michael sah sie lange an. Eve schaute nicht weg; sie ging geradewegs auf ihn zu und Claire hatte plötzlich das Gefühl, in etwas sehr Persönliches hineingeraten zu sein. Vielleicht war es die Art, wie er sie ansah oder wie sie ihn anlächelte - jedenfalls rutschte Claire auf der Couch herum und betrachtete eingehend einen Stapel Bücher auf dem Tisch.

»Ich möchte nicht, dass du da mit hineingezogen wirst.« Aus den Augenwinkeln sah sie, dass er nach Eves Hand griff.

»Shane steckt drin. Claire steckt drin. Hey, selbst du steckst drin.« Eve zuckte die Achseln. »Du weißt, wie sehr ich es hasse, ausgeschlossen zu werden. Wenn dann noch die Möglichkeit besteht, es Brandon heimzuzahlen, bin ich voll dabei. Dem Typen sollte man einen hübschen spitzen Pfahl direkt durchs Auge jagen.«

Sie hielten noch immer Händchen. Claire räusperte sich und Michael ließ zuerst los. »Was ist es? Was wollen sie?«

Eve grinste. »Oh, das wird dir gefallen«, sagte sie. »Sie wollen ein Buch. Und ich kenne niemanden, der eine bessere Chance hätte, es zu finden, als du, Bücherwurm.«

***

Es gab eine Menge Gesetze in Morganville, die Claire nicht gekannt hatte. Die »Blutspende« war eines davon und sie fragte sich, wie Michael es schaffte, keine Steuern zahlen zu müssen. Er konnte schließlich nicht, oder? Wenn er das Haus nicht verlassen konnte?

Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, nahm einen Notizblock Zur Hand und schlug ein neues Blatt Papier auf, darauf schrieb sie die Überschrift Vorteile für Vampire. In diese Spalte schrieb sie Blutspende, Schutz, Gefallen, Deals.

»Oh, sie verhängen Ausgangssperren«, sagte Eve.

»Es gibt Ausgangssperren?«

»Ja, klar. Nur nicht für das College. Es ist ihnen egal, wenn sich die Studenten die ganze Nacht herumtreiben, weil - du weißt schon..,« Eve ahmte Vampirzähne nach, die in einen Hals beißen. Claire schluckte und nickte. »Aber für Einheimische? Oh yeah.«

»Warum ist das ein Pro für sie?«

»Sie müssen nicht darauf achten, wen sie beißen dürfen und wen nicht. Wenn du draußen herumläufst, bist du Futter.«

Sie notierte Ausgangssperre. Dann blätterte sie die Seite um und schrieb: Nachteile für Vampire.

»Wovor fürchten sie sich?«

»Ich glaube nicht, dass wir mit den Vorteilen schon fertig waren«, sagte Michael. Er setzte sich neben die beiden Mädchen auf den Boden - etwas näher zu Eve, wie Claire bemerkte. »Es gibt wahrscheinlich eine Menge, was du nicht aufgeschrieben hast.«

»Oh, jetzt deprimier sie doch nicht noch mehr«, sagte Eve. »Nicht alles ist bedrückend. Immerhin scheuen sie das Tageslicht...«

Claire schrieb es auf.

»Und Knoblauch... Silber... hm, Weihwasser...«

»Bist du dir da sicher?«, fragte Michael. »Ich dachte immer, sie würden dabei viel vortäuschen, für alle Fälle.“

»Warum sollten sie das tun?«

Claire antwortete, ohne aufzublicken. »Weil sie dadurch leichter verbergen können, was sie tatsächlich verletzen kann. Ich schreibe es trotzdem auf, auch wenn es vielleicht nicht stimmt.«

»Feuer funktioniert«, sagte Michael. »Als ich ein Kind war, sah ich mal einen Vampir sterben. Das war bei einem dieser Rachedeals.«

Eve sog tief Luft ein. »Oh yeah. Ich habe davon gehört. Tom Sullivan.«

Claire fragte mit großen Augen: »Der Vampir hieß...«

»Nicht der Vampir«, sagte Michael. »Der Typ, der ihn getötet hat. Tommy Sullivan. Er war ein Verrückter, trank eine Menge, was hier nicht unbedingt ungewöhnlich ist. Er hatte eine Tochter. Sie starb. Er machte die Vampire dafür verantwortlich, deshalb übergoss er einen mit Benzin und zündete ihn an, mitten in einem Restaurant.«

»Das hast du gesehen?«, fragte Claire. »Wie alt warst du damals?«

»Man wird schnell erwachsen in Morganville. Der springende Punkt ist, dass in der Nacht darauf ein Prozess stattfand. Keine Chance für Tommy. Bevor es hell wurde, war er tot. Aber... Feuer funktioniert. Man darf sich nur nicht erwischen lassen.«

Claire notierte Feuer. »Wie steht's mit Pfählen?«

»Du hast Brandon gesehen«, sagte Eve. »Möchtest du ihm nahe genug kommen, um ihn zu pfählen? Na siehst du, ich auch nicht.«

»Aber würde es funktionieren?«

»Ich glaube schon. Man muss einen Antrag ausfüllen, wenn man Holz kauft.«

Claire schrieb es auf. »Kreuze?«

»Ganz sicher.«

»Warum?«

»Weil sie böse, seelenlose, blutsaugende Teufel sind?«

»Das war mein Sportlehrer in der sechsten Klasse auch, aber er hatte keine Angst vor einem Kreuz.«

»Sehr witzig«, sagte Eve auf eine Art, die klarmachte, dass sie das gar nicht komisch fand. »Weil es kaum Kirchen gibt, und soweit ich weiß, ist es unmöglich, an ein Kreuz zu kommen, außer man macht es selbst. Außerdem sind diese Typen alle in einer Zeit aufgewachsen - komisch, wenn man sich vorstellt, dass sie tatsächlich aufgewachsen sind -, als Religion nicht etwas war, das man nur sonntags ausübte. Es war etwas, das einen erfüllte, jede Minute, jeden Tag, und Gott hat sich hin und wieder ein Vergnügen daraus gemacht, die Bösen zu vernichten.«

»Nicht«, murmelte Michael. »Gott ist schon selten genug hier in der Gegend.«

»Nichts gegen den Großen Boss, Michael, aber er macht sich rar«, schoss Eve zurück. »Weißt du, wie viele Nächte lang ich im Bett darum betete, dass er alle bösen Menschen fortschafft? Hat natürlich ganz toll geklappt!«

Michael öffnete den Mund, um etwas zu sagen. »Und bitte sag mir jetzt nicht, dass Gott mich liebt. Wenn er mich lieben würde, würde er mir ein Busticket nach Austin in den Schoß fallen lassen, damit ich ein für alle Mal aus dieser Stadt herauskomme.«

Eve klang - na ja, böse. Claire trommelte mit ihrem Stift gegen den Notizblock und schaute sie nicht an.

»Wie hindern sie die Leute daran wegzugehen?«, fragte sie.

»Das tun sie gar nicht. Manche gehen einfach. Ich meine, Shane hat das auch getan«, sagte Michael. »Ich glaube, die Frage, nach der du suchst, lautet, wie sie sie am Reden hindern. Und hier wird die ganze Sache unheimlich.“

»Ach, hier erst?«, murmelte Claire. Eve lachte.

»Ich selbst weiß es nicht, ich bin niemals aus der Stadt herausgekommen, aber Shane sagt, wenn man etwa 15 Kilometer von Morganville entfernt ist, bekäme man diese schrecklichen Kopfschmerzen und dann beginnt man einfach zu vergessen. Zuerst kann man sich nicht mehr daran erinnern, wie die Stadt heißt, dann vergisst man, wie man dorthin kommt, und dann weiß man nicht mehr, dass es dort Vampire gibt. Oder die Gesetze. Sie existieren einfach nicht mehr für dich. Alles kommt zurück, wenn man wieder in die Stadt kommt, aber wenn man draußen ist, kann man nicht herumlaufen und alles über Morganville erzählen, weil man sich einfach nicht mehr erinnert.«

»Ich habe Gerüchte gehört«, sagte Eve. »Manche Leute beginnen, sich wieder zu erinnern, aber sie werden…« Sie machte eine anschauliche Geste, wie jemandem die Kehle durchgeschnitten wird. »Sie treffen auf Kommandos.«

Claire versuchte, sich die Ursachen für diesen Gedächtnisverlust auszumalen. Drogen vielleicht? Oder eine Art lokales Energiefeld? Oder - okay, sie hatte keine Ahnung. Aber es klang nach Magie und Magie machte sie nervös. Sie nahm an, dass Vampire auch magisch waren, wenn man es genau nahm, und das machte sie noch nervöser. Magie existierte nicht. Sollte nicht existieren. Es war einfach... falsch. Es beleidigte ihre wissenschaftliche Bildung.

»Also, wo stehen wir jetzt?«, fragte Michael. Vernünftige Frage eigentlich.

Claire blätterte eine weitere Seite um, schrieb Gedächtnisverlust nach Weggang darauf und sagte: »Ich bin nicht sicher. Ich meine, wenn wir irgendeine Art von Plan schmieden, müssen wir im Prinzip so viel wie möglich wissen, um sicherzugehen, dass es ein guter Ansatz ist. Redet einfach weiter. Was noch?«

Es ging noch Stunden so weiter. Die Großvateruhr verkündete feierlich neun Uhr, dann zehn und dann elf. Es war fast Mitternacht und Claire hatte die meisten Seiten ihres Blocks vollgeschrieben, als sie Michael und Eve anschaute und fragte: »Sonst noch was?« Die beiden antworteten mit einem Kopfschütteln. »Okay. Dann erzähl mir von dem Buch.«

»Ich weiß nicht viel darüber«, gab Eve zu. »Sie brachten vor etwa zehn Jahren eine Notiz heraus, dass sie danach suchen. Ich hörte, dass überall in der Stadt Leute die Bibliotheken, Buchläden und alle anderen Orte durchforsten, an denen es versteckt sein könnte. Das Komische an der Sache ist, dass es die Vamps überhaupt nicht lesen können.«

»Du meinst, es ist in einer anderen Sprache verfasst?«

Michael zog die Augenbrauen hoch. »Ich glaube, so einfach ist es nicht. Ich meine, jeder dieser Blutsauger spricht mindestens ein Dutzend Sprachen.«

»Tote Sprachen«, sagte Eve. Als sie sie anschauten, grinste sie. »Was? Kommt schon, das war witzig!«

»Vielleicht können sie es aus demselben Grund nicht lesen, aus dem Menschen, wenn sie außerhalb der Stadt sind, alles vergessen«, sagte Claire langsam. »Weil etwas nicht will, dass sie es können.«

»Das ist ein kleiner Sprung, aber der russische Preisrichter verleiht Ihnen neun Komma fünf Punkte für guten Stil, also ist es okay«, sagte Eve. »Das Wichtigste ist doch letztendlich, dass wir wissen, wie das Buch aussieht.“

»Und zwar?« Claire setzte den Stift auf dem Papier auf.

»Ein Buch mit einem schwarzen Ledereinband. Vorne ist eine Art Symbol darauf.«

»Was für eins?« Denn schwarzer Ledereinband schränkte, was Bücher anging, das alles nicht gerade ein.

Eve schob den Ärmel ihres hautengen schwarzen Netz-Tops nach oben und hielt ihr ihren Unterarm hin. Dort war ein einfarbig blaues Symbol tätowiert, das ein bisschen wie ein Omega aussah, nur dass es einige zusätzliche Bögen hatte. Einfach, aber definitiv nichts, was Claire sich erinnern konnte, schon einmal gesehen zu haben. »Sie haben danach gesucht. Sie haben jedem, der in einer geschützten Familie aufwuchs, das Tattoo verpasst, damit wir wissen, wonach wir suchen sollen.«

Claire starrte einige Sekunden darauf und wollte fragen, wie alt Eve gewesen war, als sie das Tattoo erhielt, aber sie traute sich nicht. Sie zeichnete das Symbol pflichtbewusst in ihren Notizblock. »Und niemand hat es gefunden. Sind sie sicher, dass es hier ist?«

»Sie scheinen davon auszugehen. Aber ich wette, sie haben überall auf der Welt ihre Quellen, die danach suchen. Es scheint sehr wichtig für sie zu sein.«

»Hast du irgendeine Ahnung, warum?«

»Das weiß niemand«, sagte Michael. »Seit ich ein Kind war, habe ich danach gefragt, glaub mir. Niemand hat eine Ahnung. Nicht mal die Vampire selbst.«

»Wie können sie nach etwas suchen und nicht einmal wissen, warum?«

»Ich sagte nicht, dass nicht irgendjemand weiß, warum. Aber die Vampire haben Rangordnungen, und die einzigen, die ich kenne, haben nicht gerade viel zu sagen. Der Punkt ist, dass wir es nicht herausfinden können, deshalb sollten wir keine Zeit damit verschwenden, uns Gedanken darüber zu machen.“

»Gut zu wissen.« Claire schrieb unbekannter Inhalt neben das Symbol des Buches, darunter schrieb sie wertvoll!!! und unterstrich es mit drei dunklen Linien. »Wenn wir das Buch also finden, können wir es einsetzen, um mir Monica vom Leib zu halten und dafür zu sorgen, dass Shanes Deal platzt.«

Michael und Eve schauten einander an. »Hast du den Teil verpasst, in dem wir sagten, dass die Vamps Morganville schon völlig umgekrempelt haben, um es zu finden?«, fragte Eve. Claire seufzte, blätterte eine Seite zurück und deutete auf eine Notiz, die sie gemacht hatte. Eve und Michael streckten ihre Köpfe zusammen, um sie zu lesen.

Vampire können es nicht lesen.

Sie sahen sie ausdruckslos an.

»Ich werde wohl einige Zeit in der Bibliothek verbringen«, sagte Claire. »Und wir brauchen einige Sachen.“

»Wofür?« Eve stand noch immer auf dem Schlauch, Michael jedoch nicht.

»Um das Buch zu fälschen?«, fragte er. »Glaubst du wirklich, das würde funktionieren? Was denkst du, was passieren wird, wenn sie dahinterkommen, dass wir sie betrogen haben?“

»Schlechte Idee«, sagte Eve. »Ganz schlechte Idee. Ehrlich.“

»Leute«, sagte Claire geduldig. »Wenn wir vorsichtig sind, werden sie niemals vermuten, dass wir schlau genug sind, so was durchzuziehen. Ganz zu schweigen, dass sie uns nicht für so mutig halten würden. Wir geben ihnen eine Fälschung - das ist mehr, als ihnen jemand anderes geben konnte. Sie werden sauer sein. Aber sie werden sauer sein, dass es jemand gefälscht hat. Wir haben es nur gefunden.«

Beide schauten sie an, als sähen sie sie zum ersten Mal.

Michael schüttelte den Kopf.

»Schlechte Idee«, sagte er.

Vielleicht. Aber sie würde es trotzdem versuchen.