7

 

Sie konnte nicht einschlafen.

Vielleicht lag es an der Erinnerung an diesen unheimlichen kleinen Gothic-Raum, den - so nahm sie an - Eve bestimmt heiß und innig liebte, aber plötzlich schien ihr eigenes, wunderbar gemütliches Zimmer voller Schatten und das Knacken des alten Holzes im Wind klang - gruselig. Vielleicht frisst das Haus ja seine Bewohner, dachte Claire, als sie so allein im Dunkeln lag und sah, wie die knochendürren Schatten der Äste an der gegenüberliegenden Wand bebten. Der Wind schlug die Zweige gegen ihr Fenster und es klang, als wollte jemand herein. Eve hatte gesagt, dass keine Vampire hereinkommen könnten, aber was, wenn doch? Was, wenn Michael...?

Sie hörte einen sanften, silbrigen Klang und wusste, dass Michael unten Gitarre spielte. Irgendwie half das, drängte die Schatten zurück, verwandelte die Geräusche in etwas Vertrautes und Beruhigendes. Es war nur ein Haus und sie waren einfach ein paarjunge Leute, die gemeinsam darin wohnten. Und wenn irgendetwas nicht stimmte, nun ja, dann war es da draußen.

Sie musste wohl eingeschlafen sein, ohne es zu merken; ein Geräusch ließ sie aufschrecken, und als Claire auf die Uhr neben sich schaute, war es fast halb fünf Draußen war es noch nicht hell, aber es war auch nicht mehr ganz dunkel; die Sterne verblassten zu einem schwachen Funkeln am Himmel, der sich allmählich dunkelblau färbte.

Michaels Gitarre war noch immer ganz leise zu hören. Ging er eigentlich nie schlafen? Claire glitt aus dem Bett, warf sich über das T-Shirt, das sie zum Schlafen trug, eine Decke um die Schultern und schlurfte in den noch dunklen Gang hinaus. Als sie an der verborgenen Tür vorbeikam, warf sie einen Blick darauf und fröstelte, dann ging sie weiter zum Badezimmer. Als sie fertig war und sich die Haare gekämmt hatte, schlich sie sich leise die Treppe hinunter und setzte sich hin, schlang die Decke um sich und hörte Michael zu.

Er hatte den Kopf gesenkt und war völlig versunken; sie beobachtete, wie leicht und flink sich seine Finger über die Saiten bewegten, wie sich sein Körper langsam im Rhythmus wiegte, und ein tiefes Gefühl von Sicherheit überkam sie. Solange Michael da war, konnte nichts Schlimmes passieren. Sie wusste es einfach.

Neben ihm fing ein Wecker an zu klingeln. Er schaute erschrocken auf und machte ihn aus, dann stand er auf und räumte seine Gitarre weg. Sie beobachtete ihn erstaunt... hatte er einen Termin? Oder hatte er tatsächlich seinen Wecker gestellt, um schlafen zu gehen? Wow, das war wirklich Besessenheit...

Michael stand da und betrachtete die Uhr, als sei sie sein persönlicher Feind, dann drehte er sich um und ging hinüber zum Fenster.

Der Himmel war jetzt von einem dunklen Türkis, alle Sterne außer den hellsten waren verblasst. Michael, der ein Bier in der Hand hielt, trank den Rest aus der Flasche und stellte sie auf den Tisch; er verschränkte seine Arme und wartete. Claire wollte ihn gerade fragen, worauf erwartete, als der erste Sonnenstrahl wie ein blendend orangefarbenes Messer hervorbrach; Michael schnappte nach Luft und krümmte sich, die Hände auf den Magen gepresst.

Claire sprang auf die Füße, erschrocken und verängstigt wegen des Ausdrucks purer Höllenqualen auf seinem Gesicht. Durch die Bewegung wurde er auf sie aufmerksam und er machte eine ruckartige Kopfbewegung zu ihr hin, die blauen Augen weit aufgerissen.

»Nein«, stöhnte er und warf sich nach Luft schnappend nach vorne auf Hände und Füße. »Nicht.«

Sie ignorierte es und sprang die Treppe hinunter, um zu ihm zu laufen, aber als sie dort ankam, wusste sie nicht, was sie tun sollte, hatte keine Ahnung, wie sie ihm helfen konnte. Michael atmete in tiefen, schmerzhaften Zügen unter fürchterlichen Qualen.

Sie legte ihm die Hand auf den Rücken, fühlte seine fiebrig heiße Haut durch den dünnen Stoff brennen und hörte, wie er ein Geräusch von sich gab, das anders klang als alles, was sie jemals gehört hatte.

Als würde jemand sterben, dachte sie panisch und öffnete den Mund, um nach Shane, Eve, nach irgendjemandem zu brüllen.

Plötzlich ging ihre Hand geradewegs durch ihn hindurch. Ihr Schrei blieb ihr aus welchen Gründen auch immer im Hals stecken, als Michael - der durchsichtige Michael - verzweifelt und hoffnungslos zu ihr aufblickte.

»Oh Gott, sag es ihnen nicht.« Seine Stimme erreichte sie aus weiter Ferne, ein Wispern, das in den Strahlen der Morgensonne verblasste.

Ebenso wie er selbst.

Claire strich offenen Mundes, unfähig, ein Wort herauszubringen, mit der Hand durch die Luft, wo Michael Glass gestanden hatte. Langsam zuerst, dann schneller. Die Luft um sie herum fühlte sich kalt an, als würde sie im Luftzug einer Klimaanlage stehen, dann verschwand die Kälte langsam.

Wie Michael.

»Oh mein Gott«, flüsterte sie und schlug beide Hände vor den Mund und dämpfte damit den Schrei, der herausmusste, da sie sonst geplatzt wäre.

Vielleicht war sie kurz ohnmächtig geworden, denn das Nächste, an das sie sich erinnerte, war, dass sie auf der Couch neben Michaels Gitarrenkoffer saß und sich irgendwie seltsam fühlte. Seltsam schlecht, als hätte sich ihr Gehirn verflüssigt und würde nun in ihrem Kopf herumschwappen.

Aber auch seltsam ruhig. Sie griff hinüber und berührte die Lederhülle seines Gitarrenkoffers. Er fühlte sich echt an. Als sie die Schnappverschlüsse öffnete und ihre zitternden Finger über die Saiten streichen ließ, gaben sie ein wehmütiges Wispern von sich.

Er ist ein Geist. Michael ist ein Geist.

Er war kein Geist. Wie konnte er ein Geist sein, wo er doch hier - genau hier! - am Tisch gesessen und zu Abend gegessen hatte? Tacos! Welcher Geist aß Tacos? Was für ein...?

Ihre Hand war direkt durch ihn hindurchgegangen. Direkt durch ihn hindurch.

Aber er existierte. Sie hatte ihn berührt. Sie hatte...

Ihre Hand war direkt durch ihn hindurchgegangen.

»Keine Panik«, sagte sie laut. »Jetzt nur... keine Panik. Es gibt eine Erklärung dafür...« Ja genau.

Sie würde in Professor Wus Physikstunde hinüberstolpern und fragen. Sie konnte sich schon vorstellen, wie das ablaufen würde. Sie würden ein Netz über sie werfen und sie mit Antidepressiva oder sonst was vollpumpen.

Er hatte gesagt Oh Gott, sag es ihnen nicht. Wem sagen? War er von ihnen gegangen? War er tot?

Wieder wurde sie von Panik übermannt, aber dann verflog sie mit einem Mal. Durch etwas ziemlich Banales eigentlich: Den Wecker auf dem Tisch neben der Couch. Der, der einige Minuten zuvor losgeklingelt hatte. Der, der Michael vorgewarnt hatte, dass der Sonnenaufgang nahte.

Das passierte... jeden Tag! Er hatte sich nicht so verhalten, als sei es komisch, sondern nur, als sei es schmerzhaft.

Shane und Eve hatten beide gesagt, dass Michael tagsüber schläft. Sie waren beide Nachtschwärmer; im Moment schliefen sie tief und fest und würden erst in ein paar Stunden aufstehen. Michael konnte täglich auf diese Weise... verschwinden, ohne dass es jemand mitbekam.

Bis sie kam und ihre Nase in alles hineinsteckte.

Sag es ihnen nicht. Warum nicht? Was war das Geheimnis?

Sie war verrückt. Das war die einzig vernünftige Erklärung. Aber wenn sie verrückt war, war sie ja nicht vernünftig...

Claire rollte sich auf dem Sofa zusammen, sie zitterte und fühlte wieder einen kalten Lufthauch über sie hinwegstreichen. Eiskalt. Sie setzte sich auf. »Michael«, sprudelte es aus ihr heraus und sie saß ganz still. Die Kälte verschwand und strich dann wieder über sie hinweg. »Ich... ich glaube, ich kann dich fühlen. Bist du noch da?« Eine oder zwei Sekunden vergingen ohne den eisigen Luftzug, dann streifte er wieder ihre Haut. »Du kannst uns also sehen?« Ja, schätzte sie, da sich der Warm-Kalt-Wechsel wiederholte. »Du gehst tagsüber nicht weg? Oh... hm, bleib, wo du bist, wenn du Nein meinst, okay?« Die Kälte blieb. »Wow. Das ist krass.« Ein Ja, und komischerweise munterte sie das etwas auf. Na gut, sie führte gerade ein Gespräch mit einem Lufthauch, aber wenigstens fühlte sie sich nicht einsam. »Du möchtest nicht, dass ich Shane und Eve davon erzähle?« Ein klares Nein. Vielleicht war es sogar noch etwas kälter geworden. »Gibt es etwas... irgendetwas, das ich tun kann?« Ebenfalls nein. »Michael, kommst du wieder?« Ja. »Heute Abend?« Nochmals ja.«Wir werden so viel zu besprechen haben.« Die Kälte zog vollständig ab. Ja.

Sie ließ sich auf der Couch nach hinten sinken, ihr war schwindelig und sie fühlte sich merkwürdig und erschöpft. Eine schäbige alte Decke lag neben dem Gitarrenkoffer; sie schob das Instrument hinüber zum Tisch (und stellte sich einen unsichtbaren Michael vor, der ihr ängstlich dabei zusah), wickelte sich in die Decke und ließ sich begleitet vom Soundtrack der Großvateruhr und den Erinnerungen an Michaels Gitarre in den Schlaf sinken.

***

Am nächsten Tag ging Claire zum Unterricht. Eve stritt mit ihr; Shane nicht. Es passierte nichts Besonderes, obwohl Claire Monica zweimal auf dem Campus sah. Monica war von Fans - männlichen wie weiblichen - umgeben und hatte keine Zeit zu grollen. Claire hielt den Kopf gesenkt und mied einsame Ecken. Es war früher Nachmittag - keine Laborstunden - und obwohl sie am liebsten nach Hause gegangen wäre, um zu warten, bis Michael auftauchte (und sie brannte wirklich darauf, das zu sehen!), wusste sie, dass sie sich dadurch selbst verrückt und Shane misstrauisch machen würde.

Als sie grob die Richtung einschlug, entdeckte sie ein kleines Café, das zwischen dem Skateboardgeschäft und einem Antiquariat eingezwängt war. Common Grounds. Dort arbeitete Eve und sie hatte ihr versprochen, mal vorbeizukommen.

Die Glocke schlug silbern, als Claire die Tür aufdrückte, und es war, als würde sie im Glass House ins Wohnzimmer kommen, nur etwas mehr Gothic. Sofas und Stühle, die mit schwarzem Leder bezogen waren, dicke farbenfrohe Teppiche, beige und blutrot gestrichene Wände, viele Ecken und Winkel. Fünf oder sechs Studenten waren auf Cafétische und Stehtischchen verteilt. Keiner von ihnen sah von seinem Buch oder Laptop auf. Der ganze Raum roch nach Kaffee und eine gleichmäßige Wärme erfüllte ihn.

Claire blieb einen Augenblick unentschlossen stehen, ging dann zu einem freien Tisch und ließ ihren Rucksack fallen, bevor sie zur Theke ging. Zwei Personen standen hinter der hüfthohen Barriere. Eine davon war natürlich Eve, die keck und puppenhaft aussah mit ihrem schwarz gefärbten Haar, das zu Rattenschwänzen zusammengefasst war, ihren mit Kajal umrandeten Augen und dem Lippenstift in dramatischem Gothic-Schwarz. Sie trug ein schwarzes Netz-Shirt über einem roten Top und sie grinste, als sie Claire entdeckte.

Die andere Person war ein älterer Mann; er war groß und dünn und hatte ergrauendes, lockiges Haar, das fast bis zu seinen Schultern fiel. Er hatte ein nettes, markantes Gesicht, große dunkle Augen und einen Rubinohrring in seinem linken Ohr. Ein waschechter Hippie, vermutete Claire. Er lächelte ebenfalls.

»Hey, da ist Claire!«, sagte Eve und eilte um die Theke, um ihren Arm um Claires Schulter zu legen.

»Claire, das ist Oliver. Mein Chef.«

Claire nickte zögernd. Er sah nett aus, aber hey, er war der Chef. Chefs machten sie nervös, genau wie Eltern. »Guten Tag, Sir.“

»Sir?« Oliver hatte eine tiefe Stimme und ein noch tieferes Lachen. »Claire, du solltest mich kennenlernen. Ich bin kein Sir, glaub mir.«

»Stimmt«, Eve nickte vielsagend. »Er ist ein Kumpel. Du wirst ihn mögen. Hey, magst du einen Kaffee? Geht auf mich.“

»Ich - ähm...«

»Du rührst das Zeug nicht an, richtig?« Eve rollte die Augen. »Ein koffeinfreies Getränk, schon unterwegs. Wie wäre es mit Kakao? Chai? Tee?«

»Ich glaube, Tee.«

Eve ging zurück hinter die Theke, erledigte ein paar Handgriffe, und innerhalb weniger Minuten erschien vor Claire eine große weiße Tasse mit Untertasse, die dampfendes Wasser und einen Teebeutel enthielt. »Geht aufs Haus. Na ja, eigentlich auf mich, weil, iiiiks! der Boss ist ja da.«

Oliver, der sich gerade an einer komplizierten Maschine zu schaffen machte, mit der man - wie Claire annahm - Cappuccino kochte, schüttelte den Kopf und grinste vor sich hin. Claire betrachtete ihn neugierig. Er sah ein bisschen aus wie ein entfernter Cousin von ihr aus Frankreich - zumindest die Hakennase. Sie fragte sich, ob er Professor an der Uni gewesen war oder einfach nur Langzeitstudent. Beides hielt sie für möglich.

»Ich hab gehört, du hattest ein paar Probleme«, sagte Oliver, wobei er sich noch immer darauf konzentrierte, Teile der Maschine abzuschrauben. »Mädels im Wohnheim.“

»Ja«, gab sie zu und fühlte, wie ihre Wangen brannten. »Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung.«

»Bestimmt. Aber hör mal: Wenn du wieder Ärger dieser Art hast, dann komm hierher und sag mir Bescheid. Ich sorge dann dafür, dass es aufhört.« Er sagte das mit absoluter Sicherheit. Sie blinzelte und seine dunklen Augen ruhten einen Augenblick lang auf ihren. »Ich bin hier in der Gegend nicht ohne Einfluss. Eve hat mir erzählt, dass du sehr begabt bist. Wir können nicht zulassen, dass irgendwelche schwarzen Schafe dich von hier vertreiben.«

»Ähm... danke?« Sie hatte nicht vorgehabt, es wie eine Frage klingen zu lassen, aber es kam einfach so heraus. »Danke, ich werde Bescheid sagen.«

Oliver nickte und wandte sich wieder dem Zerlegen der Kaffeemaschine zu. Claire fand einen Platz ganz in der Nähe. Eve glitt hinter der Theke hervor, zog einen Stuhl neben sie und beugte sich voll rastloser Energie vor: »Ist er nicht großartig?«, fragte sie. Er meint das ernst, weißt du? Er hat eine Art Draht zu...«

Sie formte mit ihren Fingern ein V. V wie Vampire. »Sie hören auf ihn. Es ist gut, ihn auf unserer Seite zu haben.«

Claire nickte, tunkte den Teebeutel ein und beobachtete, wie sich das Wasser dunkel färbte. »Sprichst du eigentlich mit jedem über mich?«

Eve schaute sie betroffen an. »Nein! Natürlich nicht! Ich habe nur - nun ja, ich habe mir Sorgen gemacht. Ich dachte mir, Oliver weiß vielleicht etwas, das... Claire, du sagtest selbst, dass sie versucht haben, dich umzubringen. Jemand sollte etwas dagegen unternehmen.«

»Er?«

»Warum nicht?« Eves Bein zuckte, sie klopfte mit dem dicken Absatz ihrer schwarzen Spangenschuhe auf den Boden. Ihre Strümpfe waren grün-schwarz geringelt. »Ich meine, ich weiß, dass es für dich wichtig ist, unabhängig zu sein, aber komm schon. Ein bisschen Unterstützung schadet nie.«

Da hatte sie nicht unrecht. Claire seufzte, nahm ihren Teebeutel heraus und nippte an dem heißen Getränk. Nicht schlecht, selbst an einem glühend heißen Tag.

»Bleib hier«, sagte Eve. »Du kannst hier lernen, es ist ein guter Platz dafür. Ich fahr dich dann nach Hause, okay?«

Claire nickte und war plötzlich dankbar; es gab zu viele Stellen auf dem Nachhauseweg, an denen man verloren gehen konnte, falls Monica sie doch bemerkt hatte. Der Gedanke, die drei Blocks zwischen dem Studentenviertel, wo alles hell und belebt war, und der farblosen Stille der übrigen Stadt, in der auch das Glass House lag, zu Fuß zu gehen, behagte ihr überhaupt nicht. Sie rückte den Tee zur Seite und packte ihre Bücher aus. Eve ging zurück und nahm die Bestellungen dreier schnatternder Mädels in Verbindungs-T-Shirts auf. Sie waren unhöflich zu ihr und kicherten hinter ihrem Rücken. Eve schien es nicht zu bemerken oder falls sie es doch tat, machte sie sich nichts daraus.

Oliver jedoch schon. Er legte das Werkzeug, das er gerade benutzt hatte, weg, als Eve herumwuselte und Getränke holte, und starrte die Mädels ununterbrochen an. Eine nach dem anderen verfiel in Schweigen. Eigentlich tat er nichts Besonderes, es war nur die Beharrlichkeit, mit der er zu ihnen hinüberstarrte.

Als Eve bei ihnen abkassierte, bedankten sie sich kleinlaut und nahmen ihr Wechselgeld entgegen.

Sie blieben nicht.

Oliver lächelte leicht, hob ein Einzelteil seiner zerlegten Maschine auf und polierte es, bevor er es wieder befestigte. Er musste bemerkt haben, dass Claire ihn beobachtete, denn er sagte mit sehr gedämpfter Stimme: »Ich toleriere Unhöflichkeit nicht. Nicht in meinem Laden.«

Sie war sich nicht sicher, ob er von den Mädchen sprach oder davon, dass sie selbst ihn anstarrte, deshalb wandte sie sich hastig wieder ihren Büchern zu.

Quadratische Gleichungen sind ein großartiger Zeitvertreib für einen Nachmittag.

***

Eves Schicht endete um neun, als gerade das Nachtleben im Common Grounds begann; Claire, die nicht an das Gemurmel, das Geplauder und die Musik gewohnt war, konnte sich sowieso nicht mehr auf ihre Bücher konzentrieren. Sie war froh über einen Grund, gehen zu können, als Eves Ablösung - ein mürrisch aussehender, pickliger Junge in Shanes Alter - ihren Platz hinter der Theke einnahm. Eve ging nach hinten, um ihre Sachen zu holen, und Claire packte ihren Rucksack.

»Claire.« Sie schaute auf, erschrocken, weil sich jemand, außer Leuten, die sie umbringen wollten, an ihren Namen erinnerte, und sah Kim Valdez aus dem Wohnheim.

»Hey, Kim«, sagte sie. »Danke, dass du mir geholfen hast...«

Kim sah wütend aus. Ziemlich wütend. »Fang am besten gar nicht erst damit an! Du hast mein Cello einfach da draußen herumliegen lassen! Hast du irgendeine Vorstellung, wie hart ich für dieses Ding geschuftet habe? Du hast sie wohl nicht mehr alle!«

»Aber - ich hab doch gar nicht...«

»Lüg mich nicht an. Du bist einfach irgendwohin abgehauen. Ich hoffe, du hast deine Taschen und den ganzen Krempel gefunden, ich hab sie draußen hingeschmissen, genau wie du mein Zeug.« Kim rammte die Hände in die Hosentaschen und starrte sie an. »Bitte mich nie wieder um einen Gefallen, okay?«

Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern ging einfach weiter in Richtung Theke. Claire seufzte. »Okay«, sagte sie und zog den Reißverschluss ihres Rucksacks zu. Sie wartete ein paar Minuten, aber die Menschenmenge wurde immer dichter und Eve war nirgends zu sehen. Sie stand auf, wich einigen Jungs aus und stieß beim Zurücktreten an einen Tisch in einer dunklen Ecke.

»Hey«, sagte eine sanfte Stimme. Sie schaute sich um, sah eine Kaffeetasse kippen und eine bleiche, langfingrige Hand, die sie gerade noch auffing. Die Hand gehörte einem jungen Mann - als jungen konnte man ihn nicht mehr bezeichnen, fand Claire; er hatte dichtes schwarzes Haar und helle Augen und hatte sich wohl an den Tisch gesetzt, als Claire gerade nicht hingeschaut hatte.

»Sorry«, sagte sie. Er lächelte sie an und leckte mit seiner blassen Zunge einige Kaffeetropfen von seinem Handrücken.

Sie fühlte, wie es ihr heiß den Rücken hinunterlief, und sie schauderte. Sein Lächeln wurde breiter.

»Setz dich doch«, sagte er. »Ich heiße Brandon. Und du?“

»Claire«, hörte sie sich selbst sagen. Sie hatte es zwar nicht vor, aber sie setzte sich und ließ ihren Rucksack neben sich auf den Boden plumpsen. »Ähm, hi.«

»Hallo.« Seine Augen waren nicht nur hell, sie waren blass – von einem Blauton, der so schwach war, dass er fast silbern heraus kam. Beängstigend kühl. »Bist du allein hier, Claire?«

»Ich - nein, ich - äh.« Sie brabbelte wie ein Idiot und wusste nicht, was mit ihr los war. Durch die Art, wie er sie ansah, fühlte sie sich nackt. Nicht insgeheim auf eine Wow-ich-glaube-er-mag-mich-Art, sondern so, dass sie sich verstecken und schützen wollte. »Ich bin mit einer Freundin hier.«

»Eine Freundin«, sagte er und griff herüber, um ihre Hand zu nehmen. Sie wollte sie wegziehen, sie tat es auch, aber irgendwie hatte sie die Kontrolle über sich verloren. Sie konnte nur noch zusehen, wie er die Hand mit der Handfläche nach unten drehte und zu seinem Mund führte, um sie zu küssen. Der warme, feuchte Druck seiner Lippen auf ihren Fingern ließ sie über und über erschauern.

Dann strich er mit dem Daumen über ihr Handgelenk. »Wo ist dein Armband, kleine Claire? Brave Mädchen tragen ihre Armbänder. Hast du denn keins?«

»Ich...« Etwas Krankes und Schreckliches ging in ihrem Kopf vor, etwas, das sie dazu zwang, die Wahrheit zu sagen. »Nein, ich habe keins.« Sie wusste jetzt, was Brandon war, und es tat ihr leid, dass sie Eve ausgelacht hatte und dass sie jemals an ihren Worten gezweifelt hatte.

Du bekommst schon noch, was du verdienst, hatte Monica prophezeit.

Tja, hier war es also.

»Verstehe.« Brandons Augen schienen noch einen Tick blasser zu werden, bis sie schneeweiß waren mit winzigen schwarzen Pupillen. Sie konnte nicht atmen, konnte nicht schreien. »Die Frage ist jetzt, wer bekommt dich. Und da ich zuerst hier bin...«

Er ließ ihre beiden Hände und ihre Seele los und sie sackte mit einem atemlosen kleinen Keuchen nach hinten. Jemand stand hinter ihrem Stuhl, eine solide Wärme, und Brandon starrte mit finsterer Miene an ihr vorbei.

»Du verletzt meine Gastfreundschaft«, sagte Oliver und legte seine Hand auf Claires Schulter. »Wenn du je wieder meine Freundin Claire hier drin belästigst, muss ich allen die Privilegien entziehen. Verstanden? Ich nehme nicht an, dass du dafür geradestehen willst.«

Brandon war außer sich. Seine Augen waren wieder blau, aber Claire sah, wie er Oliver anfauchte und dabei lange Eckzähne entblößte. Richtige, echte Vampirzähne, wie die einer Schlange, die aus irgendeinem Versteck hinten im Mund in Position schnellen und dann wieder zurück, flink wie der Stachel eines Skorpions. »Lass das!«, sagte Oliver ruhig. »Das beeindruckt mich nicht. Verschwinde. Zwing mich nicht, ein Gespräch mit Amelie über dich zu führen.«

Brandon glitt von seinem Stuhl und schob sich lässig durch die Menschenmenge dem Ausgang zu. Draußen war es bereits dunkel, bemerkte Claire. Er ging in die Nacht hinaus und verschwand von der Bildfläche.

Oliver hatte noch immer seine Hand auf ihrer Schulter und drückte sie jetzt leicht. »Das war sehr ungünstig«, sagte er. »Du musst vorsichtig sein, Claire. Bleib immer in Eves Nähe. Ihr müsst gegenseitig auf euch aufpassen. Ich will nicht, dass euch etwas passiert.«

Sie nickte und schluckte. Eve kam aus dem Hinterzimmer gerannt, der Ledermantel flatterte ihr um die Knöchel. Ihr Lächeln erstarb, als sie Claires Gesicht sah. »Was ist passiert?“

»Brandon war hier«, sagte Oliver. »Auf Beutezug. Claire ist ihm zufällig über den Weg gelaufen.“

»Oh«, sagte Eve mit schwacher Stimme. »Bist du okay?«

»Alles in Ordnung mit ihr. Ich habe ihn entdeckt, bevor er irgendwelche bleibenden Schäden verursachen konnte. Bring sie nach Hause, Eve. Und haltet nach ihm Ausschau; er kann es nicht gut wegstecken, wenn er vom Platz gestellt wird.«

Eve nickte und half Claire auf die Füße, nahm ihren Rucksack und brachte sie nach draußen. Der große schwarze Caddy war am Bordstein geparkt; Eve schloss ihn auf und durchsuchte gründlich Rücksitz und Kofferraum, bevor sie Claire einsteigen ließ. Als Claire ihren Sicherheitsgurt anlegte, bemerkte sie zwei Dinge: Erstens, dass Oliver in der Tür des Common Grounds stand und sie beobachtete.

Zweitens, dass Brandon am äußersten Rand des Lichtkegels der Straßenlampe stand und sie ebenfalls beobachtete.

Eve sah ihn auch. »Verdammter Mistkerl«, stieß sie wütend hervor und zeigte ihm den Mittelfinger. Das war vielleicht nicht besonders klug, aber Claire fühlte sich dadurch besser. Eve startete den Motor und fuhr mit quietschenden Reifen aus der Parklücke; sie fuhr, als wollte sie den Formel-1-Rekord brechen, und hielt nur wenige Minuten später mit quietschenden Bremsen vor dem Haus. »Okay, du zuerst«, sagte sie. »Renn zur Haustür und schlag dagegen, während du aufmachst. Lauf Claire!«

Claire stieg atemlos aus, knallte die Gartentür zurück und rannte den gepflasterten Weg und die Treppe hinauf, während sie ihren Schlüssel aus der Tasche fischte. Ihre Hände zitterten und sie verfehlte beim ersten Versuch das Schlüsselloch. Sie trat gegen die Tür und brüllte: »Shane! Michael!«, als sie es noch einmal versuchte.

Sie hörte, wie hinter ihr die Autotür zuknallte und Eves Schuhe auf dem Bürgersteig klapperten... und stoppten.

»Nun«, sagte Brandons tiefe, kalte Stimme, »lass uns jetzt nicht unhöflich werden, Eve.«

***

Claire wirbelte herum und sah Eve absolut reglos, noch immer zehn Schritte von der Veranda entfernt, mit dem Rücken zum Haus stehen. Der heiße Wind peitschte ihren Ledermantel und verursachte ein trockenes, schnappendes Geräusch.

Brandon stand ihr gegenüber, seine Augen waren im blassen Sternenlicht vollkommen weiß.

»Wer ist deine süße kleine Freundin?«, fragte er.

»Lass sie in Ruhe.« Eves Stimme war schwach und bebte. »Sie ist doch noch ein Kind.«

»Ihr seid alle noch Kinder«, sagte er schulterzuckend. »Niemand fragt nach dem Alter der Kuh, die das Fleisch für deinen Hamburger liefert«

Claire, die inzwischen völlig panisch war, konzentrierte sich, wandte sich zur Tür um und rammte den Schlüssel ins Schloss...

... gerade als Shane sie aufriss.

»Eve!«, keuchte sie und Shane schob sie beiseite, sprang die Treppe hinunter und stellte sich zwischen Eve und Brandon.

»Herein mit dir«, sagte Michael. Claire hatte ihn weder gehört noch kommen sehen, aber er stand in der Tür und winkte sie herein. Sobald sie über der Schwelle war, grabschte er sie am Arm und zog sie hinter sich, außer Sichtweite. Sie spähte hinter ihm hervor, um zu sehen, was passierte.

Shane redete, aber was immer er sagte, sie konnte es nicht hören. Eve ging langsam rückwärts, und als die Absätze ihrer Schuhe die Verandatreppe berührten, wirbelte sie herum, rannte hinauf und warf sich in Michaels Arme.

»Shane!«, rief Michael.

Brandon stürzte sich auf Shane. Shane sprang zur Seite, brüllte und trat mit aller Kraft nach dem Vampir. Brandon flog rückwärts in den Zaun, krachte durch ihn hindurch und rollte auf die Straße.

Shane fiel flach auf den Boden, rappelte sich auf und rannte in Richtung Tür. Es war eigentlich unmöglich für Brandon, sich so schnell zu bewegen, aber der Vampir, der eben noch auf der Straße gelegen hatte, zuckte förmlich wie ein Blitz nach Shanes Rücken...

...und bekam ihn am T-Shirt zu fassen, wodurch er ihn ruckartig zum Anhalten zwang. Aber Shane griff nach Michaels Hand, die ihn vorwärts zog.

Das Shirt riss, Shane stolperte über die Schwelle herein und Brandon versuchte zu folgen. Er prallte an einer unsichtbaren Barriere ab und Claire sah ein weiteres Mal, wie seine tödlich spitzen Eckzähne herunterfuhren.

Michael zuckte nicht einmal zusammen. »Versuch das noch mal und wir pfählen dich im Schlaf«, sagte er. »Darauf kannst du dich verlassen. Sag es auch deinen Freunden weiter.«

Er schlug die Tür Zu. Eve ließ sich keuchend und zitternd gegen die Wand fallen; Claire konnte auch nicht aufhören zu beben. Shane sah erhitzt aus und machte sich mehr Sorgen um sein T-Shirt als um irgendetwas anderes.

Michael packte Eve an den Schultern. »Bist du okay?“

»Yeah. Ja, er hat bis jetzt noch nie - wow. Das war knapp.“

»Das kann man wohl sagen. Claire?«

Sie machte eine Handbewegung, nicht fähig, ein Wort herauszubringen.

»Wo zum Teufel kam der denn jetzt her?«, fragte Shane.

»Er nahm Claires Fährte im Common Grounds auf«, sagte Eve. »Ich konnte ihn nicht abschütteln. Sorry.“

»Verdammt. Das ist nicht gut.«

»Ich weiß.«

Michael ließ die Schlösser der Eingangstür einrasten. »Check die Hintertür. Sichere alles ab, Shane. Oben auch.“

»Check.« Shane setzte sich in Bewegung. »Mist, das war mein letztes Killers-T-Shirt. Dafür wird noch jemand bezahlen...“

»Sorry, Michael«, sagte Eve. »Ich habe es wirklich versucht.«

»Ich weiß. Das musste früher oder später passieren, wenn wir hier zu viert sind. Du hast alles richtig gemacht, mach dir keine Gedanken.«

»Ich bin so froh, dass du und Shane da wart.«

Michael wollte etwas sagen, ließ es dann aber und schaute Claire an. Eve schien es nicht zu bemerken. Sie streifte ihren Ledermantel ab, hängte ihn an einen Haken neben der Tür und klapperte in Richtung Wohnzimmer davon.

»Wir wurden gerade angegriffen«, brachte Claire schließlich heraus. »Von einem Vampir.«

»Yeah, ich hab's gesehen«, sagte Michael.

»Nein, du verstehst das nicht. Wir wurden angegriffen. Von einem Vampir. Weißt du eigentlich, wie unglaublich das ist?« Michael seufzte. »Soll ich ehrlich sein? Nein. Ich bin hier aufgewachsen, Eve und Shane auch. Wir sind irgendwie daran gewöhnt.«

»Das ist doch irre!“

»Absolut.«

Ihr fiel plötzlich wieder eine andere unglaubliche Sache ein, die sie in der Panik beinahe vergessen hätte, und sie platzte damit heraus, während sie sich umschaute, um sicherzugehen, dass Shane und Eve nicht in Sicht waren. »Was ist mit dir? Du?« Sie machte eine Handbewegung.

»Mit mir?« Er hob die Augenbrauen. »Oh. Okay. Oben.«

Sie erwartete, dass er sie in das geheime Zimmer führen würde, das Shane ihr gezeigt hatte, aber das tat er nicht; stattdessen nahm er sie mit in sein eigenes Zimmer, das große an der Ecke. Es war etwa doppelt so groß wie ihr eigenes, hatte aber nicht mehr Möbel; dafür allerdings einen offenen Kamin, der zu dieser Jahreszeit leer war, einige Sessel und eine Leselampe. Michael ließ sich auf einem der Sessel nieder. Claire nahm einen anderen; sie fühlte sich klein und fror in dem schweren Ledersessel. Der Ohrensessel war ungefähr doppelt so groß wie sie selbst.

»Also«, sagte Michael. Er beugte sich vor und stützte seine Ellbogen auf die Knie. »Lass uns über heute Morgen sprechen.« Aber als er das gesagt hatte, schien er nicht zu wissen, wie er anfangen sollte. Er zappelte herum und starrte auf den Teppich.

»Du bist gestorben«, sagte Claire. »Du bist verschwunden.«

Er schien froh, etwas zu haben, worauf er eingehen konnte. »Nicht direkt, aber - ja. Das trifft es ungefähr. Du weißt, dass ich Musiker war?«

»Das bist du doch immer noch!«

»Musiker spielen irgendwo draußen, nicht zu Hause. Du hast Shane beim Abendessen gehört. Er setzt mich unter Druck, weil er herausfinden möchte, warum ich keine Gigs mehr spiele. Die Wahrheit ist, ich kann dieses Haus nicht mehr verlassen.«

Sie erinnerte sich daran, wie er mit blassem Gesicht in der Tür gestanden und Shanes Auseinandersetzung mit Brandon beobachtet hatte. Das war keine Feigheit; er wäre gern dort draußen gewesen und hätte an der Seite seines Freundes gekämpft. Aber er konnte nicht.

»Was ist passiert?«, fragte sie behutsam. Sie wusste schon, dass es keine leichte Geschichte sein würde.

»Vampir«, sagte er. »Meistens saugen sie nur Blut und töten dich, wenn sie genug getrunken haben. Einige von ihnen, nicht alle, tun das gern. Aber - dieser war anders. Er folgte mir nach einem Gig und versuchte - versuchte, mich dazu zu zwingen...«

Sie fühlte ihr Gesicht brennen und senkte den Blick. »Oh. Oh mein Gott.«

»Nicht das«, sagte er. »Nicht direkt. Er versuchte, einen Vampir aus mir zu machen. Aber er schaffte es nicht. Ich glaube, er tötete mich. Oder zumindest fast. Er konnte nicht das aus mir machen, was er war, aber er versuchte es. Es hätte uns beinahe beide umgebracht. Als ich später zu mir kam, war es hell; er war… weg und ich war ein Geist. Erst als es Nacht war, fand ich heraus, dass ich mich wieder zurückverwandeln konnte. Aber nur nachts.« Er schüttelte langsam den Kopf und rieb die Hände aneinander, als wollte er Schmutz abwaschen. »Ich glaube, das Haus hält mich am Leben.«

»Das Haus?«, wiederholte sie.

»Es ist alt. Und es hat eine Art...« Er zuckte die Achseln. »Eine Art Macht. Ich weiß nicht genau, was es ist. Als meine Eltern es kauften, lebten sie nur ein paar Monate darin, dann zogen sie nach New York. Sie mochten die Schwingungen nicht. Ich mag es. Ich glaube, es mag mich auch. Aber ich kann es sowieso nicht verlassen. Ich hab es schon versucht.«

»Auch nicht tagsüber? Wenn du nicht hier bist, du weißt schon?«

»Macht keinen Unterschied«, sagte er. »Ich kann durch keine Tür, kein Fenster und keine Ritze hinaus. Ich sitze hier in der Falle,«

Es sah seltsam erleichtert aus, als er ihr das erzählt hatte. Wenn er es Shane oder Eve nicht erzählt hatte, dann hatte er es vermutlich noch nie jemandem erzählt. Es fühlte sich sonderbar an, der Hüter dieses Geheimnisses zu sein, weit es ein ziemlich großes war. Von einem Vampir angegriffen, dem Tod überlassen, in einen Geist verwandelt, im Haus gefangen. Wie viele Geheimnisse waren das überhaupt?

Etwas fiel ihr ein. »Du sagtest, der Vampir hat - hat er dich ausgesaugt?«

Michael nickte, ihre Blicke trafen sich nicht.

»Und - du bist gestorben?«

Ein weiteres stummes Nicken.

»Was passierte mit deinem - deinem Körper?«

»Ich benutze ihn immer noch irgendwie.« Er deutete auf sich selbst.

Claire konnte nicht an sich halten und streckte die Hand aus, um ihn zu berühren. Er fühlte sich real und warm und lebendig an. »Ich weiß nicht, wie es funktioniert, Claire, ich weiß es wirklich nicht. Außer dass ich glaube, dass es das Haus bewirkt, nicht ich.«

Sie holte tief Luft. »Saugst du Blut?«

Dieses Mal schaute er überrascht auf, die Lippen leicht geöffnet. »Nein. Natürlich nicht. Ich sagte dir doch, er konnte nicht aus mir machen, was er ist.«

»Ganz sicher?«

»Ich esse Shanes Knoblauch-Chili. Klingt das für dich nach einem Vampir?«

Sie zuckte nachdenklich mit den Schultern. »Bis heute dachte ich ja, dass ich weiß, was ein Vampir ist - langer Umhang, falscher rumänischer Akzent und so. Wie ist es mit Kreuzen? Wirken Kreuze?«

»Manchmal. Aber verlass dich nicht darauf. Die älteren von ihnen können durch solche Dinge nicht aufgehalten werden.“

»Wie steht es mit Brandon?« Immerhin war er im Moment ihr Hauptproblem.

Michael kräuselte die Lippen. »Brandon ist ein kleiner Fisch. Du könntest ihn mit einer Spielzeug-Pumpgun voll Leitungswasser erledigen, solange du behauptest, dass es Weihwasser ist. Er ist gefährlich, aber was die Vampire angeht, steht er am Ende der Nahrungskette. Man muss eher vor denen Angst haben, die nicht herumspazieren, ihre Vampirzähne raushängen und versuchen, dich von der Straße abzugreifen. Und ja, trag ein Kreuz - aber unter den Klamotten. Du wirst dir selbst eins basteln müssen, wenn du noch keines hast. Sie werden in der Stadt nirgends verkauft. Und wenn du Weihwasser oder Hostien finden kannst, dann trag sie bei dir, aber die Vampire dieser Stadt haben die meisten Kirchen schon vor fünfzig Jahren geschlossen. Es gibt noch ein paar im Untergrund. Sei aber trotzdem vorsichtig. Glaub nicht alles, was du hörst, und geh niemals allein irgendwohin.«

Das war die längste Rede, die sie je von Michael gehört hatte. Sie war nur so aus ihm herausgesprudelt, heftig und frustriert. Er kann nichts tun. Er kann nichts tun, um uns zu helfen, wenn wir zu dieser Tür hinausgehen.

»Warum hast du uns einziehen lassen?«, fragte sie. »Nach allem, was mit dir passiert ist?«

Er lächelte. Aber es wirkte irgendwie nicht ganz aufrichtig. »Ich war einsam«, sagte er. »Und da ich das Haus nicht verlassen kann, kann ich vieles einfach nicht mehr selbst erledigen. Ich brauchte jemanden, der Lebensmittel und so einkauft. Und... ein Geist zu sein genügt nicht, die Rechnungen zu bezahlen. Shane suchte damals nach einer Bleibe und sagte, er würde Miete bezahlen. Das war perfekt. Dann Eve... wir waren auf der Highschool befreundet. Ich konnte sie nicht einfach da draußen herumstreunen lassen, nachdem ihre Eltern sie rausgeschmissen hatten.«

Claire versuchte sich zu erinnern, was Eve gesagt hatte. Nichts eigentlich. »Warum haben sie das getan?«

»Sie wollte den Schutz ihres Patrons nicht, als sie achtzehn wurde. Und sie fing an, sich schwarz zu kleiden, als sie etwa so alt war wie du. Sagte, sie würde niemals einem Vampir die Füße küssen, egal was passiert«

Michael machte eine hilflose Handbewegung. »Als sie achtzehn war, warfen sie sie hinaus. Sie mussten es tun, sonst hätte es die ganze Familie ihren Schutz gekostet. Deshalb steht sie jetzt allein da. Sie kommt ganz gut zurecht - hier ist sie sicher und im Common Grounds auch. Nur in der übrigen Zeit muss sie auf der Hut sein.«

Claire fiel nichts ein, was sie hätte sagen können. Sie wandte ihren Blick von Michael ab und ließ ihn durch das Zimmer schweifen. Sein Bett war gemacht. Oh mein Gott, das ist sein Bett! Sie versuchte sich vorzustellen, wie Michael dort schlief, aber sie konnte es nicht Obwohl sie sich einige andere Dinge vorstellen konnte, die sie sich nicht hätte vorstellen sollen, da ihr dabei heiß wurde und es ihr peinlich war.

»Claire«, sagte er ruhig. Sie schaute wieder ihn an. »Brandon ist noch zu jung, um vor Einbruch der Dunkelheit draußen zu sein, deshalb bist du tagsüber sicher vor ihm. Aber treib dich nicht draußen herum, wenn es dunkel ist. Verstanden?«

Sie nickte.

»Die andere Sache....«

»Ich erzähle es niemandem«, sagte sie. »Sicher nicht, Michael. Nicht, wenn du es nicht willst.«

Er atmete mit einem langen, langsamen Seufzer aus. »Danke. Ich weiß, es klingt bescheuert, aber... ich möchte noch nicht, dass sie es wissen. Ich muss mir erst überlegen, wie ich es ihnen beibringe.«

»Das ist deine Angelegenheit«, sagte Claire. »Und - Michael? Wenn du plötzlich Gelüste auf, du weißt schon, rotes Zeug verspürst...«

»Du wirst als Erste davon erfahren«, sagte er. Er blickte sie fest und zugleich kühl an. »Und ich erwarte von dir, dass du alles tust, was du tun musst, um mich daran zu hindern.«

Sie fröstelte und sagte ja, okay, und dass sie ihn notfalls pfählen würde, aber sie meinte es nicht so. Das hoffte sie zumindest.