11

 

Shane stand einsatzbereit in der Tür, als Eve das Auto mit quietschenden Bremsen zum Stehen brachte; falls er noch immer böse war, ließ er sich jedenfalls trotzdem keinen guten Kampf entgehen. Eve signalisierte im hektisch, er solle bleiben, wo er war, auf sicherem Boden nämlich, und suchte mit den Augen die Straße nach allen Seiten ab.

»Siehst du etwas?«, fragte sie Claire ängstlich. Claire schüttelte den Kopf, sie fühlte sich noch immer schlecht. »Verdammt. Verdammt! Okay... du weißt, was angesagt ist, oder? Lauf, als ob der Teufel hinter dir her wäre. Verschwinde schon!«

Claire fummelte das Türschloss auf, sprang aus dem Auto und rannte über den Gehweg. Sie hörte, wie Eve die Autotür zuschlug und hinter ihr herrannte. Ein Déjà-vu, dachte sie. Alles, was sie jetzt noch brauchten, war, dass Brandon auftauchte und sich wie ein absoluter Mistkerl verhielt...

Sie stieß fast mit Shane zusammen, als sie über die Schwelle jagte; er ging ihr rechtzeitig aus dem Weg, gerade weit genug, dass sie vorbeikam, und griff nach Eve, um sie hereinzuziehen, bevor er die Tür zuschlug und abschloss.

»Du musst einfach einen besseren Job finden«, sagte er. Eve wischte sich mit dem Handrücken über ihr ruiniertes Make-up und warf ihm einen bitterbösen Blick zu.

»Wenigstens habe ich einen Job!«

»Was, professionelle Blutspenderin? Denn mehr wirst du nicht sein, wenn du...«

Claire drehte sich um, stieß mit einem Vampir zusammen und kreischte sich die Lungen aus dem Leib.

Okay, es war kein Vampir, so viel wurde nach dreißig Sekunden klar, als sich Shane wegwarf vor Lachen, der vermeintliche Vampir vor Schreck ebenfalls kreischte und in Deckung ging und Eve schließlich vollkommen überrascht sagte: »Miranda! Schätzchen, was zum Teufel machst du denn hier?«

Sie sah wohl nur aus wie ein Vamp, wie Claire zugeben musste; nun, da ihre Herzfrequenz endlich wieder unter Rennwagengeschwindigkeit lag, sah sie, dass alles nur Make-up und Getue war und keineswegs ein Naturzustand. Die vermeintliche Vampirin senkte langsam ihre Arme, glotzte Claire unsicher durch dick mit Mascara getuschte Wimpern an und formte mit ihren rubinroten Lippen ein kleines Oh. »Ich musste einfach kommen«, hauchte sie. Sie hatte eine gedämpfte, hauchzarte Stimme voller Dramatik. »Oh, Eve! Ich hatte so eine schreckliche Vision! Mit Blut und Tod, und alles drehte sich um dich!«

Eve schien nicht beeindruckt. Sie seufzte, wandte sich an Shane und sagte: »Hast du sie hereingelassen? Ich dachte, du hasst sie!«

»Ich konnte sie ja schlecht da draußen stehen lassen. Immerhin ist sie aus Fleisch und Blut. Außerdem ist sie deine Freundin.«

Der Blick, den ihm Eve zuwarf, deutete an, dass Freundin vielleicht etwas zu hoch gegriffen war.

Miranda warf Shane ein irres Lächeln zu. Na klasse, dachte Claire gereizt und angewidert und versuchte noch immer, die Folgen einer nuklearen Bombenexplosion in den Griff zu kriegen. Das Mädel war groß und hatte dünne, storchartige Beine bis zum Hals, die von einem schwarzen Lederminirock nur spärlich bedeckt waren. Sie hatte ein Menge Make-up im Gesicht, das übliche schwarz gefärbte Haar, das fransig das längliche weiße Gesicht umrahmte. Auf ihren Handgelenken und um ihren Hals befanden sich mit Magic Marker stümperhaft aufgemalte Kreuze.

Miranda drehte sich plötzlich ruckartig um und starrte an die Decke. Sie schlug vor Grauen die Hände vor den Mund, verschmierte dabei aber nicht ihren Lippenstift, wie Claire bemerkte. »Dieses Haus«, sagte sie. »Himmel, es ist so... unheimlich. Fühlt ihr das nicht?«

»Mir, wenn du mich vor etwas warnen wolltest, hättest du mich auch einfach anrufen können«, sagte Eve und dirigierte sie ins Wohnzimmer. »Jetzt müssen wir uns etwas überlegen, wie wir dich nach Hause bringen. Mal ehrlich, wo hast du deinen Verstand gelassen? Du solltest es eigentlich besser wissen!«

Als sich Miranda auf die Couch setzte, fiel Claire noch etwas anderes an ihrem Hals auf… blaue Flecken. Und in der Mitte dieser blauen Flecken zwei tiefe rote Löcher. Eve sah es auch und blinzelte, schaute Shane an, danach Claire. »Mir?«, fragte sie sanft und drehte ihr Kinn zur Seite. »Was ist passiert?“

»Nichts«, sagte Miranda. »Alles. Du musst es mal probieren. Es ist genau so, wie ich es mir erträumt hatte, und einen Augenblick lang konnte ich sehen, ich konnte wirklich sehen...«

Eve ließ sie los, als hätte sie sich verbrannt. »Du hast dich von jemandem beißen lassen?«

»Nur von Charles«, sagte Miranda. »Er liebt mich. Eve, du musst mir zuhören - es ist sehr ernst! Ich habe versucht anzurufen, aber niemand ging ran, und ich hatte diesen furchtbaren Traum...«

»Ich dachte, es war eine Vision«, sagte Shane. Er war Claire ins Zimmer gefolgt und stand nun mit verschränkten Armen neben ihr. Sie fühlte, wie sich der feste Knoten aus Ärger und Anspannung durch seine Nähe etwas löste, auch wenn er sie nicht anschaute. Yeah, Claire, es ist noch ein weiter Weg. Er behandelt dich wie ein Möbelstück. Vielleicht brauchst du ein wenig nuttigen Lippenstift und vielleicht solltest du deinen BH auch mit Taschentüchern polstern.

»Nicht, Shane, sie ist ohnehin schon durch die Hölle gegangen...« Eve erinnerte sich offensichtlich zu spät daran, dass das, was Miranda durchgemacht hat, auch Shane blühte, es sei denn, sie könnten seinen Deal mit Brandon irgendwie ungültig machen. »Hm, also: die Vision. Was hast du gesehen, Mir?“

»Den Tod«, sagte Miranda mit unterdrücktem Genuss, lehnte sich nach vorne und wiegte sich sanft vor und zurück. »Oh, er hat gekämpft, er wollte es nicht, wollte das Geschenk nicht, aber... und dann dieses Blut. Eine Menge Blut. Und er starb... genau... hier.« Sie streckte die Hand aus und zeigte auf eine Stelle am Boden, die mit einem Läufer bedeckt war.

Claires Horror ließ etwas nach, als sie bemerkte, dass sie vermutlich von Michael sprach.

»Ist es - ist es Shane? Siehst du Shanes Zukunft?«, fragte Eve. Sie klang verängstigt, aber sie erlebten heute ja auch wirklich eine Horrornacht. Und sich Sorgen um Shane zu machen, ergab einen Sinn.

»Sie kann nicht in die Zukunft schauen«, sagte Shane nüchtern. »Sie denkt sich den Mist aus. Nicht wahr, Mir?«

Miranda antwortete nicht. Sie reckte den Hals und schaute wieder an die Decke. Claire wurde mit einem seltsam unheimlichen Gefühl bewusst, dass sie genau dorthin schaute, wo sich das geheime Zimmer befinden musste. Wusste Miranda davon? Und woher?

»Dieses Haus«, sagte sie. »Dieses Haus ist so unheimlich. Es ergibt alles keinen Sinn, wisst ihr?«

Die Treppe knarrte, und als Claire aufblickte, sah sie Michael zu ihnen herunterkommen, barfuß wie immer. »Yeah«, sagte er.

»Das ist nicht das Einzige, was keinen Sinn macht. Eve, was zum Teufel tut sie hier?«

»Frag nicht mich, Shane hat sie hereingelassen!«

»Hallo, Michael«, sagte Miranda abwesend. Sie starrte noch immer an die Decke. »Die da ist neu hier.« Sie deutete auf Claire. »Ja, das ist Claire.« Michael war ja nicht gerade überstürzt zu Claires Rettung geeilt, als sie geschrien hatte, und sie fragte sich, warum. Vielleicht hat er versucht, sich von Miranda fernzuhalten; sie konnte verstehen, warum. Wenn die nicht total schräg und durchgeknallt war, selbst Eve schien nicht zu wissen, was sie mit ihr anfangen sollte.

Ihr wurde klar, dass er Mirandas unheimliche Beschreibung seines Todes nicht mitbekommen hatte. Vielleicht war das besser so.

»Claire«, flüsterte Miranda und schaute sie plötzlich direkt an. Sie hatte blassblaue, wirklich seltsame Augen. Sie schienen direkt durch sie hindurchzuschauen. »Nein, es liegt nicht an ihr. Es ist etwas anderes. Dieses Haus hat etwas Seltsames an sich. Irgendwas stimmt nicht. Ich muss die Karten lesen.“

»Was zum Henker?«, fragte Shane. Miranda packte Eves Hand, sprang auf und schleifte sie praktisch zur Treppe. »Okay, jetzt reicht's. Eve?«

»Ähm... okay, alles in Ordnung!«, rief Eve den anderen zu, als Miranda ihr mehr oder weniger den Arm auskugelte. »Sie will nur Tarotkarten legen oder so. Ist schon okay! Ich bring sie dann wieder herunter. Nur eine Minute!«

Shane, Michael und Claire schauten sich einige Sekunden an, dann tippte sich Shane an den Kopf und pfiff leise.

Michael nickte. »Früher war sie nicht so durchgeknallt«, sagte er.

»Ich nehme an, das liegt an diesem Charles, von dem sie gesprochen hat«, sagte Shane grimmig. »Ich hätte es mir eigentlich denken können, wenn jemand mit einem Blutsauger auf wahre Liebe macht« - Shane zog es ins Lächerliche -»dann eine Durchgeknallte wie Miranda. Ich hätte sie zu Fuß nach Hause schicken sollen. Wahrscheinlich hätte ihr ein weiterer Biss vollends den Kick gegeben.«

»Sie ist noch ein Kind, Shane«, sagte Michael. »Aber je eher sie hier raus ist, desto besser fühle ich mich. Sie macht Eve ein bisschen - nervös.«

Eve? Aber Eve würde den ganzen Mist doch nicht glauben, oder? Claire war eigentlich davon überzeugt gewesen, dass alles nur Show war, dass Eve unter ihrer Schminke letztendlich ganz normal war und dieser ganze Gothic-Kram nur Getue. Glaubte sie tatsächlich an Visionen, Kristallkugeln und Tarotkarten? Magie ist nur missverstandene Wissenschaft, rief sie sich ins Gedächtnis. Oder einfach nur verrücktes Gerede.

Die beiden Jungs schauten Claire an.

»Was ist?«, fragte sie. »Ach übrigens, es geht mir gut, danke der Nachfrage. Wurde von ein paar Vampiren gejagt. Business as usual.“

»Ich hab doch gesagt, du sollst nicht gehen«, sagte Shane und zuckte die Achseln. »Also, wer bewegt Miranda jetzt zum Abhauen?«

Sie schauten weiterhin Claire an und sie begriff schließlich, dass das jetzt irgendwie ihr Job war. Wahrscheinlich, weil sie die Neue war und Miranda nicht kannte und weil sie ein Mädchen war. Michael war zu höflich, Miranda zum Gehen aufzufordern. Shane - sie konnte nicht einschätzen, was Shane empfand, außer dass er sie dringend loswerden wollte.

»Na schön«, sagte Claire. »Ich geh dann mal.«

»Aufgewecktes Mädel«, sagte Shane Zu Michael, ohne zu lächeln, als sie zur Treppe ging.

»Yep«, stimmte ihm Michael Zu. »Das mag ich an ihr.«

Die Zimmertüren waren alle zu, bis auf Eves, aus dem flackerndes Licht auf den gewienerten Holzboden fiel. Es roch nach abgebrannten Streichhölzern. Sie hatten Kerzen angezündet. Oh, es widerstrebte ihr jetzt wirklich, das zu tun. Vielleicht sollte sie einfach weitergehen in ihr Zimmer und die Tür hinter sich zumachen...?

Sie holte tief Luft und streckte mit einem Lächeln, das sich total erzwungen anfühlte, den Kopf durch die Tür. Eve zündete gerade Kerzen an. Junge, junge, das waren wirklich viele, sie standen praktisch überall. Große schwarze, rote und blaue. Keine Pastelltöne. Ihr Bett war ganz mit schwarzem Satin bezogen; am Kopfende wogte eine Piratenflagge mit Schädel und gekreuzten Knochen. Überall war Weihnachtsbeleuchtung - nein, eigentlich keine Weihnachtsbeleuchtung, eher Halloween-Kürbisse, Gespenster und Totenköpfe. Heiter und seltsam zugleich.

»Hey«, sagte Eve und schaute nicht von der schwarzen Säulenkerze auf, die sie gerade anzündete. »Komm rein, Claire. Ich glaube, du hast Miranda noch gar nicht richtig kennengelernt.« Nur wenn Kreischen und Flüchten zählte. »Hi«, sagte sie schüchtern. Sie wusste nicht, wohin mit ihren Händen. Miranda schien sie nicht zu bemerken oder es war ihr gleichgültig; sie bewegte die Hände in der Luft, als würde sie eine unsichtbare Katze oder so streicheln. Abgefahren. Je länger Claire sie ansah, desto jünger kam sie ihr vor -jünger als Eve zumindest. Vielleicht sogar jünger als Claire selbst. Vielleicht spielte sie das alles nur vor... außer dem Biss. Der war tödlicher Ernst.

»Ähm... Eve? Kann ich dich mal eine Sekunde sprechen?«, fragte Claire. Eve nickte, öffnete eine schwarz angestrichene Kommode und entnahm ihre eine schwarze Lackschachtel. Innen war sie blutrot und enthielt ein Päckchen aus schwarzer Seide. Eve wickelte es aus und brachte ein Kartenspiel zum Vorschein. Tarotkarten.

Eve hielt sie einige Sekunden lang zwischen ihren Handflächen, teilte den Kartenstapel dann einige Male und reichte ihn Miranda. »ich bin gleich wieder da«, sagte sie, ging mit Claire hinaus in den Flur und zog die Tür hinter sich zu. Bevor Claire etwas sagen konnte, hob Eve die Hand. Sie sah Claire nicht in die Augen. »Dich haben die Jungs geschickt, oder?« Als Claire nickte, murmelte sie: »Weicheier, alle beide. Na toll. Sie wollen, dass sie geht, stimmt's?«

»Ähm... ja, ich glaube schon.« Claire trat unbehaglich von einem Bein auf das andere. »Sie ist ein bisschen... seltsam.“

»Miranda ist -ja, sie ist seltsam. Aber sie hat eine Gabe«, sagte Eve. »Sie sieht Dinge, weiß Dinge. Shane sollte das am besten wissen. Sie hatte ihm den Brand vorausgesagt...« Eve schüttelte den Kopf. »Na ja, egal. Wenn sie extra den ganzen Weg im Dunkeln hierhergekommen ist, stimmt etwas nicht. Ich sollte versuchen herauszufinden, was.“

»Na ja... kannst du sie nicht einfach fragen?«

»Miranda ist ein Medium«, sagte sie. »So einfach läuft das nicht, sie kann nicht einfach damit herausplatzen. Man muss mit ihr arbeiten.«

»Aber - sie kann nicht wirklich in die Zukunft schauen, oder? Du glaubst doch nicht etwa daran?« Denn wenn du das tust, dachte Claire, dann bist du noch verrückter, als ich dachte, als ich dich zum ersten Mal sah.

Eve sah ihr schließlich in die Augen. Sie war verärgert. »Ja. Ja, ich glaube daran. Und dafür, dass du so klug bist, bist du ganz schön blöd, wenn du nicht siehst, dass die Wissenschaft nicht perfekt ist. Dinge passieren einfach. Dinge, die durch Physik und Mathe und das ganze Zeug, das im Labor gemessen wird, nicht erklärt werden können. Menschen bestehen nicht nur aus Gesetzen und Regeln, Claire. Sie sind... Funken. Funken von etwas Schönem und Großem. Und manche Funken leuchten heller, so wie Miranda.« Eve schaute wieder weg, offensichtlich fühlte sie sich unbehaglich. Aber nicht halb so unbehaglich wie Claire, denn das war wirklich... wow. Space Cadet City. »Ihr lasst uns jetzt einfach eine Weile in Ruhe. Alles ist in Ordnung.« Sie ging zurück in ihr Zimmer und machte die Tür zu. Sie schlug sie nicht direkt zu, aber... Claire schluckte schwer, ihr wurde heiß und sie wünschte, sie hätte sich nicht von den Jungs dazu breitschlagen lassen; langsam ging sie die Treppe wieder hinunter. Michael und Shane saßen auf der Couch und spielten ein Game, auf dem Tisch vor ihnen standen offene Bierflaschen. Sie stießen einander mit den Ellbogen an, während die Rennwagen auf dem Bildschirm ihre Runden drehten.

»Nicht gerade legal«, bemerkte sie und setzte sich auf die Treppenstufen. »Das Bier. Niemand hier ist einundzwanzig.«

Michael und Shane stießen mit ihren Bierflaschen an. Es war wirklich kindisch. »Auf den Gesetzesverstoß«, sagte Shane und kippte sein Bier. »Hey, das war ein Geburtstagsgeschenk. Zwei Sixpacks. Wir haben uns erst einen davon genehmigt, also verschone uns. Morganville hat die höchste Alkoholikerrate der Welt, darauf wette ich.«

Michael stellte das Spiel auf Pause. »Ist sie schon weg?“

»Nein.«

»Wenn sie mir erzählen will, dass ich einen großen dunklen Fremden treffen werde, gehe ich«, sagte Shane. »Ich meine, die Kleine ist durchgeknallt und ich möchte nicht fies sein, aber hey! Sie glaubt wirklich an das Zeug. Und Eve hat sie auch schon halb davon überzeugt.«

Von halb konnte keine Rede sein, aber das behielt Claire lieber für sich. Sie saß nur da und versuchte, nicht allzu gründlich über alles nachzudenken... über ihre Pläne, Shane aus diesem Abkommen herauszuholen, die ihr im Common Grounds noch so gut erschienen waren, aber jetzt nicht mehr ganz so. Über den Schmerz in ihrem Rücken, der sich wie ein stumpfes Messer anfühlte. Über die Verzweiflung in Eves Augen. Eve hatte Angst. Und Claire wusste nicht, wie sie Abhilfe schaffen konnte, da sie selbst vor Angst halb tot war.

»Sie hat das geheime Zimmer angesehen«, sagte Claire. »Als sie hier unten stand. Sie hat es direkt angestarrt.«

Michael und Shane schauten sie an. Zwei Augenpaare, beide schuldbewusst und alarmiert. Nacheinander zuckten sie die Schultern und wandten sich wieder ihrem Bier zu. »Zufall«, sagte Michael.

»Totaler Zufall«, stimmte ihm Shane zu.

»Eve sagte, dass Miranda eine Art Vision in Bezug auf dich hatte, Shane, als...«

»Nicht schon wieder! Hör mal, sie sagte, dass sie eine Vision des brennenden Hauses hatte, aber das sagte sie erst hinterher. Und selbst wenn sie eine hatte, hat mir das ja ganz toll was genützt.« Shanes Unterkiefer war angespannt. Ein Muskel darin bebte. Er schlug auf einen Knopf und das Spiel lief weiter; Motorengeräusche drangen aus den Fernsehlautsprechern und setzten jedem Gespräch über dieses Thema ein Ende.

Claire seufzte. »Ich gehe schlafen.«

Aber sie tat es dann doch nicht. Sie war erschöpft, alles tat ihr weh und sie war nervös... aber ihr Gehirn war viel zu sehr damit beschäftigt, über alles nachzudenken. Schließlich schubste sie Shane ein wenig zur Seite und nahm neben ihm auf der Couch Platz, während Michael und er spielten und spielten...

»Claire, wach auf.« Sie blinzelte und ihr wurde bewusst, dass ihr Kopf an Shanes Schultern ruhte und Michael nirgends zu sehen war. Ihr erster Gedanke war: Oh mein Gott, habe ich gesabbert? Ihr zweiter war, dass sie überhaupt nicht bemerkt hatte, dass sie ihm so nah war, sich an ihn geschmiegt hatte.

Der dritte war, dass sich Shane nicht bewegt hatte, obwohl Michaels Teil der Couch leer war. Und er betrachtete sie jetzt mit warmen, freundlichen Augen.

Oh. Oh, wow, war das schön.

Eine Sekunde später war es ihr schrecklich peinlich und sie rückte zur Seite. Shane räusperte sich und rutschte herüber. »Du solltest etwas schlafen«, sagte er. »Du bist fix und fertig.“

»Ja«, sagte sie. »Wie spät ist es?«

»Drei Uhr morgens. Michael bereitet gerade einen kleinen Snack vor. Möchtest du etwas?«

»Hm… nein. Danke.« Sie glitt von der Couch und stand dann herum wie eine Idiotin, nicht gewillt zu gehen, da er noch immer lächelte und... sie mochte das. »Wer hat gewonnen?“

»Welches Spiel?«

»Oh, ich habe wohl eine ganze Weile geschlafen.«

»Mach dir keine Sorgen. Wir haben aufgepasst, dass dich die Zombies nicht holen.« Dieses Mal war sein Lächeln auf nette Art boshaft. Claire empfand es wie eine warme Decke auf ihrer Haut. »Wenn du noch aufbleiben möchtest, kannst du mir helfen, es ihm heimzuzahlen.«

Vor Shane auf dem Tisch standen nun nicht mehr eine, sondern drei leere Bierflaschen. Dort, wo Michael gesessen hatte, standen ebenfalls drei. Kein Wunder, Shane lächelte sie noch immer an und sah so freundlich aus. »Das kommt darauf an«, sagte sie.

»Kann ich ein Bier haben?«

»Himmel, nein!«

»Weil ich erst sechzehn bin? Ach, komm schon, Shane.“

»Alkohol vernichtet Gehirnzellen, Dummkopf. Außerdem: Wenn ich dir eins abgebe, bedeutet das eins weniger für mich.«

Shane tippte sich an die Stirn. »Ich bin gut in Mathe.«

Sie brauchte ein Bier, um noch hier unten bei ihm zu bleiben, da sie Angst hatte, etwas Dummes zu tun oder zu sagen; wenn Alkohol im Spiel wäre, wäre es zumindest nicht ihre Schuld, oder? Aber gerade als sie den Mund öffnete, um ihn zu überreden, kam Michael mit einer Tüte neon-oranger Käseflips aus der Küche. Shane griff sich eine Handvoll und stopfte sie sich in den Mund. »Claire will ein Bier«, nuschelte er durch orangefarbenen Brei.

»Claire muss ins Bett«, sagte Michael und ließ sich auf die Couch fallen. »Rutsch mal, Mann. So sehr mag ich dich auch wieder nicht.«

»Idiot. Letzte Nacht klang das aber noch ganz anders.“

»Leck mich.«

»Ich will noch ein Bier.«

»Nichts da. Es war mein Geburtstagsgeschenk, nicht deines.“

»Oh, das ist jetzt aber schwach. Du bist wirklich ein Idiot, dafür versohl ich dir nachher den Hintern.«

»Leere Versprechungen.« Michael warf Claire einen Blick zu. »Du bist ja immer noch hier. Kein Bier. Ich verderbe doch keine Minderjährige.«

»Aber du bist doch selbst minderjährig«, sagte sie. »Zumindest was Bier angeht.«

»Yeah, und weißt du was? Wie bescheuert ist das eigentlich, dass ich als Erwachsener durchgehe, wenn ich jemanden umbringe, aber nicht, wenn ich ein Bier will?“

»Alles Idioten«, sprang Shane ein.

»Oh Mann, ernsthaft, das ist ja ein billiger Rausch. Drei Bier? Da vertrug ja schon meine Freundin an der Highschool mehr.«

»Deine Freundin von der Highschool...« Shane hielt inne, ohne den Satz zu beenden, und lief knallrot an. War wohl besser so, was immer er sagen wollte. »Claire, hau jetzt ab. Du machst mich ganz nervös.«

»Idiot!«, warf sie ihm zu und ging nach oben, bevor das Kissen sie treffen konnte, das er gepackt hatte. Es prallte neben ihr gegen die Wand und rutschte die Treppen hinunter. Sie lachte, hörte aber auf, als plötzlich ein Schatten den Zugang zum oberen Gang versperrte.

Eve. Und Miranda, die sonderbarer denn je aussah.

»Miranda geht jetzt!«, rief Claire hinunter. Was keine so tolle Idee war, weil Eve mitgenommen aussah und Shane betrunken war. Außerdem war es bestenfalls eine schlechte Idee, ein vampirbesessenes, eventuell übersinnlich begabtes Mädchen allein zu Fuß nach Hause gehen zu lassen.

»Miranda geht nicht«, sagte Eve und klapperte mit ihren Absätzen die Stufen hinunter. Miranda schwebte wie ein schwarzweißer Geist hinter ihr her. »Miranda macht jetzt eine Séance.«

Unten im Wohnzimmer hörte sie, wie Michael in blankem Horror »oh, shit!«, sagte.