12

 

Eve war so eindringlich, dass nicht einmal Shane nach drei Bieren mehr fähig war, direkt Nein zu sagen. Michael sagte überhaupt nichts, sondern beobachtete Miranda mit Augen, die viel zu klar waren für jemanden, der dieselbe Menge Alkohol wie Shane intus hatte. Während Eve Sachen vom Tisch räumte und eine einzelne schwarze Kerze in die Mitte stellte, rang Claire nervös die Hände und versuchte, Michaels Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn sie das jetzt tut, formte sie mit den Lippen, was machen wir dann?

Er zuckte mit den Schultern. Nichts, schätzte sie. Na ja, außer Eve glaubte sowieso keiner daran. Sie dachte, dass es eigentlich nichts schaden konnte.

»Okay«, sagte Eve und ließ Miranda auf einem Stuhl am Kopfende Platz nehmen. »Shane, Michael, Claire - setzt euch.“

»Das ist doch Bullshit«, sagte Shane.

»Also - bitte. Tu es einfach, okay?« Eve sah gestresst und ängstlich aus. Was immer sie und Miranda mit diesen Tarotkarten dort oben getrieben hatten, es hatte sie echt nervös gemacht. »Tut es einfach für mich.«

Michael setzte sich auf einen Stuhl am anderen Ende des Tisches, möglichst weit von Miranda entfernt. Claire setzte sich neben ihn und Shane griff sich einen Stuhl auf der anderen Seite, sodass Eve und Claire am nächsten an Miranda saßen. Miranda zitterte, als würde sie gleich einen Anfall bekommen.

»Haltet euch an den Händen«, sagte Eve und ergriff Mirandas linke, danach Shanes rechte Hand. Sie starrte Claire an, bis sie es ebenso machte und Mirandas andere Hand und Michaels Hand nahm. Blieben noch Shane und Michael, die sich gegenseitig anschauten und die Achseln zuckten.

»Wie auch immer«, sagte Michael und nahm Shanes Hand.

»Himmel noch mal, Jungs, homophob oder was? Hier geht es nicht darum, möglichst männlich zu sein, sondern darum...“

»Er ist tot! Ich sehe ihn!«

Claire zuckte zusammen, als Miranda das praktisch hinausbrüllte. Alle am Tisch erstarrten. Selbst Shane. Dann kämpften alle damit, nicht in irrsinniges Gekicher auszubrechen - zumindest Claire, aber sie sah, dass auch Shanes Schultern bebten. Eve biss sich auf die Lippen, aber Tränen standen in ihren Augen.

»Jemand ist in diesem Haus gestorben! Ich sehe ihn. Ich sehe seine Leiche am Boden liegen...« Miranda stöhnte, drehte und wand sich und warf sich auf ihrem Stuhl hin und her. »Es ist noch nicht vorbei. Es ist nie vorbei. Dieses Haus - dieses Haus lässt es nicht enden.«

Claire konnte sich nicht zurückhalten, sie musste Michael einfach anschauen, der Miranda mit kalten, zu Schlitzen verengten Augen anstarrte. Er drückte Claires Hand mit seiner. Als sie dazu ansetzte, etwas zu sagen, drückte er sie noch stärker. Alles klar. Sie hielt schon die Klappe.

Miranda hielt die Klappe jedoch nicht. »In diesem Haus geht ein Gespenst um! Ein unruhiger Geist!«

»Unruhiger Geist?«, flüsterte Shane. »Ist das der politisch korrekte Ausdruck für angepisst? Ihr wisst schon, so etwas wie Untoter für Vampir oder so.«

Miranda öffnete die Augen und sah ihn finster an. »jemand ist schon gestorben«, verkündete sie. »Genau hier, in diesem Zimmer. Sein Geist geht in diesem Haus um und er ist stark.«

Alle schauten sich gegenseitig an. Michael und Claire vermieden weiteren Augenkontakt, aber Claire fühlte, wie ihre Atemzüge kürzer wurden und ihr Herz raste. Sie sprach über Michael! Sie wusste es! Wie war das aber möglich?

»Ist er gefährlich?«, fragte Eve atemlos. Claire wäre fast erstickt. »Ich - ich kann es nicht sagen. Es liegt im Nebel.«

Shane sagte: »Alles klar. Dead man walking, kann nicht sagen, ob gefährlich, weil - wow - im Nebel. Sonst noch was?« Wieder musste Claire ein hysterisches Kichern hinunterschlucken.

Mirandas Gesicht sah nun bitter und unangenehm verzerrt aus. »Feuer«, sagte sie. »Ich sehe Feuer. Ich höre, wie jemand um Hilfe schreit«

Shane riss seine Hand von Eve und Michael los, stieß seinen Stuhl nach hinten und sagte: »Okay, das war's. Ich bin hier raus. Du kannst dir deinen übersinnlichen Kick woanders holen.“

»Nein, warte!«, sagte Eve und griff nach ihm. »Shane, sie hat dasselbe in den Karten gesehen...«

Er riss sich los. »Sie sieht, was immer man möchte! Und sie fährt total auf die Aufmerksamkeit ab, die ihr dafür zuteil wird, für den Fall, dass du das noch nicht gemerkt hast! Und sie ist eine Vampirschlampe!«

»Shane, bitte! Hör es dir wenigstens mal an!«

»Ich habe genug gehört. Lasst mich wissen, wenn ihr mit Tischerücken oder Ouija-Brettern anfangt, das macht mir mehr Spaß. Wir könnten noch ein paar Zehnjährige dazuholen, damit sie uns beibringen, wie es geht“

»Shane, warte! Wo gehst du hin?“

»Ins Bett«, sagte er und ging die Treppe hoch. »Nacht.«

Claire hielt noch immer Michael und Miranda an der Hand. Sie ließ beide los, schob ihren Stuhl zurück und ging ihm nach. Sie hörte seine Tür zuschlagen, bevor sie oben ankam, und rannte den Flur entlang, um mit den Fäusten dagegenzuschlagen. Er antwortete nicht und es drang kein Geräusch einer Bewegung nach draußen.

Dann bemerkte sie, dass das Bild an der Flurwand schräg hing, und verrückte es noch weiter, um auf den Knopf darunter zu starren. Würde er...?

Natürlich würde er.

Sie zögerte eine Sekunde, dann drückte sie darauf. Das Paneel gegenüber klickte, ein Hauch kalter Luft drang heraus und sie ging schnell hinein, schloss es wieder und ging die Treppe hoch.

Shane lag auf der Couch, seine Füße ruhten auf der geschwungenen Armlehne aus poliertem Holz. Er hatte einen Arm über seine Augen gelegt.

»Geh weg«, sagte er. Claire sank neben ihm auf die Couch, weil sich seine Stimme, na ja, nicht so gut anhörte. Sie war leise und ein wenig erstickt. Seine Hand zitterte. »Mir ist es ernst, Claire, verschwinde.«

»Als du mich das erste Mal gesehen hast, habe ich geweint«, sagte sie. »Es braucht dir nicht peinlich zu sein.“

»Ich weine nicht«, sagte er und bewegte seinen Arm. Er weinte tatsächlich nicht, aber seine Augen brannten und er sah zornig aus. »Ich kann es nicht ertragen, dass sie vorgibt zu wissen. Sie war Lyssas Freundin. Wenn sie es gewusst hat, wenn sie es wirklich gewusst hat, hätte sie sich mehr anstrengen sollen.« Claire biss sich auf die Lippen. »Meinst du damit, sie..,« Sie konnte es nicht aussprechen. Meinst du damit, sie hat versucht, es dir zu sagen? Und er konnte es nicht zugeben, falls sie es hatte.

Wenn er sich darauf eingelassen hätte... vielleicht wäre seine Schwester dann noch am Leben.

Nein, Claire konnte es nicht aussprechen. Und er hätte es nicht hören wollen.

Stattdessen griff sie hinüber und nahm seine Hand. Er schaute auf ihre ineinandergeschlungenen Finger hinunter, seufzte und schloss die Augen. »Ich bin betrunken und angepisst«, sagte er. »Nicht gerade eine gute Gesellschaft im Moment. Oh, Mann, deine Eltern würden uns umbringen, wenn sie von alldem wüssten.« Sie sagte nichts, da er absolut recht hatte. Sie wollte nur dort sitzen, in diesem stillen Zimmer, wo die Zeit stillzustehen schien, und bei ihm sein.

»Claire?« Seine Stimme war ruhiger. Ein bisschen schläfrig vielleicht. »Tu das nie wieder.«

»Was?«

»Rausgehen wie heute Abend. Nicht wenn es dunkel ist.“

»Ich gehe nicht aus, wenn du auch nicht ausgehst.«

Er lächelte, ließ aber die Augen geschlossen. »Keine Dates? Was ist das, das Big-Brother-Haus? Ich bin schließlich nicht nach Morganville zurückgekehrt, um mich zu verstecken.«

Sie wurde sofort neugierig. »Warum bist du denn zurückgekommen?«

»Michael. Das habe ich doch schon gesagt. Er rief mich an, ich kam. Er hätte für mich dasselbe getan.« Shanes Lächeln erlosch. Wahrscheinlich dachte er daran, dass Michael nicht ans Telefon gegangen und nicht ins Krankenhaus gekommen war. Ihn nicht unterstützt hatte.

»Es steckt noch mehr dahinter«, sagte sie. »Sonst wärst du wieder gegangen.«

»Vielleicht«, seufzte Shane. »Lass gut sein, Claire. Du musst hier nicht in jedem Geheimnis herumstochern, okay! Das kann gefährlich sein.«

Sie dachte an Michael. Daran, wie er Miranda über den Seance-Tisch hinweg angeschaut hatte. »Ja«, stimmte sie ihm zu. »Das stimmt allerdings.«

***

Sie redeten noch Stunden über nichts Besonderes - sie vermieden es, über Vampire oder Schwestern, die im Feuer umkamen, oder Mirandas Visionen zu sprechen. Shane vertiefte sich in Themen, die bei Claire unter Jungs-Klassiker liefen: Diskussionen darüber, ob Superman Batman schlagen konnte (»der klassische Batman oder der total coole Batman«), über Filme, die sie mochten, und solche, die sie hassten. Claire versuchte es mit Büchern. Bei den Klassikern war er nicht besonders bewandert, aber wer war das schon? (Sie war es, aber sie war ja auch ein kompletter Freak). Er liebte Horrorgeschichten. Das hatten sie gemeinsam. Die Zeit schien in diesem kleinen Zimmer überhaupt nicht zu vergehen. Das Gespräch schien von allein weiterzugehen, sich zu verselbstständigen und wurde allmählich langsamer, während die Minuten und Stunden verstrichen. Sie begann zu frieren und schläfrig zu werden, deshalb zog sie eine afghanische Decke von einem Stuhl in der Nähe und breitete sie über ihre Schultern. Prompt schlief sie ein, wie sie so auf dem Boden saß, mit dem Rücken an das Sofa gelehnt, auf dem Shane lag.

Sie kam erschrocken zu sich, als das Sofa knarrte; sie merkte, dass Shane aufstand. Er blinzelte, gähnte, rubbelte sich über die Haare (die lustig aussahen, wenn er das tat) und schaute auf seine Uhr.

»Oh, mein Gott, ist das früh«, stöhnte er. »Himmel. Na ja, wenigstens kann ich jetzt zuerst ins Bad.«

Claire sprang auf die Füße. »Wie spät ist es?«

»Neun«, sagte er und gähnte wieder. Sie fasste über ihn, drückte auf den versteckten Knopf und stürzte an ihm vorbei zur Tür, wobei sie sich später kaum noch daran erinnern konnte, unterwegs die Decke abgeworfen zu haben. »Hey! Erster im Bad! Mir ist es ernst!«

Sie machte sich weniger Sorgen um das Bad als darüber, erwischt zu werden. Immerhin hatte sie die ganze Nacht mit einem jungen verbracht. Einem jungen, der etwas getrunken hatte. Das meiste davon entsprach nicht der Hausordnung, nahm sie an, und Michael würde ausflippen, wenn er es wüsste. Vielleicht... vielleicht war Michael so davon abgelenkt, was Miranda von sich gegeben hatte, dass er sich Sorgen machte, obwohl sie zugeben musste, dass Miranda genau wusste, wovon sie sprach. Sie wusste nur nicht, von wem.

Na ja, Michael war jetzt, da es hell war, ohnehin körperlos, deshalb musste sie sich keine Sorgen machen, auf ihn zu stoßen... aber sie musste entscheiden, was sie mit dem Unterricht machen sollte. Dies war sowieso schon die schlimmste Collegewoche ihres Lebens und sie hatte nicht das Gefühl, dass es besser wurde, es sei denn, sie handelte schnell. Shane hatte einen Deal mit dem Teufel gemacht; es war nur so lange sinnvoll, daraus Nutzen zu ziehen, bis sie eine Lösung gefunden hatte, wie er da wieder herauskam. Monica und ihre Freundinnen würden sie nicht mehr behelligen - zumindest nicht mit tödlichen Absichten. Es gab also keinen Grund für sie, ihren Hintern nicht in die Bibliothek zu schwingen.

Sie raffte ihre Kleider zusammen und sprang ins Bad, gerade als Shane, noch immer gähnend, aus dem geheimen Zimmer wankte.

»Aber ich hatte zuerst gerufen!«, sagte er und klopfte an die Tür. »Erster im Bad! Verdammt, ihr Mädels versteht einfach die Regeln nicht...«

»Sorry, aber ich muss mich fertig machen!« Sie drehte die Dusche auf und schälte sich in Rekordgeschwindigkeit aus ihren alten Klamotten. Ihre Jeans musste wirklich gewaschen werden und sie hatte auch ihre letzte saubere Unterwäsche an.

Claire war schnell in der Dusche und auch schnell wieder draußen. Sie vertraute darauf, dass die wasserfeste Bandage auf ihrem Rücken halten würde (tat sie wirklich). Nach weniger als fünf Minuten zupfte sie ihr nasses Haar zurecht und schob sich in atemloser Eile an Shane vorbei, um sich ihren Rucksack zu greifen und Bücher hineinzustopfen.

»Wo zum Teufel gehst du hin?«, fragte er von der Tür her. Er klang jetzt überhaupt nicht mehr schläfrig. Sie machte den Reißverschluss an ihrem Rucksack zu, warf ihn sich über die Schulter, die nicht wehtat, und wandte sich ihm zu, ohne zu antworten. Er lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen, den Kopf zur Seite gelegt. »Das ist jetzt nicht dein Ernst. Was ist los mit dir, hast du Todessehnsucht, oder was? Du legst es wohl darauf an, noch mal eine Treppe hinunter geschubst zu werden oder etwas in der Art?«

»Du hast einen Deal. Sie werden mich in Ruhe lassen.«

»Sei nicht blöd! Überlass das den Experten. Glaubst du wirklich, sie könnten den Deal nicht umgehen?«

Sie ging auf ihn zu und starrte hinauf zu seinem Gesicht. Er sah enorm groß aus. Und er war kräftig und stand ihr im Weg. Und es war ihr gleichgültig.

»Du hast einen Deal«, sagte sie, »und ich gehe in die Bibliothek. Lass mich bitte durch.«

»Bitte? Verdammt, Schätzchen, du musst lernen, richtig auszuflippen, sonst...«

Sie rempelte ihn an. Das war bescheuert und eigentlich hätte er die Kraft gehabt, einfach zu bleiben, wo er war, aber sie hatte den Überraschungseffekt auf ihrer Seite und brachte ihn dazu, ein paar Schritte zurückzutaumeln. Schon war sie aus der Tür und zog los, die Schuhe noch in der Hand. Sie würde nicht anhalten, um ihm eine weitere Chance zu geben, sie in Sicherheit zu halten.

»Hey!« Er holte sie ein, packte sie am Arm und riss sie herum. »Ich dachte, du sagtest, du würdest nicht..,“

»Bei Nacht«, sagte sie und wandte sich um, um die Treppe hinunterzugehen. Er ließ sie los... und sie rutschte ab. Für eine beängstigende Sekunde verlor sie den Halt und taumelte oben am Rand der Treppe, aber dann schlossen sich Shanes warme Hände um ihre Schultern und brachten sie wieder ins Gleichgewicht.

Er hielt sie wenige Sekunden fest. Sie drehte sich nicht um, denn sonst, wenn er so nah wäre, na ja, sie wusste nicht... Sie wusste nicht, was passieren würde.

»Bis dann«, brachte sie hervor und ging die Treppe hinunter, so schnell es ihre zitternden Knie erlaubten.

Es herrschte eine morgendliche Hitze wie in einem Toaster, nur ohne den leckeren Geruch nach Essen; ein paar Leute waren auf der Straße. Eine Frau schob einen Kinderwagen, und als Claire sich einen Augenblick hinsetzte, um ihre verratzten Sportschuhe anzuziehen, betrachtete sie sie fast schon erstaunt. Wie konnte man in einer Stadt wie dieser Babys haben! Was dachten sich die Leute dabei? Aber sie schätzte, dass man überall Kinder in die Welt setzte, ganz egal, wie schrecklich dieser Ort war. Außerdem hatte die Frau ein Armband um ihr schmales Handgelenk.

Das Baby war sicher, zumindest bis zu seinem achtzehnten Geburtstag. Claire sah auf ihr eigenes, nacktes Handgelenk hinunter, fröstelte und verdrängte es aus ihren Gedanken, als sie sich auf den Weg zum Campus machte.

***

Jetzt, wo sie darauf achtete, bemerkte sie, dass so gut wie jeder, der ihr begegnete, etwas um sein Handgelenk hatte - die Frauen Armkettchen, die Männer Uhrenarmbänder. Sie konnte nicht sagen, was für Symbole sich darauf befanden. Sie musste irgendeine Art von Alphabet finden; vielleicht hatte schon jemand recherchiert und bewahrte es an einem sicheren Ort auf.., irgendwo, wo die Vampire nicht nachschauen würden. In der Bibliothek hatte sie sich ohnehin schon immer am sichersten gefühlt. Sie ging direkt dorthin, wobei sie immer wieder über ihre Schulter nach Monica, Gina, Jennifer oder sonst jemandem Ausschau hielt, der auch nur entfernt so aussah, als hätte er Interesse an ihr. Sie entdeckte niemanden.

Die Bibliothek der TPU war riesig. Und verstaubt. Selbst die Bibliothekare am Eingang wirkten so, als hätten sie seit ihrem letzten Besuch die eine oder andere Spinnwebe angesetzt. Ein weiterer Beweis - wenn sie einen gebraucht hätte -, dass an der TPU nicht das Studieren im Mittelpunkt stand.

Sie schaute sich die Bestandsübersicht an und entdeckte, dass die Bibliothek in Morganville nach der Dewey-Dezimalklassifikation geordnet war. Das war seltsam, denn sie hatte gedacht, dass alle Unis das System der Library of Congress benutzten. Sie ging durch die Verzeichnisse, suchte nach Nachschlagewerken und fand heraus, dass sie im Keller waren.

Großartig.

Sie wollte gerade weggehen, als sie sich noch einmal der Liste zuwandte. Irgendetwas stimmte nicht damit. Aber sie kam nicht gleich drauf, was...

Es gab keinen vierten Stock. Nicht auf der Liste zumindest. Das Dewey-System sprang direkt vom dritten in den fünften. Vielleicht waren dort Büros, dachte sie. Oder Archive. Oder Versand. Oder... Särge.

Jedenfalls war es merkwürdig.

Sie machte sich daran, die Treppen in den Keller hinunterzusteigen, aber dann hielt sie an und legte den Kopf in den Nacken. Es war ein altmodisches Treppenhaus mit massiven Holzgeländern, die sich in präzisen, L-förmigen Winkeln bis ganz nach oben zogen.

Was soll's, dachte sie. Es waren nur ein paar Treppen. Sie konnte immer noch behaupten, sie hätte sich verirrt.

Sie hörte nichts und niemanden mehr, sobald sie den ersten Stock verlassen hatte. Es war still wie - und sie hasste den Gedanken - wie auf einem Friedhof. Sie versuchte, leise die Treppe hinaufzugehen, und hörte auf, sich am Geländer festzuhalten, da sie bemerkt hatte, dass sie verräterische, schweißige Abdrücke hinterließ. Sie ging an der Holztür zum zweiten Stock vorbei, dann am dritten. Durch das Glasfenster war niemand zu sehen.

Der vierte Stock hatte noch nicht einmal eine Tür. Claire hielt verblüfft an und berührte die Wand. Nein, keine Tür und auch sonst nichts Geheimnisvolles. Nur die nackte Wand. War es möglich, dass es überhaupt keinen vierten Stock gab?

Sie ging nach oben zum fünften Stock und bahnte sich ihren Weg durch die stillen, verstaubten Magazine bis zur anderen Treppe und ging sie hinunter. Auf dieser Seite gab es eine Tür, aber sie war verschlossen und hatte kein Fenster.

Definitiv keine Büros, schätzte sie. Särge schon eher. Verdammt, es störte sie, dass sie sich in einer Bibliothek fürchtete. Von Büchern sollte man nicht annehmen, dass sie Angst machen. Sie sollten eigentlich... helfen.

Wenn sie irgendeine abgefahrene Superheldin gewesen wäre, hätte sie das Schloss wahrscheinlich mit einer Nagelschere oder so geknackt. Leider war sie aber keine Superheldin, außerdem knabberte sie ihre Nägel ab.

Nein, sie war keine Superheldin, aber sie war etwas anderes. Sie hatte... Ressourcen.

Als sie dort stand und das Schloss anstarrte, begann sie zu lächeln. »Angewandte Wissenschaft«, sagte sie und rannte die Treppen zum Erdgeschoss hinunter.

Sie hatte etwas im Chemielabor zu erledigen.

***

»Na ja«, sagte ihr TA, »wenn du wirklich ein Schloss zerstören willst, brauchst du etwas Starkes, zum Beispiel flüssiges Helium. Aber flüssiges Helium ist nicht unbedingt transportierbar.“

»Wie steht es mit Halogenkohlenwasserstoffen?«, fragte Claire.

»Nein, ohne Genehmigung kommt man an das Zeug nicht ran. Eine andere Rezeptur gibt es zu kaufen, sie wird nicht so kalt, aber sie ist umweltverträglicher. Aber damit kann man wahrscheinlich nichts ausrichten.«

»Flüssiger Stickstoff?«

»Dasselbe Problem wie mit Helium. Zu Unhandlich.«

Claire seufzte. »Schade. Es war so eine coole Idee.«

Der TA lächelte. »Ja, wirklich. Weißt du, ich habe für Unterrichtsversuche einen tragbaren Tank mit flüssigem Stickstoff, aber es ist schwierig, an so was ranzukommen. Ziemlich teuer. Nicht gerade etwas, das so im Laden herumliegt Sorry.«

Er ging weg, völlig konzentriert auf ein Experiment für seine Absolventen, und vergaß sie prompt. Sie biss sich auf die Lippen, starrte eine Weile auf seinen Rücken und ging dann langsam... ganz langsam nach hinten zur Tür des Materialraums. Er war nicht abgeschlossen, damit der TA bequem hinein- und herauskonnte, wenn er etwas brauchte. Rote und gelbe Warnschilder wiesen sie darauf hin, dass sie Krebs bekommen, ersticken oder eines anderen grausamen Todes sterben würde, wenn sie die Tür öffnete... aber sie tat es trotzdem.

Sie quietschte. Der TA musste es gehört haben und sie erstarrte wie eine Maus angesichts eines herannahenden Raubvogels. Schuldbewusst.

Er drehte sich nicht um. Tatsächlich blieb er absichtlich mit dem Rücken zu ihr stehen.

Sie atmete bebend aus, schlüpfte in den Raum und schaute sich um. Er wurde ordentlich in Schuss gehalten, alle Chemikalien waren beschriftet, aufgeräumt und jeweils mit Sicherheitshinweisen versehen, die darunter hingen. Der TA hatte alles alphabetisch eingeordnet. Sie fand das Schildchen, auf dem »flüssiger Stickstoff« stand, und sah einen unübersehbaren, klotzigen Tank… daneben stand ein kleiner, der aussah wie eine riesige Thermoskanne und mit einem Schulterriemen versehen war. Sie ergriff ihn und las dann den Hinweis, auf dem »Schutzhandschuhe verwenden« stand. Die Handschuhe lagen auch dort. Sie stopfte ein Paar davon in ihren Rucksack, schwang den Kanister über ihre Schulter und machte, dass sie hinauskam.

Die Bibliothekare schauten beim zweiten Mal nicht einmal mehr auf, als sie kam. Claire winkte und lächelte, dann ging sie durch die Magazine bis zur Hintertreppe.

Die Tür war noch so, wie sie sie zurückgelassen hatte. Sie zog die Handschuhe an, machte den Kanister oben auf und fand eine Art Stahlpipette, die in eine Öffnung passte. Sie stellte sicher, dass sie richtig saß, dann öffnete sie das Ventil, hielt den Atem an und begann, stark gekühlte Flüssigkeit in das Schloss zu gießen. Sie war sich nicht sicher, wie viel sie verwenden sollte - lieber zu viel als zu wenig, nahm sie an -, und ließ mehr davon hineinfließen, bis das Innere des Schlosses total vereist war. Dann schloss sie das Ventil wieder, rief sich ins Gedächtnis, dass sie die Handschuhe anbehalten musste, und riss am Türknauf.

Krack! Es klang wie ein Gewehrschuss. Sie zuckte zusammen und schaute sich um. Dann bemerkte sie, dass sich der Knauf in ihrer Hand bewegt hatte.

Sie hatte die Tür geöffnet.

Blieb also nur noch, hineinzugehen... aber nun, da das möglich war, erschien ihr das irgendwie gar keine gute Idee mehr. Weil... Särge. Oder womöglich Schlimmeres.

Claire holte Luft, um sich zu beruhigen, öffnete die Tür und schaute vorsichtig um die Ecke.

Es sah aus wie ein Lagerraum. Akten. Kartonstapel und Holzkisten. Niemand war zu sehen. Na toll, dachte sie. Womöglich bin ich jetzt einfach nur ins Aktenarchiv eingebrochen. Das wäre enttäuschend. Sie packte jedoch ihre Handschuhe wieder in den Rucksack, nur für den Fall.

Die Kartons sahen neu aus, aber ihr Inhalt war alt. Das entdeckte sie, als sie eine Schnur löste, die sie zusammenhielt - Zerbröselnde, schlecht erhaltene Bücher. Uralte Buchstaben und Papiere in Sprachen, die sie nicht lesen konnte und von denen einige aussahen wie die Vorfahren des heutigen Englisch. Sie versuchte es mit der nächsten Schachtel. Genau das Gleiche. Es war ein großer Raum, der bis oben hin voll mit dem Zeug war.

Das Buch, dachte sie. Sie suchen das Buch. Jedes alte Buch, das sie auftreiben können, gelangt hierher und wird untersucht. Als sie genauer hinschaute, sah sie, dass auf den Kisten kleine rote X standen - bedeutete das, dass sie damit schon durch sind? Außerdem Initialen. Jemand zeichnete dafür verantwortlich. Was hieße... dass hier jemand arbeitete.

Gerade als sich dieser Gedanke geformt hatte, kamen vor ihr zwei Leute aus dem Labyrinth aus Schachteln. Sie hatten es eilig und sie waren beunruhigt. Vampire. Sie konnte nicht sagen, woran sie das erkannt hatte - sie waren nicht direkt danach angezogen -, aber durch die Art, wie sie sich bewegten, so sicher und locker, witterte sie mit ihrem verwundbaren Beutetiergehirn förmlich das Raubtier in ihnen.

»Nun«, sagte die klein gewachsene Blondine, »wir bekommen nicht oft Besuch hier oben.« Abgesehen von ihrem blassen Gesicht und dem Glitzern in ihren Augen sah sie wie Hunderte andere Mädels auf dem Campus aus. Sie trug Pink. Es schien Claire nicht angemessen, dass Vampire Pink trugen.

»Bist du irgendwo falsch abgebogen, Schätzchen?« Der Mann war größer, dunkler und sah wirklich sonderbar aus… wirklich tot. Es lag an seiner Hautfarbe, wie Claire registrierte. Sie war schwarz. Da er ein Vampir war, war sie verblasst, aber nicht zu Weiß, sondern zur Farbe von Asche. Er hatte ein violettes TPU-Shirt an, eine graue Sporthose und Laufschuhe. Wenn er ein Mensch wäre, hätte sie geschätzt, dass er schon alt war, alt genug, um Professor zu sein zumindest.

Sie trennten sich und kamen aus unterschiedlichen Richtungen auf sie zu.

»Wessen Kleine bist du?«, schnurrte das pinkfarbene Mädel, und bevor sich Claires Gehirn damit beschäftigen konnte, dass sie endlich weglief, hatte das Mädchen ihre linke Hand genommen und untersuchte ihr nacktes Handgelenk. Dann untersuchte sie das rechte. »Oh je, du bist wirklich verloren gegangen, Süße. John, was machen wir denn da?«

»Na ja«, sagte John und legte ihr freundschaftlich die Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich kälter an als die Flasche mit dem flüssigen Stickstoff auf ihrem Rücken. »Wir könnten uns hinsetzen und eine schöne Tasse Kaffee zusammen trinken. Wir könnten dir alles erzählen, was wir hier so machen. Das möchtest du doch wissen, oder? Kinder wie du sind immer so verdammt neugierig.« Er lenkte sie vorwärts und Claire wusste - sie wusste es einfach -, dass jeder Versuch, sich loszureißen, schmerzhaft enden würde. Wahrscheinlich würden sie ihr alle Knochen brechen.

Außerdem hielt Pink Girl noch immer ihr Handgelenk fest. Ihre Finger pressten auf Claires Puls.

Ich muss hier raus. Und zwar schnell.

»Ich weiß, was ihr hier macht«, sagte sie. »Ihr sucht nach dem Buch. Aber ich dachte, Vampire können es gar nicht lesen.«

John hielt an und schaute seine Begleiterin an, die ihre blassen Augenbrauen hochzog. »Angela?«, fragte er.

»Können wir auch nicht«, sagte sie. »Wir sind nur als... Beobachter hier. Und du scheinst für ein freilaufendes Kind sehr bewandert zu sein. Du bist unter achtzehn, oder? Solltest du nicht unter jemandes Schutz stehen? Dem deiner Familie?«

Sie schien ernsthaft besorgt zu sein. Das war seltsam.

»Ich bin Studentin«, sagte Claire. »Begabtenförderungsprogramm.«

»Ah«, sagte Angela und sah sie ein wenig bedauernd an. »Na ja, dann bist du wohl tatsächlich allein. Das ist ja übel.“

»Weil ihr mich töten werdet?«, hörte sich Claire sagen und erinnerte sich daran, was Eve ihr gesagt hatte. Schau ihnen nicht in die Augen. Zu spät. Angelas Augen waren von einem zarten Türkis, sie waren wunderschön. Über Claire spülte ein köstlich warmes Gefühl hinweg, als würde sie gleich einschlafen.

»Wahrscheinlich«, gab Angela zu. »Aber zuerst solltest du einen Tee trinken.«

»Kaffee«, sagte John. »Ich mag es mit Koffein.“

»Es verdirbt den Geschmack!«

»Es verleiht diese Energie.« John schnalzte mit der Zunge.

»Warum lasst ihr mich nicht die Kartons durchsehen?«, fragte Claire und versuchte verzweifelt, dieses Einschlafgefühl zu vertreiben. Die Vampire führten sie durch einen Irrgarten aus Schachteln und Kisten, die alle mit einem X und Initialen versehen waren. »Ihr müsst das Menschen tun lassen, stimmt's? Wenn ihr das Buch nicht lesen könnt?«

»Warum denkst du, dass du es lesen könntest, Kleine?«, fragte Angela. Sie hatte einen butterweichen Akzent, nicht genau definierbar, irgendetwas zwischen Kalifornien und dem Mittleren Westen. Er klang alt. »Bist du auch Sprachwissenschaftlerin?“

»N-nein, aber ich weiß, wie das Symbol aussieht, das ihr sucht. Ich kann es erkennen.«

Angela fuhr nachdenklich mit dem Fingernagel leicht über die Innenseite von Claires Arm.

»Nein, ich habe das Tattoo nicht, aber ich weiß, wie es aussieht.« Sie zitterte am ganzen Körper, sie hatte auf eine seltsam unbeteiligte Art entsetzliche Angst, aber ihr Gehirn lief auf Hochtouren auf der Suche nach einem Ausweg. »Ich kann es erkennen. Du nicht, oder? Du kannst es nicht einmal zeichnen.«

Angelas Fingernägel gruben sich warnend nur ein klein wenig tiefer in ihre Haut. »Sei nicht so besserwisserisch, Kleine. Wir gehören nicht zu der Sorte Leute, über die man sich lustig machen sollte.«

»Ich mache mich nicht lustig. Ihr könnt es nicht sehen. Deshalb habt ihr es noch nicht gefunden. Es ist nicht so, dass ihr es nur nicht lesen könnt - oder?«

Angela und John tauschten wieder einen stummen und bedeutungsvollen Blick aus. Claire schluckte schwer, versuchte, sich ein gutes Argument auszudenken, um nicht gebissen zu werden (Vielleicht wenn ich keinen Tee oder Kaffee trinke?), und dachte daran, wie sauer Shane sein würde, wenn er herausfand, dass sie gegangen war und sich hatte umbringen lassen. Auf dem Campus, am helllichten Tag.

Die Vampire bogen um eine Ecke aus Schachteln und dort, in einem freien Raum, befand sich eine Tür, die nicht zum Treppenhaus führen konnte. Es war eine Aufzugtür mit einem »Nach unten« Knopf, daneben ein altersschwaches Schulpult, ein Stuhl und... »Professor Wilson?«, platzte sie heraus. Er sah auf und blinzelte hinter seinen Brillengläsern. Er war ihr Professor für klassische englische Literatur (montags, mittwochs und freitags um zwei Uhr), der zwar langweilig war, aber Ahnung von seinem Stoff hatte. Er sah verblasst aus und grau - graue Haare, blasse graue Augen - und er neigte dazu, sich in Farben zu kleiden, die ihn noch blasser erscheinen ließen. Heute trug er ein weißes Hemd und ein graues Jackett.

»Ah. Du bist«, er schnipste zwei- oder dreimal mit den Fingern, »in meiner Shakespeare-Einführung...«

»Klassische englische Literatur.«

»Ja, genau. Sie ändern ab und zu den Titel, um die Studenten dazu zu bringen, die Vorlesung noch einmal zu besuchen. Neuberg, nicht wahr?« Angst stand in seinen Augen. »Du bist doch dazu eingeteilt, mir hier zu helfen, oder?«

»Ich...« Ihr ging ein Licht auf. Vielleicht war dies gerade ein guter Zeitpunkt, einen falschen Eindruck von sich entstehen zu lassen. »Ja. Bin ich. Von... Miss Samson.« Miss Samson war der Drache aus der Englischen Fakultät; jeder wusste das. Niemand stellte sie infrage. Was Ausreden anging, war Claires Lüge dünn wie Papier, aber es war alles, was sie hatte. »Ich habe sie gesucht«

»Und die Tür war offen?«, fragte John und sah auf sie hinunter. Sie fixierte ihren Blick auf Professor Wilson, der sie wahrscheinlich nicht hypnotisieren würde, damit sie die Wahrheit sagte.

»Ja«, sagte sie fest. »Sie war offen.« Das einzig Gute an dem Kanister auf ihrem Rücken war, dass er zumindest wie etwas aussah, das ein College-Student mit Suppe oder Kaffee darin bei sich tragen könnte. Und er sah nicht unbedingt wie etwas aus, mit dem man Schlösser knackte. Inzwischen musste sich der flüssige Stickstoff bereits zu Luft sublimiert haben, sodass jeder Beweis vernichtet war.

Das hoffte sie zumindest.

»Gut, denn«, sagte Wilson und schaute sie stirnrunzelnd an. »Du gehst jetzt besser an die Arbeit, Neuberg. Wir haben viel zu tun. Du weißt, wonach wir suchen?«

»Ja, Sir.« John ließ ihre Schulter los. Nach ein paar Augenblicken ließ auch Angela sie widerstrebend frei und Claire ging zu dem Pult, zog sich einen Holzstuhl heran und stellte Rucksack und Kanister sorgsam auf den Boden.

»Kaffee?«, fragte John hoffnungsvoll.

»Nein, danke«, sagte sie höflich und zog den ersten Bücherstapel zu sich heran.

***

Die Arbeit war interessant, was merkwürdig war, und die Vampire wurden immer weniger Furcht einflößend, je länger sie in ihrer Gesellschaft war. Angela war zappelig, sie klopfte ständig mit dem Fuß oder flocht ruhelos ihre Haare oder rückte Bücherstapel gerade.

Die Vampire schienen nur als Aufsicht hier zu sein; wenn Professor Wilson und Claire alle Bücherberge durchgeschaut hatten, nahmen sie sie weg und brachten neue Bücher zum Überprüfen.

»Woher stammen die alle?«, fragte sich Claire laut und nieste, als sie ein Buch öffnete, auf dem Landregister von Atacosa County stand und dessen Seiten in uralter Schrift eng beschrieben waren. Namen, Daten, Maße. Nicht das, was sie suchten.

»Von überall«, sagte Professor Wilson und schloss das Buch, das er durchgeblättert hatte. »Secondhandläden. Antiquariate. Buchhändler. Sie haben ein Netzwerk, das um die ganze Welt reicht, und alles kommt zur Untersuchung hierher. Wenn das, was sie suchen, nicht dabei ist, geht es wieder raus. Sie machen damit sogar Profit, habe ich gehört.«

Er räusperte sich und hielt ein Buch hoch, das er eben angeschaut hatte. »John? Das ist eine Erstausgabe von Lewis Carroll. Ich denke, du solltest es beiseitelegen.«

John nahm es pflichtbewusst und legte es auf einen Stapel, der, wie Claire glaubte, seltene und wertvolle Bücher enthielt.

»Wie lange machen Sie das schon, Professor?«, fragte sie. Er sah müde aus.

»Seit sieben Jahren«, sagte er. »Vier Stunden pro Tag. Bald kommt jemand und löst uns ab.«

Uns bedeutete, dass sie hier herauskommen würde. Nun, das war fabelhaft. Sie hatte gehofft, dass sie zumindest eine Notiz mit dem Professor würde hinausschmuggeln können, etwa FALLS IHR MEINE LEICHE FINDET - ICH WURDE VON MISS PINK IN DER BIBLIOTHEK UMGEBRACHT, aber das klang sehr nach dem Brettspiel, das ihre Eltern so gern spielten.

»Keine Unterhaltungen während des Unterrichts«, sagte John und lachte. Als er das tat, fuhren seine Eckzähne herunter. Seine waren länger als Brandons und sahen irgendwie furchterregender aus. Claire schluckte und konzentrierte sich auf das Buch vor sich. Der Titel lautete Einheimische Getreidearten der Neuen Welt. Ein ganzes Buch über Getreide. Wow. Sie fragte sich, wie Professor Wilson all die Jahre bei Verstand bleiben konnte. Mais gehört zur Familie der Süßgräser und wächst ursprünglich auf dem amerikanischen Kontinent... Sie überblätterte einige Seiten. Noch mehr über Mais. Sie fragte sich, wie man so viel über eine Pflanze schreiben konnte.

Neben ihr stieß Professor Wilson einen gedämpften Fluch aus und sie schaute erschrocken auf. Sein Gesicht war blass geworden, abgesehen von zwei roten Flecken oben auf den Wangen. Er täuschte rasch ein Lächeln vor und hielt einen Finger hoch, an dem ein roter Streifen zu sehen war. »Papierschnitt«, sagte er. Seine Stimme klang hoch und angespannt; Claire folgte seinem erstarrten Blick und entdeckte Angela und John, die sich näherten und den Finger des Professors mit gespenstischer Konzentration beobachteten.

»Es ist nichts. Überhaupt nichts.« Er grub in seiner Tasche nach einem Taschentuch und wickelte es um den blutigen Finger. Dabei fiel das Buch, das er gerade durchgesehen hatte, auf den Boden. Claire bückte sich automatisch, um es aufzuheben, aber Wilson hakte es mit dem Fuß ein und kickte es aus ihrer Reichweite. Er beugte sich vor und in der Dunkelheit unter dem Pult tauschte er Bücher aus.

Claire beobachtete ihn mit offenem Mund. Was zum Teufel tat er da? Bevor sie etwas Dummes machen konnte, das ihn womöglich verraten hätte, erklang vom Aufzug auf der anderen Seite des Raums ein heller Gong, dann das Geräusch sich öffnender Türen.

»Ah«, sagte Wilson sichtlich erleichtert. »Zeit zu gehen.« Er fasste hinunter, hob das versteckte Buch auf und ließ es mit solcher Geschicklichkeit in seine Ledertasche gleiten, dass Claire sich nicht ganz sicher war, dass sie es überhaupt gesehen hatte. »Komm mit, Neuberg.«

»Die nicht«, sagte John und lächelte fröhlich. »Sie muss noch nachsitzen.«

»Aber...« Claire biss sich auf die Lippen und suchte verzweifelt Augenkontakt mit dem Professor herzustellen, der finster dreinblickte und sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. »Sir, kann ich nicht mit Ihnen kommen? Bitte!“

»Doch, natürlich«, sagte er. »Ich sagte doch, komm mit. Mr Hargrove, wenn Ihnen das nicht passt, dann wenden Sie sich bitte an die Verwaltung. Ich habe jetzt Unterricht.«

Er hätte das auch durchsetzen können, wenn Angela nicht so scharfe Augen gehabt hätte oder so misstrauisch gewesen wäre; sie hielt ihn auf, als er schon halb am Aufzug war, öffnete seine Aktentasche und nahm das Buch heraus, das er dort verstaut hatte. Sie blätterte es schweigend durch, reichte es dann John, der es auch noch einmal durchschaute. Beide schauten den Professor mit ruhigen, kühlen Augen an, die seltsam erfreut wirkten.

»Nun«, sagte Angela, »ich weiß ja nicht, aber das sieht mir nach einer Verletzung der Regeln aus, Professor. Bücher aus der Bibliothek mitzunehmen, ohne sie auszuchecken. Was für eine Schande.«

Sie schlug geflissentlich die erste Seite auf und las: »Es war die beste Zeit, es war die schlimmste Zeit...«, und dann blätterte sie das Buch sorgfältig durch, hielt an willkürlichen Stellen inne und las Textzeilen vor. Alles klang richtig für Claire. Sie zuckte zusammen, als ihr Angela das Buch hinschob. »Lies«, sagte die Vampirin.

»Ähm... wo?«

»Irgendwo.« Claire las stockend ein paar Zeilen von Seite 229 vor.

»Charles Dickens' Eine Geschichte aus zwei Städten«, sagte John. »Lassen Sie mich raten, Professor... eine Erstausgabe?“

»Neuzustand«, sagte Angela und riss es Claire aus den zitternden Händen. »Ich glaube, der Professor hat einen hübschen kleinen Plan für seine Pension, den er dadurch verwirklicht, dass er uns um unsere rechtmäßigen Profite bringt.“

»Hm«, sagte John. »So dämlich sah er gar nicht aus. Er hat schließlich all diese Titel und so.«

»Das ist nur auf dem Papier. Man kann nie sagen, was sie im Schädel haben, bevor man ihn nicht geöffnet hat.« Die beiden unterhielten sich, als wäre er gar nicht da.

Professor Wilsons blasse Haut glänzte inzwischen vor Schweiß. »Ein schwacher Moment«, sagte er. »Ich entschuldige mich zutiefst. Es wird nicht wieder vorkommen, das schwöre ich Ihnen.“

»Entschuldigung angenommen«, sagte Angela. Sie schoss nach vorne, platzierte ihre Hand auf seiner Brust und stieß ihn zu Boden. »Übrigens glaube ich Ihnen.«

Sie packte sein Handgelenk, führte es zum Mund und machte eine Pause, um seine goldene Armbanduhr zu entfernen und auf den Boden zu werfen. Als es fiel, erhaschte Claire einen Blick auf das dreieckige Symbol auf dem Zifferblatt. Ein Delta?

Sie löste sich aus ihrer Erstarrung, als sie die gellenden Schreie des Professors hörte. Erwachsene Männer sollten nicht auf diese Weise schreien. Das fühlte sich einfach nicht richtig an. Ihr Entsetzen verärgerte sie und sie ließ die Tasche mit ihren Büchern fallen, nahm den Kanister von ihrer Schulter und riss den Deckel herunter.

Dann schüttete sie flüssigen Stickstoff über Angelas Rücken. Als sich John ihr zähnefletschend zuwandte, spritzte sie den Rest davon auf sein Gesicht und zielte dabei auf die Augen. Wilson wälzte sich am Boden, während Angela schreiend zusammenbrach und um sich schlug; John griff nach ihm, aber Claire war es gelungen, ihn ebenfalls zu verletzen, deshalb verfehlte er ihn. Wilson packte seine Aktentasche und sie ihren Rucksack; sie rannten zum Aufzug. Dort stand mit offenem Mund ein perplexer Professor, den sie nicht kannte; Wilson brüllte ihn an, aus dem Weg zu gehen; er sprang in den Aufzug und hämmerte wie wild auf den Knopf ein, sodass Claire Angst hatte, er könnte kaputtgehen oder stecken bleiben.

Die Tür schloss sich und der Aufzug fuhr nach unten. Claire versuchte, ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen, aber es funktionierte nicht; sie war kurz davor zu hyperventilieren. Immerhin ging es ihr besser als dem Professor. Er sah furchtbar aus; sein Gesicht war so grau wie seine Haare und er atmete in flachen, harten Zügen.

»Oh je«, sagte er schwach. »Das war nicht gut.«

Und dann sank er langsam an der Wand des Aufzugs Zu Boden, bis er zum Sitzen kam, die Beine weit von sich gestreckt.

»Professor?« Claire stürzte zu ihm und beugte sich über ihn.

»Herz«, keuchte er und machte ein Geräusch, als würde er ersticken. Sie lockerte seine Krawatte, aber es schien nicht zu helfen, »Hör zu. Mein Haus. Bücherregal. Schwarzer Einband. Geh!“

»Ganz ruhig, Professor, alles ist okay...«

»Nein. Kann nicht zulassen, dass sie es kriegen. Bücherregal. Schwarzer...«

Seine Augen traten hervor und sein Rücken verkrampfte sich zu einem Bogen; sie hörte, wie er ein schreckliches Geräusch von sich gab und dann...

Dann starb er einfach. Völlig unspektakulär, ohne große Reden, ohne bombastische Musik, die ihr vorgab, was sie dabei fühlen sollte. Er war einfach... weg, und auch wenn sie ihre zitternden Finger an seinen Hals presste, wusste sie, dass sie nichts fühlen würde, da er etwas völlig anderes an sich hatte als zuvor. Er war wie eine Gummipuppe, nicht wie ein Mensch.

Die Aufzugtüren öffneten sich. Claire rang nach Luft, packte ihre Bücher und den leeren silbernen Kanister und rannte den nackten Betonflur hinunter, an dessen Ende sich ein Notausgang befand, durch den sie in die helle Nachmittagssonne hinaustrat.

Dort blieb sie für ein paar lange Augenblicke stehen und zitterte, keuchte und weinte einfach; dann überlegte sie, wohin sie jetzt gehen sollte. Angela und John glaubten, dass sie Neuberg hieß, und das war gut; weniger gut für Neuberg - wenn es jemanden mit diesem Namen gab -, aber letztendlich würden sie herausfinden, wer sie war. Sie musste zu Hause sein, bevor das passierte.

Bücherregal. Schwarzer Einband.

Professor Wilson hat sieben Jahre in diesem Raum verbracht und Bücher durchgesehen. Die, von denen er glaubte, dass sie auf dem Schwarzmarkt etwas wert sein könnten, hat er vermutlich hinausgeschmuggelt.

Was, wenn...?

Nein, das konnte einfach nicht sein.

Außer... was, wenn doch? Was, wenn der Professor vor einem Jahr oder vor fünf Jahren das Buch gefunden hatte, auf das die Vampire so versessen waren, und beschloss, es für schlechte Zeiten aufzubewahren? Immerhin hatte sie im Prinzip den gleichen Plan gehabt, nur dass bei ihr die Zeichen bereits auf Sturm standen.

Es war nicht weit bis zum Gebäude für Geisteswissenschaften, und sie rannte so viel des Wegs, wie sie konnte, bis sie der Schmerz in ihrem noch immer verstauchten Knöchel und ihrem wunden Rücken dazu zwang, langsamer zu werden. Über zwei Treppen gelangte sie zu den Büros; sie ging an Professor Wilsons geschlossenem Büro vorbei und blieb vor dem unaufgeräumten Schreibtisch draußen zwischen den Korridoren stehen. Auf dem Namensschild stand Vivian Samson, aber alle nannten sie nur den Drachen, und die Frau, die dahintersteckte, machte ihrem Namen alle Ehre. Sie war alt, dick und für ihre schlechte Laune berüchtigt. In allen Unigebäuden herrschte Rauchverbot, aber an der Schreibtischecke des Drachens stand ein überquellender Aschenbecher, und im Mundwinkel ihrer rot angemalten Lippen hing eine glimmende Zigarette. Sie hatte eine toupierte Hochfrisur, die sie aussehen ließ, als sei sie direkt einem alten Film entsprungen. Sie hatte einen Computer, aber er war nicht an, und wie Claire an den zentimeterlangen, hellrot lackierten Nägeln erkennen konnte, tippte der Drache auch nicht.

Sie ignorierte Claire und las weiter in der Zeitschrift, die offen vor ihr lag.

»Ähm - entschuldigen Sie bitte?«, sagte Claire. Sie fühlte, wie der Schweiß an ihr klebte vom Rennen in der Hitze, und es war ihr noch immer irgendwie übel von dem, was ihr in der Bibliothek zugestoßen war. Der Drache blätterte eine Zeitschriftenseite um. »Ich bräuchte nur...«

»Ich habe Pause.« Die Hand mit den rot lackierten Klauen nahm die Zigarette aus dem rot angemalten Mund, wanderte zum Aschenbecher und streifte Asche ab. »Eigentlich wäre ich heute gar nicht hier. Scheißabsolventen. Komm in einer halben Stunde wieder.«

»Aber...«

»Kein aber. Ich habe Pause. Husch, husch!«

»Aber Professor Wilson schickt mich, um etwas aus seinem Haus zu holen, er hat mir die Adresse nicht gegeben und ich komme zu spät zum Unterricht. Bitte...“

»Herrgott noch mal! Ich drehe ihm den Hals um, wenn er zurückkommt Hier.«

Sie nahm eine Karte aus einem Halter und warf sie Claire mit zornigem Blick hin. »Wenn du eine Irre bist, ist das nicht mein Problem. Richte Seiner Hoheit aus, wenn er mit irgendwelchen Studentinnen herumtollen will, kann er verdammt noch mal daran denken, ihnen in Zukunft seine verdammte Adresse selbst zu geben. Verstanden?«

»Verstanden«, sagte Claire mit ganz leiser Stimme. Herumtollen. Darüber wollte sie gar nicht nachdenken. Überhaupt nicht. »Danke.«

Der Drache stieß aus beiden Nasenlöchern eine Rauchwolke aus und hob die Augenbrauen, die eher angedeutet als in Form gezupft waren. »Du gehörst wohl zur höflichen Sorte. Jetzt aber raus hier, bevor ich mich daran erinnere, dass ich eigentlich Pause habe.«

Claire flüchtete, wobei sie die Karte mit schweißnassen Fingern umklammerte.