10

 

Sie war zu aufgeregt, um zu schlafen; außerdem tat ihr der Rücken weh und sie konnte den Gedanken nicht ertragen, auch nur eine Nacht warten zu müssen, bis sie anfangen konnte. Brandon war ihr nicht wie der Typ vorgekommen, der mit seiner Rache warten würde, und Shane - Shane war nicht der Typ, der seinen Teil der Abmachung nicht einhalten würde.

Wenn er schon so blöd ist und sich aussaugen lassen will, schön, dann soll er aber nicht mich als Entschuldigung benutzen.

Shane war den ganzen Abend nicht aus seinem Zimmer gekommen. Sie hatte keinen Laut gehört, als sie vorsichtig an seiner Tür gelauscht hatte. Eve hatte so getan, als hätte sie Kopfhörer auf und würde eine unsichtbare Anlage aufdrehen. Claire hatte dafür Verständnis; sie hatte viele Stunden mit dem Versuch zugebracht, sich das Trommelfell herauszupusten, um der Welt zu entfliehen.

Eve lieh ihr einen Laptop, ein klobiges Retro-Teil, das groß und schwarz war und vorne einen Aufkleber mit der Warnung umweltgefährdend trug. Als Claire es in den Breitbandanschluss einsteckte und hochfuhr, zeigte der Desktop-Hintergrund einen Sensenmann, der anstelle einer Sense ein Straßenschild hielt, auf dem Morganville stand; der Pfeil zeigte nach unten.

Claire klickte auf einige Ordner - sie hatte ein schlechtes Gewissen, aber sie war neugierig - und entdeckte, dass sie Gedichte enthielten.

Eve faszinierte der Tod, zumindest schrieb sie gern darüber. Blumiges, romantisches Zeug voller Existenzangst, Blut und mondbeschienenem Marmor... und dann entdeckte Claire das Datum. Die neuesten Gedichte wurden vor drei Jahren verfasst. Eve war damals wohl ungefähr fünfzehn. Sie hatte für Vampire geschwärmt, aber irgendetwas hatte sich wohl geändert. Keine Gedichte in den letzten drei Jahren...

Eve stand plötzlich in der offenen Tür. »Läuft die Arbeit gut?«, fragte sie. Claire zuckte schuldbewusst zusammen und zeigte ihr die erhobenen Daumen, als sie die Internetverbindung öffnete. »Okay, ich habe meine Cousine in Illinois angerufen. Wir dürfen ihr PayPal-Konto verwenden, ich muss ihr nur Kohle schicken, am besten gleich morgen. Hier ist die Abrechnung.« Sie reichte Claire ein Blatt Papier. »Das wird sie jetzt nicht umbringen, oder?«

»Nee. Ich kaufe nicht viel von ein und derselben Stelle. Viele Leute kaufen Leder und Werkzeuge und so. Und Papier - wie alt soll dieses Buch sein?«

»Alt.«

»War es aus Velin?«

»Ist das Papier?«

»Velinpapier ist das älteste Papier, das für Bücher verwendet wurde«, sagte Claire. »Es besteht aus Schafhäuten.“

»Oh, ich glaube, dann ja. Es ist wirklich total alt.« Velinpapier würde schwer zu besorgen sein. Man konnte es bekommen, aber man würde die Spur leicht zurückverfolgen können. Aber wozu war man schon ein hochbegabter Freak, wenn man für so etwas keine Lösung fand... Ach ja, sie würde auch noch jemanden brauchen, der für sie recherchierte. Es war zu gefährlich, wenn alle Spuren im Glass House zusammenliefen...

Claire machte sich an die Arbeit. Sie bemerkte nicht einmal, wie sich Eve zurückzog und die Tür hinter sich schloss.

***

Claire recherchierte drei Tage lang. Volle drei Tage. Eve brachte ihr Suppe, Brot und Sandwichs vorbei und Shane ließ sich ein oder zweimal blicken, um ihr zu sagen, dass sie komplett verrückt sei und sich verdammt noch mal aus seinen Angelegenheiten heraushalten sollte; Claire schenkte ihm keine Beachtung. So war sie immer, wenn sie sich voll in etwas hineinkniete. Sie hörte ihn und sagte auch etwas, aber sie nahm es überhaupt nicht auf. Wie ihre Eltern gab Shane irgendwann auf.

Kurz vor Sonnenaufgang kam Michael zu ihr. Sie war so überrascht, dass sie für eine Weile aus ihrer Trance erwachte. »Wie läuft's?«, fragte er.

»Die Mission Save Shane? Yeah, es geht voran«, antwortete sie. »Ich mache viele Umwege, um keine Spuren zu hinterlassen. Mach dir keine Sorgen. Selbst wenn die Vamps sauer werden - sie können nicht behaupten, dass wir etwas anderes getan haben, als ihnen das zu bringen, wovon wir glauben, dass sie es suchen.«

Michael sah erfreut, aber auch besorgt aus. Er machte sich eine Menge Sorgen. Sie nahm an, dass das alles war, was er tun konnte, gefangen wie er war - alles zu bekämpfen, was herein gelangte, um ihnen zu schaden, und sich über alles andere Sorgen zu machen. Frustrierend, vermutete sie.

»Hey«, sagte sie. »Wann geht Eve heute arbeiten?“

»Um vier.«

»Aber das ist...«

»Die Spätschicht, ich weiß. Sie ist dort aber sicher und ich glaube nicht, dass irgendein Vampir bescheuert genug ist, diesem Auto in die Quere zu kommen. Das wäre, als würde man von einem Panzer überrollt. Sie musste mir versprechen, dass sie sich von Oliver zum Auto begleiten lässt, und Shane holt sie vom Gehsteig hier rein.«

Claire nickte. »Ich gehe mit ihr.«

»Ins Café? Warum?«

»Weil es dort anonym ist«, antwortete sie. »Jeder College-Student hat seinen Laptop dabei und es gibt dort ein offenes WLAN. Wenn ich vorsichtig bin, werden sie nicht zurückverfolgen können, wer nachschaut, wie man ein altes Buch fälscht.«

Er schaute sie gereizt an. An ihm sah selbst das süß aus. Mein Gott, sie nahm es noch immer wahr. Sie musste aufhören damit, aber hey - süße sechzehn und völlig ungeküsst...

»Ich möchte ja schon nicht, dass Eve nachts da draußen ist. Aber du gehst auf gar keinen Fall.«

»Wenn ich es hier mache, kann uns das alle in Gefahr bringen. Einschließlich Eve.«

Oh, ein Schlag unter die Gürtellinie; sie bemerkte die Veränderung in seinem Blick, aber er gab nicht nach. »Deine Antwort bedeutet also, dass ich zulassen soll, dass du da rausgehst, dein Leben riskierst, mit Brandon im Café sitzt und so tust, als sei das sicherer? Claire. Das ist auf keinen Fall sicherer.«

»Sicherer jedenfalls, als wenn die Vampire beschließen, dass jeder in diesem Haus sie in Bezug auf das, was sie am dringendsten wollen, absichtlich betrügen will«, wandte Claire ein. »Das hier ist kein Spiel, oder? Ich meine, ich kann aufhören, wenn du möchtest, aber wir haben sonst nichts, was wir für Shanes Deal einsetzen können. Nichts, das groß genug wäre. Ich würde ja Brandon bei mir - du weißt schon, aber irgendwie glaube ich nicht...“

»Nur über...« Michael unterbrach sich und lachte. »Ich wollte schon sagen, ›nur über meine Leiche‹, aber...«

Claire zuckte zusammen.

»Nein«, sagte er.

»Du bist nicht mein Dad«, betonte sie und plötzlich fiel ihr etwas ein.

Im Krankenhaus, als sie mit Medikamenten vollgepumpt war, hatte Shane gesagt, dass sie ihre Eltern angerufen hätten. Sie erinnerte sich auch deutlich daran, dass das Wort ausgeflippt fiel.

Oh, shit!

»Dad«, sagte sie laut. »Oh nein... ähm, ich müsste mal telefonieren. Darf ich?«

»Rufst du deine Eltern an? Klar. Ferngespräch...“

»Ja, ich weiß, ich bezahle dafür. Danke.«

Sie nahm das schnurlose Telefon und wählte die Nummer von zu Hause. Es klingelte fünfmal, dann ging der Anrufbeantworter an. »Hallo, hier sind Les und Katharine Danvers und ihre Tochter Claire. Bitte hinterlassen Sie uns eine Nachricht!« Es war die helle, sachliche Stimme ihrer Mutter. Nach dem Piepton überfiel Claire ein Moment blinder Panik. Vielleicht waren sie nur kurz einkaufen gegangen. Oder...

»Hi, Mom und Dad, hier ist Claire, ich wollte nur - ähm, Hallo sagen. Ich glaube, ich hätte euch anrufen sollen. Der Laborunfall war echt kein großes Ding. Macht euch keine Sorgen um mich, alles ist in Ordnung. Wirklich.«

Michael lehnte im Türrahmen und schnitt ihr Grimassen. Das war eigentlich irgendwie Shanes Job. Sie streckte ihm die Zunge heraus.

»Ich - das wollte ich nur sagen. Ich hab euch lieb. Ciao.«

Sie legte auf. Michael sagte: »Du sagst ihnen besser, dass sie herkommen und dich abholen sollen.«

»Und euch in diesem Chaos stecken lassen? Ihr steckt da meinetwegen drin. Shane steckt meinetwegen drin. Jetzt, wo Monica weiß, dass er wieder da ist...«

»Glaub mir, ich unterschätze den Ärger nicht, den wir haben, aber du kannst immer noch gehen. Und das solltest du auch. Ich versuche, Shane zu überreden, dass er auch geht. Eve - Eve wird nicht gehen, aber sie sollte es.«

»Aber...« Dann bist du allein, dachte sie. Wirklich allein. Michael konnte hier nicht heraus. Niemals.

Michael sah auf und schaute aus dem Fenster, wo der Himmel nach und nach von Mitternachtsblau zu einer bleichen Dämmerung überging. »Meine Zeit ist um«, sagte er. »Versprich mir, dass du heute Abend nicht mit Eve gehst.“

»Das kann ich nicht.«

»Claire.«

»Ich kann nicht«, sagte sie. »Sorry.«

Er hatte keine Zeit mehr zu streiten, auch wenn sie ihm ansah, dass er gern wollte. Er ging den Gang hinunter; sie hörte, wie seine Zimmertür zufiel, und dachte daran, was sie unten im Wohnzimmer gesehen hatte. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen würde, wenn sie jeden Tag damit konfrontiert wäre - es sah wirklich schmerzhaft aus. Das Schlimmste war jedoch wohl zu wissen, dass er Shane davon hätte abhalten können zu tun, was er getan hat, wenn er nur am Leben wäre und tagsüber rausgehen könnte, dachte sie.

Ich müsste es nicht, wenn du aufgekreuzt wärst, um mir den Rücken freizuhalten!, hatte Shane ihn angeschrien und ja, das musste mehr wehgetan haben, als zu sterben.

Claire ging wieder an die Arbeit. Ihre Augen brannten, ihre Muskeln schmerzten, aber insgeheim war sie seltsam glücklich darüber, etwas zu tun, das nicht nur sie selbst, sondern auch andere Menschen schützen würde.

Wenn es funktionierte.

Komischerweise war sie sich sicher, es würde funktionieren.

Sie wusste es einfach.

Sie war wirklich ein Freak, entschied sie.

***

Claire wachte um halb vier völlig übernächtigt und mit Schmerzen auf, kämpfte mit ihrem frischen T-Shirt und einer Jeans, die dringend mal gewaschen werden müsste. Noch einen Tag, dann würde sie die Waschmaschine im Keller in Angriff nehmen. Obwohl sie kaum drei Stunden geschlafen hatte, standen ihre Haare in alle Richtungen; sie musste ihren Kopf unter den Wasserhahn halten und ihre Haare mit den Fingern so zurechtzupfen, dass es nicht allzu sehr zum Kotzen aussah.

Sie stopfte den Laptop in eine Umhängetasche und rannte nach unten; sie konnte hören, wie Eve durch das Haus in Richtung Tür trampelte.

»Warte!«, schrie sie und stürzte die Treppen hinunter und durch das Wohnzimmer, als gerade die Haustür zufiel. »Mist!« Sie öffnete sie, bevor es Eve gelang, sie abzuschließen. Eve sah schuldbewusst aus. »Du wolltest ohne mich gehen«, sagte Claire. »Ich hatte doch gesagt, dass ich mitkomme!“

»Ja, na ja.,, solltest du aber nicht.«

»Michael hat wohl gestern Abend mit dir gesprochen.«

Eve seufzte und fummelte an einem ihrer schwarzen Lacklederschuhe herum. »Ein Weilchen, ja. Bevor er ins Bett ging.“

»Ich will nicht, dass alle mich beschützen. Ich versuche zu helfen!«

»Schon verstanden«, sagte Eve. »Wenn ich jetzt Nein sage und wegfahre, was machst du dann?«

»Zu Fuß gehen.«

»Das habe ich befürchtet« Eve zuckte die Achseln. »Steig schon ein.«

Das Common Grounds war mit Studenten überfüllt, die lasen, quatschten und Chai, Mokka oder Latte macchiato tranken. Und, wie Claire dankbar zur Kenntnis nahm, an ihren Laptops arbeiteten. Mindestens ein Dutzend war gerade in Betrieb. Sie zeigte Eve die erhobenen Daumen, bestellte eine Tasse Tee und suchte nach einem geeigneten Plätzchen, um zu arbeiten. Eines, an dem sie mit dem Rücken zur Wand sitzen konnte.

Oliver brachte ihr den Tee selbst. Sie lächelte ihn schüchtern an und minimierte ihr Browserfenster; sie las gerade etwas über berühmte Fälschungen und ihre Techniken. Total verräterisch - mit Betonung auf »tot«. Nicht dass sie Oliver nicht mochte, aber ein Typ, der Vampiren anscheinend Regeln aufzwingen konnte, war jemand, dem sie nicht wirklich trauen konnte.

»Hallo, Claire«, sagte er. »Darf ich mich setzen?“

»Klar«, sagte sie überrascht, aber es war ihr auch unbehaglich zumute. Er war alt genug, um ihr Vater sein zu können, ganz zu schweigen von seiner Hippie-dippie-Art. Obwohl ihr das nicht so viel ausmachte, da sie ja selbst ein Außenseiter war. »Ähm, wie geht's?«

»Viel los heute«, sagte er und ließ sich mit einem Seufzer, der erleichtert klang, auf den Stuhl fallen. »Ich wollte mit dir über Eve sprechen.«

»Okay«, sagte sie langsam.

»Ich mache mir Sorgen um sie«, sagte Oliver. Er lehnte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch; sie klappte hastig den Laptop zu und ließ ihre Hände schützend darauf ruhen. »Eve scheint nicht bei der Sache zu sein. Das ist sehr gefährlich und ich bin mir ziemlich sicher, dass du inzwischen weißt, warum.“

»Es ist...«

»Shane?«, fragte er. »Ja, ich dachte mir schon, dass das der Fall ist. Der Kerl hat sich eine Menge Schwierigkeiten eingehandelt. Aber er hat es mit den besten Absichten getan, nehme ich an.«

Ihr Puls fing an zu rasen und ihr Mund fühlte sich trocken an, Junge, sie hasste es wirklich, mit Autoritätspersonen zu sprechen. Michael war eine Sache - er war wie ein großer Bruder für sie. Aber Oliver war... anders.

»Vielleicht kann ich helfen«, sagte Oliver, »wenn ich etwas hätte, das man einsetzen könnte. Das Problem ist, was will Brandon, das du oder Shane ihm geben könnten? Außer dem Offensichtlichen natürlich.« Oliver sah nachdenklich aus und tippte sich mit den Fingerspitzen auf die Lippen.

»Du bist ein sehr kluges Mädchen, Claire, das behauptet zumindest Eve. Morganville kann kluge Mädels brauchen. Vielleicht können wir Brandon komplett umgehen, vielleicht findest du eine Möglichkeit, einen Deal mit jemand... anderem zu machen.«

Das war im Großen und Ganzen genau das, worüber sie bereits gesprochen hatten, nur ohne den Teil mit Oliver. Claire versuchte, nicht wahnsinnig schuldbewusst und durchschaubar auszusehen. »Mit wem?«, fragte sie. Das war eine vernünftige Frage. Oliver lächelte und schaute sie aus seinen dunklen Augen scharf und kühl an.

»Claire, erwartest du wirklich, dass ich dir das sage? Je mehr du über diese Stadt weißt, desto weniger Sicherheit gibt es hier für dich. Verstehst du das? Ich musste mir hier meinen eigenen Frieden aufbauen und das funktioniert nur, weil ich genau weiß, was ich tue und wie weit ich gehen kann. Du dagegen - ich fürchte, dein erster Fehler wäre auch dein letzter.«

Ihr Mund war jetzt nicht mehr nur trocken; er war mumifiziert. Sie versuchte zu schlucken, brachte aber nicht mehr als ein trockenes Klicken hinten im Hals Zustande. Sie nahm hastig ihren Tee und nippte daran; sie schmeckte nichts, war jedoch dankbar für die Flüssigkeit.

»Ich wollte nicht...«

»Nicht«, unterbrach er sie und seine Stimme war dieses Mal nicht mehr so freundlich. »Warum solltest du sonst heute hier sein, wo du genau weißt, dass Brandon wahrscheinlich nach Einbruch der Dunkelheit hier aufkreuzt? Du möchtest einen Deal mit ihm machen, um Shane zu retten. So viel ist offensichtlich.«

Nun, das war zwar nicht das, weshalb sie hier war, aber sie versuchte trotzdem, auch deswegen schuldbewusst auszusehen. Nur für den Fall. Es musste wohl funktioniert haben, denn Oliver lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah entspannter aus.

»Du bist ein kluges Köpfchen. Shane ebenfalls. Lasst euch das aber nicht zu Kopf steigen. Lasst mich euch helfen.«

Sie nickte nur, weil sie ihrer Stimme nicht traute; nicht dass sie zitterte oder brach oder - noch schlimmer - verriet, wie erleichtert sie war.

»Gut, dann ist das erledigt«, sagte Oliver. »Lass mich mit Brandon und einigen anderen sprechen, um zu sehen, was ich tun kann, um das Problem aus der Welt zu schaffen.«

»Danke«, sagte sie schwach. Oliver stand auf und ging weg, wobei er aussah wie ein magerer Exhippie, der die guten alten Zeiten nicht loslassen kann. Harmlos. Erfolglos vielleicht.

Sie konnte sich nicht auf Erwachsene verlassen. Nicht in dieser Sache zumindest. Nicht in Morganville.

Sie öffnete den Laptop, maximierte das Browserfenster und ging wieder an die Arbeit.

***

Wie immer verging die Zeit wie im Flug; als sie das nächste Mal aufsah, war es draußen dunkel und die Menge im Café war vom Lernen zum Quatschen übergegangen. Eve stand hinter der Bar, redete und lächelte und war im Allgemeinen so fröhlich, wie man das als Gothic eben sein konnte.

Sie wurde jedoch still, als Brandon aus dem Hinterzimmer herein geschlendert kam und seinen gewohnten Platz am Tisch in der dunkelsten Ecke einnahm. Oliver brachte ihm eine Art Drink - Gott, sie hoffte, dass es kein Blut oder so war - und führte ein intensives, ruhiges Gespräch mit ihm. Claire versuchte so zu tun, als sei sie gar nicht da. Eve und sie tauschten zwischen den Gästen an der Bar einige Blicke aus.

Claire hatte bei ihrem langen Recherchemarathon herausgefunden, dass es etwas für Experten war, ein Buch herzustellen, nicht für sechzehnjährige (beinahe siebzehnjährige) Möchtegern-Buchfälscher. Sie würde zwar etwas zustande bringen, aber zu ihrer großen Enttäuschung würde jeder, der ein Auge für seltene Bücher hat, eine Fälschung sehr schnell erkennen, es sei denn, ein Experte hätte sie gemacht. Sie vermutete, dass sie an ihren Fähigkeiten in der Lederverarbeitung und Buchbinderei arbeiten müsste.

All das brachte sie zurück auf das Startkästchen Shane wird gebissen. Was nicht akzeptabel war.

Ihr Blick fiel auf eine Zeile in einem der zig Fenster, die sie geöffnet hatte. Fast alles kann für den Film hergestellt werden, einschließlich Reproduktionen alter Bücher, da eine Reproduktion nur einen der Sinne täuschen muss: Den Gesichtssinn...

Sie hatte nicht die Zeit und das Geld, eine Hollywood-Requisitenfirma mit der Herstellung eines Buches zu beauftragen, aber ihr kam dadurch eine neue Idee.

Eine echt gute Idee.

Oder eine echt schlechte, wenn sie nicht funktionierte.

Fast alles kann für den Film hergestellt werden.

Sie brauchte nicht das Buch. Sie brauchte nur ein Bild davon.

***

Als Mitternacht näher rückte und im Common Grounds die letzten Koffeinsüchtigen in die Nacht hinauskomplimentiert wurden, war sich Claire einigermaßen sicher, dass sie das irgendwie bewerkstelligen könnte, und müde genug, dass es ihr egal war, wenn sie es nicht konnte. Sie packte den Laptop ein und stützte den Kopf auf die Hand, während sie Eve dabei zusah, wie sie Tassen und Gläser abwusch, die Spülmaschine in Gang setzte, mit Oliver plauderte und den dunklen Schatten, der in der Ecke saß, geflissentlich ignorierte.

Brandon war nicht zusammen mit seinen wandelnden Snacks aufgebrochen. Stattdessen war er sitzen geblieben, schlürfte eine neue Tasse von Was-immer-das-war. und lächelte Eve, dann Claire, dann wieder Eve mit seinem grausamen, verschrobenen kleinen Lächeln an.

Oliver, der Keramiktassen abtrocknete, beobachtete ihn. »Brandon«, sagte er und warf sich das Geschirrtuch über die Schulter, als er damit begann, Tassen in die ausziehbaren Gestelle Zu räumen. »Wir schließen jetzt.«

»Du hast die letzte Runde nicht angekündigt, alter Mann«, sagte Brandon und wandte sich mit seinem Lächeln an Oliver. Wo es rasch erstarb. Nach einem Moment des Schweigens stand er auf, um hinaus zustolzieren.

»Warte«, sagte Oliver ruhig. »Deine Tasse.«

Brandon schaute ihn völlig entgeistert an, dann nahm er seine Einwegtasse und warf sie in den Mülleimer. Claire nahm an, dass er nach zig Jahren zum ersten Mal seinen Tisch abräumte. Wenn er das überhaupt je getan hatte. Sie verbarg ein nervöses Grinsen, da er nicht wie der Typ, viel weniger wie der Vampir, aussah, der ihre Art von Humor teilte.

»Noch was?«, fragte Brandon säuerlich. Nicht dass er sich darum scheren würde.

»Ja, allerdings. Wenn es dir nichts ausmacht, hätte ich gern, dass du den Ladys den Vortritt lässt.«

Obwohl Brandon im Schatten stand, sah Claire zwei scharfe Zähne funkeln, als er schweigend den Mund öffnete und seine Vampirzähne entblößte. Um anzugeben. Oliver zeigt sich nicht beeindruckt.

»Wenn es dir nichts ausmacht«, wiederholte er. Brandon zuckte die Achseln und lehnte sich mit übereinandergeschlagenen Armen an die Wand. Er trug eine schwarze Lederjacke, die das Licht schluckte, ein schwarzes Shirt, dunkle Jeans. Dressed to kill, dachte Claire und wünschte, sie hätte es nicht gedacht. »Ich werde warten«, sagte er. »Aber Sie brauchen sich wegen mir keine Sorgen zu machen, alter Mann. Ich habe einen Deal mit dem jungen und halte mich daran.«

»Genau darum mache ich mir Gedanken«, sagte Oliver. »Eve, Claire: Kommt gut nach Hause. Geht jetzt«

Eve knallte die Tür der Spülmaschine zu und schaltete sie ein; sie grapschte ihre Handtasche hinter der Theke und duckte sich unter ihr durch, um Claire bei der Hand zu nehmen und zur Tür zu ziehen. Sie drehte das Türschild von geöffnet auf geschlossen und schloss die Tür auf, um Claire hinauszulassen. Sie verriegelte sie hinter sich mit einem Satz Schlüssel, dann drängte sie Claire rasch zum Auto, das im warmen Glanz der Straßenlaterne parkte.

Die Straße sah verlassen aus; der Wind verwandelte Müll und Staub in klappernde Gespenster und das rote Licht der Ampel tanzte und schwankte auf und ab. Eve schloss das Auto in Rekordzeit auf und beide schlugen die Knöpfe nach unten, sobald sie eingestiegen waren. Eve startete den Caddy und manövrierte ihn von der Bordsteinkante weg; erst dann stieß sie einen kleinen Seufzer der Erleichterung aus.

Aber dann schnappte sie nach Luft, weil ein anderes Auto um die Ecke bog, wie ein schwarzer Blitz an ihnen vorbeizischte und am Bordstein zum Stehen kam, wo sie eben noch geparkt hatten. »Was zum Teufel?«, stieß Eve aus und verlangsamte die Fahrt. Claire schaute nach hinten.

»Es ist eine Limousine«, sagte sie. Sie hätte nicht gedacht, dass es in Morganville überhaupt eine Limousine gab, aber dann dachte sie an Bestattungsinstitute und Beerdigungen und es überlief sie kalt. Womöglich gab es in Morganville mehr Limousinen als in allen anderen texanischen Städten...

Diese war jedoch nicht Teil eines Leichenzugs. Sie war groß, schwarz und schimmerte wie der Panzer einer Kakerlake, und als der Caddy langsam weiterfuhr, sah Claire einen uniformierten Fahrer aussteigen und um den Wagen herumgehen.

»Wer ist es?«, fragte Claire. »Kannst du was erkennen?«

Der Chauffeur reichte einer Frau die Hand. Sie war klein, nicht viel größer als Claire selbst, schätzte sie. Ihr bleiches Gesicht war von Haaren umrahmt, die im Licht der Straßenlaterne weiß oder blond schimmerten. Sie waren zu weit weg, als dass Claire sie gut sehen konnte, aber sie hatte den Eindruck, dass die Frau traurig aussah. Traurig und kalt.

»Sie ist nicht sehr groß, weißes Haar? Ziemlich elegant?«

Eve zuckte die Achseln. »Niemand, den ich kenne, aber die meisten Vampire geben sich nicht mit den kleinen Leuten ab. Die Hiltons shoppen ja auch nicht bei Wal-Mart.«

Claire prustete. Als Eve um die Ecke bog, sah Claire, wie die Frau vor der Tür des Common Grounds stand und Oliver sie für sie öffnete. Keine Spur von Brandon. Sie fragte sich, ob Oliver ihn schon weggeschickt hatte oder ob er dafür sorgte, dass sie einen Vorsprung vor dem Vamp hatten. »Wie macht Oliver das?«, fragte sie. »Ich meine, warum...?“

»Warum sie ihn nicht einfach töten? Ich wünschte, ich wüsste es. Erstens hat er Nerven wie Drahtseile«, sagte Eve. Das Licht der vorbeiziehenden Straßenlampen huschte über ihr Gesicht. »Du hast ja gesehen, wie er mit Brandon umgesprungen ist. Wie er ihn gedisst hat. Jeder andere wäre bei Sonnenaufgang tot. Oliver kommt damit durch.«

Das machte Claire nur noch neugieriger auf die Antwort auf das Warum. Oder zumindest auf das Wie. Wenn Oliver damit durchkam, konnten das vielleicht auch andere. Andererseits hatten andere das vielleicht schon versucht und waren als Organspender geendet.

Claire wandte sich wieder nach vorne und war tief in Gedanken versunken, während Eve durch die stillen, lauernden Straßen nach Hause raste. Ein Polizeiauto schlich durch eine Seitenstraße, aber in Morganville schien für Claire die Polizei weniger auf der Jagd nach Kriminellen zu sein, sondern eher nach potenziellen Opfern.

Zuerst dachte sie, sie sei so müde, dass sie sich Dinge einbildete - das passierte manchmal, wenn sie nicht schlief, sie sah Gespenster im Spiegel oder unheimliche Gesichter am Fenster -, aber dann sah sie, dass sich auf der schimmernden Straße etwas schnell bewegte. Etwas Bleiches.

»Sie verfolgen uns«, sagte Eve grimmig. »Verdammt.“

»Brandon?« Claire versuchte, die Straßenränder mit den Augen abzusuchen, aber Eve drückte aufs Gas und fuhr schneller.

»Nicht Brandon. Aber er muss sich ja auch nicht selbst die Zähne schmutzig machen.«

Einige Meter weiter lief ihnen jemand vor das Auto.

Claire und Eve schrien und Eve stieg auf die Bremse. Claire schnellte nach vorne gegen den Sicherheitsgurt, der einrastete und so hart griff, dass sie einfach wusste, dass sie vor Schmerzen ohnmächtig werden würde, als die Verätzung auf ihrem Rücken gegen den Sitz rieb. Aber der Schmerz flaute ab, so schnell er gekommen war, und wich Angst, denn das Auto war schlingernd auf der dunklen Straße zum Stehen gekommen, und direkt vor ihnen stand ein Vampir, die Hände auf der Motorhaube.

»Claire!«, brüllte Eve. »Schau ihn nicht an! Schau nicht hin!«

Zu spät. Claire hatte ihn schon angeschaut und fühlte, wie etwas in ihrem Kopf weich wurde. Die Angst verflog. Ihre Vernunft ebenso. Sie griff nach dem Türschloss, aber Eve griff herüber und fiel ihr in den Arm. »Nein!«, schrie sie und hielt sie fest, während sie den Rückwärtsgang einlegte und mit quietschenden Reifen zurückfuhr. Sie kam nicht weit. Ein weiterer Vampir trat hervor und blockierte die Straße. Er war groß, hässlich und alt. Ebenso viele funkelnde Zähne. »Oh, mein Gott...«

Claire fummelte noch immer nach dem Türschloss. Eve brummte etwas, das Claire zu Hause bestimmt am Boden zerstört hätte, trat auf die Bremse und sagte: »Claire, Schätzchen, das wird jetzt wehtun...«, und dann schob sie Claire nach vorne und klatschte ihr hart auf die Verätzung.

Claire kreischte laut genug, um Hunde im Umkreis von mehreren Kilometern taub zu machen, wäre beinahe ohnmächtig geworden und gab es auf, aus dem Auto springen zu wollen. Sogar die beiden Vampire außerhalb des Autos, die plötzlich direkt an den Türen gestanden hatten, zuckten zusammen und wichen zurück.

Eve gab Gas. Claire, die durch den rot glühenden, pochenden Schmerz in ihrem Rücken halb bewusstlos war, hörte ein Geräusch, als würden Eisennägel über eine Wandtafel gezogen, aber dann hörte es plötzlich auf und sie flogen förmlich durch die Nacht.

»Claire? Claire?« Eve schüttelte sie an der anderen Schulter, an der, die sich nicht so anfühlte, als hätte sie eben noch mal ein Säurebad genommen. »Oh, mein Gott, es tut mir leid! Es war nur - er wollte dich dazu bringen, die Tür zu öffnen, und ich konnte nicht - es tut mir leid!«

Noch immer empfand sie die Panik wie einen heißen Draht durch ihre Nerven, aber Claire brachte ein Nicken und ein schwaches, armseliges Lächeln zustande. Sie verstand. Sie hatte sich immer gefragt, wie in den Filmen jemand so blöd sein konnte, die Tür für dieses grauenhafte, böse Ding zu öffnen, aber jetzt wusste sie es. Sie verstand es absolut.

Manchmal hatte man einfach keine Wahl.

Eve schnappte nach Luft und weinte zwischendurch wütend vor sich hin. »Ich hasse das!«, rief sie und schlug immer wieder mit der Hand auf das Kunststofflenkrad. »Ich hasse diese Stadt! Ich hasse sie alle!«

Claire konnte das verstehen. Sie hasste sie allmählich auch aus ganzem Herzen.