3

 

Sie wachte im Dunkeln auf und zuckte panisch zusammen, sodass der Eisbeutel, in dem inzwischen nur noch Wasser schwappte, von ihrem Kopfkissen auf den Boden plumpste. Das Haus war ganz still, abgesehen von den knarrenden, gruseligen Geräuschen, die Häuser bei Nacht von sich geben. Draußen raschelte der Wind in den trockenen Blättern der Bäume und von der anderen Seite ihrer Zimmertür hörte sie Musik.

Claire glitt aus dem Bett, tastete nach einer Lampe, die sie schließlich neben ihrem Bett fand - eine wirklich schöne Tiffanylampe, deren Schein alle Albtraumängste vertrieb, die sie sich zusammengereimt hatte. Die Musik war langsam, warm und beschaulich, eine Art Alternative Rock. Sie zog sich die Schuhe an, warf einen Blick in den Spiegel über der Kommode und bekam einen scheußlichen Schock. Ihr Gesicht tat immer noch weh und es war offensichtlich, warum: Ihr rechtes Auge war geschwollen, die Haut darum violett. Ihre aufgeplatzte Lippe glänzte und war ebenfalls unangenehm dick. Ihr ohnehin blasses Gesicht war noch bleicher als sonst. Ihr superkurzer schwarzer Fransenschnitt war platt gewalzt, aber sie plusterte ihn zu einer Art Frisur auf. Ihr hatte noch nie viel an Make-up gelegen, selbst dann nicht, als sie das von Mom zum Ausprobieren geklaut hatte, aber heute würden ein bisschen Grundierung und Abdeckung nicht schaden... sie sah aus wie ein abgerissener Obdachloser, der eine Schlägerei hinter sich hatte.

Na ja. Das entsprach ja auch den Tatsachen.

Claire holte tief Luft und öffnete die Schlafzimmertür. Im Flur brannten die Lichter und schimmerten warm und golden; die Musik kam von unten, aus dem Wohnzimmer. Sie schaute auf eine Uhr, die am anderen Ende des Flurs an der Wand hing; es war nach Mitternacht, sie hatte mehr als zwölf Stunden geschlafen. Und ihren ganzen Unterricht verpasst. Nicht dass sie dort hätte aufkreuzen wollen, so wie sie aussah, selbst dann nicht, wenn sie nicht ohnehin völlig panisch gewesen wäre, dass Monica ihr nachstellen könnte... aber später musste sie ihre Bücher aufschlagen - die schlugen wenigstens nicht zurück.

Ihre blauen Flecken fühlten sich besser an und ihr Kopf tat tatsächlich nur noch ein bisschen weh. Am schlimmsten von allem war immer noch der Knöchel, der mit jeder Treppenstufe, die sie nahm, scharfe, schmerzhafte Stiche wie von Glasscherben ihr ganzes Bein hinauf sandte.

Sie war schon halb unten, als sie den Jungen sah, der auf der Couch saß, auf der Shane zuvor herum gelümmelt hatte. Er hatte eine Gitarre in den Händen.

Oh. Die Musik. Sie hatte gedacht, dass sie irgendwo abgespielt würde, aber nein, sie war echt, sie war live und er spielte sie. Sie hatte nie zuvor Livemusik gehört - nicht richtig gespielte, nicht wie diese hier. Er war... wow. Er war wunderbar.

Sie beobachtete ihn, völlig erstarrt, da er offensichtlich noch nicht wusste, dass sie überhaupt existierte; es gab nur ihn und seine Gitarre und die Musik; und wenn sie beschreiben müsste, was sie in seinem Gesicht sehen konnte, dann wäre es etwas Poetisches, etwas wie Sehnsucht. Er war blond, sein Haarschnitt war, wie Shanes, ein nachlässiger Mopp. Er war nicht so kräftig wie Shane, nicht so muskulös, aber er war vermutlich ebenso groß. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit einem Bier-Logo. Blue Jeans. Keine Schuhe.

Er hörte auf zu spielen, hielt den Kopf gesenkt und griff nach dem Bier, das vor ihm auf dem Tisch stand. Er prostete in die Luft. »Happy Birthday, Mann.« Er kippte sich drei Schluck Bier hinter die Binde, seufzte und setzte die Flasche ab. »Und auf den Hausarrest. Was soll's. Besitzen oder besessen werden.«

Claire hustete. Er wandte sich erschrocken um und sah sie dort auf der Treppe stehen; seine Stirn glättete sich nach einigen Momenten. »Oh, du bist die, von der Shane erzählt hat, dass sie über das Zimmer sprechen will. Hi. Komm mal runter.«

Sie versuchte, beim Herunterkommen nicht zu humpeln, und als sie ins helle Licht trat, sah sie, dass er mit seinen flinken, intelligenten blauen Augen eine Bestandsaufnahme ihrer Prellungen machte.

Er verlor keinen Kommentar darüber. »Ich bin Michael«, sagte er. »Und du bist noch keine achtzehn, deshalb wird das wohl ein richtig kurzes Gespräch werden.«

Sie setzte sich rasch, mit klopfendem Herzen. »Ich bin auf dem College«, sagte sie. »Im ersten Jahr. Ich heiße...«

»Verarsch mich nicht, und es interessiert mich nicht, wie du heißt. Du bist noch nicht achtzehn. Ich gehe jede Wette ein, dass du noch nicht mal siebzehn bist. Wir nehmen in diesem Haus niemanden auf, der illegal ist.« Er hatte eine tiefe Stimme, sie war warm, aber - zumindest im Moment - hart. »Es ist ja nicht so, dass wir hier ein Orgienklub sind, aber sorry, Shane und ich müssen uns über solche Sachen Gedanken machen. Es genügt, dass du hier wohnst, und wenn irgendjemand fallen lässt, dass da was läuft...«

»Moment«, platzte sie heraus. »Das würde ich nie tun. Oder sagen. Ich will euch nicht in Schwierigkeiten bringen, ich brauche nur...«

»Nein«, sagte er. Er legte die Gitarre weg, packte sie in ihren Koffer und ließ ihn zuschnappen. »Es tut mir leid, aber du kannst nicht hierbleiben. Hausordnung.«

Sie hatte natürlich gewusst, dass das kommen würde, aber sie hatte irgendwie doch gehofft - Eve war nett und Shane war nicht übel und das Zimmer war so schön -, aber der Blick aus Michaels Augen war so endgültig, wie es nur ging. Vollkommene, absolute Absage.

Sie fühlte, dass ihre Lippen bebten, und sie hasste sich dafür. Warum konnte sie keine knallharte, eiskalte Zicke sein? Warum konnte sie nicht für sich selbst einstehen, wenn es sein musste, ohne in Tränen auszubrechen wie ein kleines Mädchen? Monica würde nicht weinen. Monica würde ihm eine Retourkutsche verpassen und ihm sagen, dass ihr Zeug schon im Zimmer sei. Monica würde Geld auf den Tisch knallen und zusehen, ob er sich erdreistete, es abzulehnen.

Claire griff in ihre hintere Tasche und zog ihre Geldbörse hervor. »Wie viel?«, fragte sie und begann, Geldscheine abzuzählen. Sie hatte Zwanziger, deshalb sah es nach viel aus. »Reichen dreihundert? Wenn es sein muss, kann ich mehr besorgen.«

Michael richtete sich erstaunt auf, ein leichtes Runzeln kräuselte seine Stirn. Er griff nach seinem Bier und trank noch einen Schluck, während er nachdachte. »Wie?«, fragte er.

»Was?«

»Wie würdest du mehr beschaffen?«

»Arbeiten gehen. Krempel verkaufen.« Nicht dass sie viel zu verkaufen hätte, aber in einem Notfall blieb immer noch ein panischer Anruf bei Mom. »Ich möchte hierbleiben, Michael. Ehrlich.« Sie war selbst überrascht, wie viel Überzeugung in ihrer Stimme lag. »Okay, ich bin unter achtzehn, aber ich verspreche, dass ich euch keinen Ärger mache. Ich werde euch nicht in die Quere kommen. Ich gehe aufs College und studiere. Das ist alles. Ich bin kein Partymensch, ich bin keine Faulenzerin. Ich kann mich nützlich machen. Ich werde - ich werde beim Putzen und Kochen helfen.«

Er dachte darüber nach und starrte sie an; er gehörte zu den Menschen, die man tatsächlich denken sehen konnte. Es war ein bisschen unheimlich, auch wenn er das wahrscheinlich nicht beabsichtigte. Er hatte nur so etwas... Erwachsenes an sich. Er war so selbstsicher.

»Nein«, sagte er. »Tut mir leid, Kleine. Das Risiko ist einfach zu groß.«

»Eve ist nur ein kleines bisschen älter als ich!“

»Eve ist achtzehn. Und du bist was, sechzehn?«

»Fast siebzehn!« Wenn man bei der Definition von fast ein bisschen flexibel war. »Ich bin wirklich auf dem College. Ich bin im ersten Jahr, hier ist mein Studentenausweis...«

Er ignorierte ihn. »Komm in einem Jahr wieder, dann können wir noch mal darüber sprechen«, sagte er. »Sieh mal, es tut mir leid. Was ist mit dem Wohnheim?«

»Die bringen mich um, wenn ich dort bleibe«, sagte sie und schaute hinunter auf ihre verschränkten Hände. »Sie haben heute versucht, mich umzubringen.«

»Was?«

»Die anderen Mädchen. Sie haben mich geschlagen und die Treppe hinuntergeschubst.«

Stille. Eine, die ziemlich lang dauerte. Sie hörte das Knacken von Leder und dann ließ sich Michael neben ihrem Stuhl auf ein Knie sinken. Bevor sie ihn daran hindern konnte, untersuchte er eingehend die Beule an ihrem Kopf, indem er diesen nach hinten kippte, um einen guten, sachlichen Blick auf die blauen Flecken und Risse werfen zu können. »Was noch?«, fragte er.

»Was?«

»Abgesehen davon, was ich sehen kann? Du kratzt mir hier jetzt nicht ab, oder?«

Wow, wie sensibel. »Ich bin okay. Ich war beim Arzt und so weiter. Es sind nur Prellungen. Und ein verstauchter Knöchel. Aber sie haben mich die Treppe hinuntergeschubst und es war ihnen ernst und sie sagte zu mir...«

Plötzlich kam ihr wieder in den Sinn, was Eve über Vampire gesagt hatte, und sie stolperte über ihre eigenen Worte. »Die Anführerin sagte zu mir, ich würde schon sehen, was heute Nacht auf mich zukommt. Ich kann nicht zurück ins Wohnheim, Michael. Wenn du mich hier zu dieser Tür hinausschickst, bringen sie mich um, weil ich keine Freunde habe und sonst nirgends hingehen kann!«

Er blieb noch einen Augenblick, wo er war, und schaute ihr in die Augen. Dann zog er sich wieder auf die Couch zurück. Er klappte seinen Gitarrenkasten wieder auf und drückte die Gitarre an sich; das war also sein Refugium, genau hier, mit der Gitarre im Arm. »Diese Mädchen. Gehen sie tagsüber raus?«

Sie blinzelte. »Du meinst, nach draußen? Klar. Sie besuchen den Unterricht. Na ja, manchmal zumindest“

»Tragen sie irgendwelche Armbänder?«

»Du meinst wie.,,« Eve hatte ihres auf dem Tisch zurückgelassen, deshalb hob sie das Lederbändchen mit dem roten Symbol auf. »Wie das hier? Ich habe nie darauf geachtet. Sie tragen eine Menge Zeug.« Sie dachte scharf nach und vielleicht erinnerte sie sich doch an etwas. Die Armbänder sahen jedoch anders aus als dieses. Sie waren golden und Monica und die Monickettes trugen sie um das rechte Handgelenk. Sie hatte ihnen nie Aufmerksamkeit geschenkt. »Kann sein.«

»Armbänder mit weißen Symbolen?« Michael stellte die Frage ganz beiläufig; er senkte nämlich den Kopf und konzentrierte sich darauf, seine Gitarre zu stimmen. Nicht dass das nötig gewesen wäre. Jeder Ton, den er den Saiten entlockte, hatte einen vollkommenen Klang. »Erinnerst du dich daran?“

»Nein.« Etwas zwischen Panik und Aufregung wallte in ihr auf. »Heißt das, dass sie sich schützen?«

Er zögerte etwa eine Sekunde lang, gerade lang genug, dass sie seine Überraschung bemerkte. »Du meinst Kondome?«, fragte er. »Tun wir das nicht alle?«

»Du weißt genau, was ich meine.« Ihre Wangen brannten. Sie hoffte, das war nicht so offensichtlich, wie es sich anfühlte.

»Wohl kaum.«

»Eve sagte...«

Er sah abrupt auf und in seinen blauen Augen blitzte plötzlich Ärger. »Eve sollte lieber die Klappe halten. Sie ist schon genug gefährdet, wenn sie da draußen in ihrem Gothic-0utfit herumrennt. Die denken eh schon, dass sie sie verhöhnt. Wenn ihnen dann auch noch zu Ohren kommt, dass sie von ihnen redet...“

»Wer, sie?«, fragte Claire. Nun war es an ihm, den Blick zu senken.

»Die Leute«, sagte er scharf. »Sieh mal, ich möchte nicht, dass dein Blut an meinen Händen klebt. Du kannst ein paar Tage hierbleiben. Aber nur bis du was anderes gefunden hast, okay? Und beeil dich damit, ich leite hier keine Durchgangsstation für ramponierte Mädels. Ich hab alle Hände voll zu tun, Eve und Shane aus Schwierigkeiten herauszuhalten.«

Für einen Typen, der so wunderbare Musik machte, war er ganz schön bissig und auch ein bisschen Furcht einflößend. Claire legte zögernd das Geld vor ihm auf den Tisch. Er starrte darauf mit zusammengepressten Lippen.

»Die Miete beträgt hundert im Monat«, sagte er. »Und du kaufst einmal im Monat Lebensmittel. Den ersten Monat im Voraus. Aber länger bleibst du eh nicht, du kannst den Rest also behalten.«

Sie schluckte und nahm zwei von den dreihundert, die sie abgezählt hatte, wieder an sich. »Danke«, sagte sie.

»Nichts zu danken«, sagte er. »Bring uns lieber nicht in Schwierigkeiten. Das meine ich ernst.«

Sie stand auf, ging in die Küche und füllte mit einem Löffel Chili in zwei Suppentassen, stellte sie zu Löffeln und Colas auf Tabletts und brachte alles zurück zum Couchtisch. Michael starrte zuerst die Tabletts an, dann sie. Sie setzte sich - unter Schmerzen - auf den Fußboden und begann zu essen. Nach einer Pause nahm Michael seine Suppentasse und kostete.

»Shane hat es gekocht«, sagte Claire. »Es ist ziemlich gut.“

»Yeah. Chili und Spaghetti - das ist so ungefähr alles, was Shane kochen kann. Kannst du kochen?«

»Klar.«

»Was zum Beispiel?«

»Lasagne«, sagte sie. »Und, hm, eine Art Hackfleischsoße mit Nudeln. Und Tacos.«

Michael schaute sie nachdenklich an. »Könntest du morgen Tacos machen?«

»Klar«, sagte sie. »Ich habe Unterricht von elf bis fünf, aber ich kann die Sachen auf dem Heimweg besorgen.«

Er nickte und aß gleichmäßig weiter, wobei er ab und an zu ihr aufblickte. »Es tut mir leid«, sagte er schließlich.

»Was?«

»Dass ich so ein Arschloch war. Weißt du, es ist eben so, dass ich nicht - dass ich vorsichtig sein muss. Wirklich vorsichtig.“

»Du warst kein Arschloch«, sagte sie. »Du versuchst, dich selbst und deine Freunde zu beschützen. Das ist okay. Du musst tun, was du tun musst.«

Michael lächelte und sein Gesicht verwandelte sich dadurch, es wurde plötzlich engelhaft und wunderschön. Junge, Junge, dachte sie erstaunt. Er ist absolut umwerfend. Kein Wunder, dass er sich Sorgen machte, weil sie minderjährig war. Wenn er so lächelte, sanken ihm die Mädchen bestimmt reihenweise zu Füßen.

»Wenn du in diesem Haus wohnst, gehörst du zu meinen Freunden«, sagte er. »Übrigens, wie heißt du überhaupt?«

»Claire. Claire Danvers.«

»Willkommen im Glass House, Claire Danvers.“

»Aber nur vorübergehend.“

»Yep, vorübergehend.«

Sie lächelten sich unsicher an und dieses Mal räumte Michael die Teller ab, während Claire in ihr Zimmer ging, um ihre Bücher auf dem eingebauten Tisch auszubreiten und mit ihrem heutigen Lernprogramm zu beginnen.

Sie hörte ihn unten spielen, eine zarte und tief empfundene Begleitmusik für die Nacht, als sie in die Welt eintauchte, die sie liebte.