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Erica hatte recht, der Doc-Block war der erste logische Schritt. Claire ließ sich dort ihren Knöchel verbinden, bekam einen Eisbeutel und angesichts der blauen Flecken, die sich allmählich zeigten, einiges an Stirnrunzeln ab. Gebrochen hatte sie sich nichts, aber sie würde noch ein paar Tage lang grün und blau sein. Der Arzt stellte pro forma einige Fragen nach ihrem Freund und so weiter, aber da sie wahrheitsgemäß sagen konnte, dass sie nicht von ihrem Freund verprügelt worden war, zuckte er mit den Achseln und sagte, sie solle auf sich aufpassen.

Er schrieb ihr ein Attest, gab ihr einige Schmerzmittel mit und schickte sie nach Hause.

Ins Wohnheim würde sie auf keinen Fall zurückkehren. Um ehrlich zu sein, hatte sie nicht viel in ihrem Zimmer - ein paar Bücher, einige Fotos von ihrer Familie, ein paar Poster... sie hatte es bisher noch kein einziges Mal als Zuhause bezeichnet, aus irgendwelchen Gründen hatte sie sich dort nie sicher gefühlt. Es war ihr immer wie eine Lagerhalle vorgekommen. Eine Lagerhalle für Jugendliche, die es auf die eine oder andere Weise wieder verlassen würden.

Sie hinkte zu dem großen, leeren, eckigen Betonplatz mit einigen alten, klapprigen Bänken und Picknicktischen hinüber. Er war auf allen Seiten von plumpen, eintönigen Gebäuden umstellt, die ungefähr wie Schachteln mit Fenstern aussahen. Vermutlich Projekte von Architekturstudenten. Sie hatte gerüchteweise gehört, dass vor ein paar Jahren einer von ihnen von einem der Gebäude heruntergefallen sein sollte, aber na ja, sie hatte auch Gerüchte über einen Hausmeister gehört, der angeblich im Chemielabor geköpft wurde und in dem Gebäude herumspukte, sowie über Zombies, die nach Einbruch der Dunkelheit auf dem Gelände herumlungerten, deshalb hielt sie das nicht für besonders glaubwürdig.

Es war schon mitten am Nachmittag und nur wenige Studenten hingen auf dem Platz herum, wo es kaum Schatten gab - großartige Architektur, wenn man bedachte, dass das Thermometer auch noch im September auf über 30 Grad klettern konnte. Claire nahm die Campus-Zeitung aus einem Ständer, setzte sich auf eine glühend heiße Bank und öffnete die Rubrik »Zu vermieten«. Wohnheimzimmer kamen nicht infrage; Howard Hall und Lansdale Hall waren die einzigen, die Mädchen unter 20 aufnahmen. Sie war nicht alt genug, um in gemischten Wohnheimen zugelassen zu werden. Bescheuerte Regeln, die wahrscheinlich aufgestellt wurden, als Mädchen noch Reifröcke trugen, dachte sie und überblätterte die Wohnheimanzeigen, bis sie zur Sparte »Außerhalb des Campus« kam. Mom und Dad würden deswegen komplett ausflippen, keine Frage. Aber... wenn sie die Wahl hatte zwischen Monica und elterlichem Ausflippen, zog sie Letzteres vor. Immerhin war es das Wichtigste, einen Ort zu finden, an dem sie sich sicher fühlte, wo sie studieren konnte. Oder?

Sie wühlte in ihrem Rucksack, fand ihr Handy und überprüfte, ob es Netz hatte. Ehrlich gesagt war das in Morganville etwas dürftig; draußen in der Prärie, mitten in Texas, was ungefähr so sehr am Ende der Welt war, wie es überhaupt ging, es sei denn, man fährt in die Mongolei oder so. Zwei Balken. Nicht gerade toll, aber es würde ausreichen.

Claire fing an, Nummern zu wählen. Unter der ersten sagte man ihr, dass man bereits jemanden gefunden hatte; noch bevor sie überhaupt »Danke« sagen konnte, legte der andere auf. Als Zweites hatte sie einen verschrobenen alten Kerl an der Strippe. Als Drittes eine verschrobene alte Dame. Als Viertes... nun, der Vierte war einfach nur unheimlich. Die fünfte Anzeige lautete: Drei Mitbewohner suchen einen vierten, riesiges altes Haus, Ungestörtheit garantiert, günstige Miete und Nebenkosten.

Das war... okay, sie war sich nicht sicher, ob sie sich »günstig« leisten konnte - sie hielt eher nach »saubillig« Ausschau -, aber zumindest klang es nicht so bizarr wie die anderen. Drei Mitbewohner. Das hieß, noch drei Leute, die helfen konnten, falls Monica & Co. dort herumschnüffeln sollten oder zumindest das Haus bewachen. Hmmmmm.

Sie rief an und hatte einen Anrufbeantworter mit einer sanften, jung klingenden Männerstimme dran.

»Hallo, du bist mit dem Glass House verbunden. Wenn du Michael sprechen willst, er schläft tagsüber. Falls du Shane sprechen willst - na dann viel Glück noch, wir wissen nämlich nie, wo zum Teufel er gerade steckt« - entferntes Gelächter von mindestens zwei Personen - »und wenn du Eve suchst, erreichst du sie wahrscheinlich auf dem Handy oder im Café. Aber hey, hinterlass einfach 'ne Nachricht. Und wenn du wegen des Zimmers anrufst, dann komm einfach vorbei. Die Adresse lautet 716 West Lot Street.« Eine ganz andere Stimme, eine weibliche, die von Gekicher erhellt wurde, das wie Kohlensäure in Limonade sprudelte, sagte: »Yeah, halt einfach nach der Villa Ausschau.« Und dann sagte eine dritte Stimme, wieder eine männliche: »Vom Winde verweht meets The Munsters.« Es folgten noch mehr Gelächter und ein Piepton.

Claire blinzelte, hustete und sagte dann: »Ähm... hi. Ich heiße Claire? Claire Danvers? Und ich rufe wegen, ähm, des Zimmers an. Sorry.« Sie legte panisch auf. Diese drei da klangen... normal. Aber sie klangen auch, als würden sie sich ziemlich nahestehen. Und ihrer Erfahrung nach nahmen solche untereinander befreundeten Leute minderjährige, zu klein geratene Streber wie sie nicht unbedingt mit offenen Armen auf. Sie hatten nicht fies geklungen; sie klangen einfach nur - selbstbewusst. Und genau das war sie selbst eben nicht.

Sie ging die übrigen Anzeigen durch und fühlte regelrecht, dass ihr das Herz ein wenig in die Hose sank. Knapp vier Zentimeter vielleicht, mit einem leichten Drall zur Seite. Mein Gott, ich bin so gut wie tot. Sie konnte nicht hier auf der Bank schlafen wie ein obdachloser Penner und sie konnte auch nicht zurück ins Wohnheim; sie musste etwas unternehmen.

Na gut, dachte sie und klappte ihr Handy zu, öffnete es dann wieder, um sich ein Taxi zu rufen.

716 Lot Street. Vom Winde verweht meets The Munsters. Alles klar.

Vielleicht hatten sie wenigstens genug Mitleid mit ihr, um sie für eine lausige Nacht bei sich aufzunehmen.

***

Das Taxi tauchte erst eine Stunde später auf - sie stellte sich vor, dass es sich mehr oder weniger um den einzigen Taxifahrer in Morganville handelte, das außer dem Campus der TPU am Stadtrand nur zehntausend Einwohner hatte. Claire hatte seit sechs Wochen in keinem Auto mehr gesessen, seit sie ihre Eltern in diese Stadt gebracht hatten. Sie hatte sich seitdem auch kaum einen Häuserblock vom Campus entfernt und wenn, dann nur, um ein paar gebrauchte Bücher für den Unterricht zu besorgen.

»Triffst du dich mit jemandem?«, fragte der Taxifahrer. Sie starrte aus dem Fenster auf die Ladenfronten: Secondhandläden, Buchantiquariate, Computergeschäfte, Geschäfte, die nur griechische Buchstaben aus Holz verkauften. Alle verkauften Collegebedarf.

»Nein«, sagte sie. »Warum?«

Der Taxifahrer zuckte die Achseln. »Normalerweise trefft ihr jungen Leute euch mit Freunden. Wenn du dich ein wenig amüsieren willst...«

Sie fröstelte. »Nein, will ich nicht. Ich - ja, ich bin mit Leuten verabredet. Wenn Sie sich bitte ein wenig beeilen würden...?« Er grunzte, bog rechts ab und das Taxi gelangte vom Collegebereich in eine Art Geisterstadt, und das innerhalb eines einzigen Häuserblocks. Sie konnte nicht beschreiben, wie das genau passiert war - die Gebäude waren mehr oder weniger dieselben, aber sie sahen düster und alt aus und die wenigen Menschen, die auf den Straßen unterwegs waren, gingen schnell und hatten ihre Köpfe gesenkt. Wenn Leute zu zweit oder zu dritt unterwegs waren, unterhielten sie sich nicht einmal. Als das Taxi vorüberfuhr, schauten die Menschen auf und blickten dann wieder zu Boden, so, als hätten sie eine andere Art Auto erwartet.

Ein kleines Mädchen, das seine Mutter bei der Hand genommen hatte, winkte, als das Taxi an einer Ampel hielt. Nur ein wenig. Claire winkte zurück.

Die Mutter des Mädchens sah erschrocken auf, zog ihr Kind weg und schob es in die schwarze Öffnung eines Geschäfts für gebrauchte Elektronikwaren. Wow, dachte Claire. Sehe ich so furchterregend aus? Vielleicht schon. Oder vielleicht passte man in Morganville einfach nur ganz besonders auf seine Kinder auf. Komisch, jetzt, wo sie darüber nachdachte - irgendetwas fehlte in dieser Stadt. Aushänge. Sie hatte sie ihr Leben lang an Telefonmasten geheftet gesehen... Anzeigen für entlaufene Hunde, vermisste Kinder oder Erwachsene.

Hier nicht. Überhaupt nichts.

»Lot Street«, verkündete der Taxifahrer und hielt mit quietschender Bremse an. »Zehn fünfzig.«

Für fünf Minuten Fahrt?, dachte Claire erstaunt, aber sie bezahlte. Sie erwog, ihm den Mittelfinger zu zeigen, als er wegfuhr, aber er wirkte irgendwie gefährlich und außerdem war sie nicht der Typ dafür. Normalerweise. Allerdings hatte sie heute einen schlechten Tag.

Sie hievte ihren Rucksack wieder hoch, erwischte einen blauen Fleck an ihrer Schulter und ließ sich das Gewicht beinahe auf den Fuß fallen. In ihren Augen brannten Tränen. Plötzlich fühlte sie sich müde und zittrig, verängstigt... zumindest war sie auf dem Campus auf relativ vertrautem Boden, aber hier draußen in der Stadt fühlte sie sich wieder einmal wie eine Fremde.

Morganville war braun. Von der Sonne verbrannt, von Wind und Wetter verwittert. Der heiße Sommer begann, in einen heißen Herbst überzugehen, und die Blätter der Bäume - die wenigen, die da waren - sahen an den Rändern grau und vertrocknet aus und knisterten wie Papier im Wind. West Lot Street lag in der Nähe dessen, was als Innenstadtbereich durchging, vermutlich eine alte Wohngegend. Die Häuser, die sie sehen konnte, waren nichts Besonderes… meist einstöckige Gebäude, deren Farbe verblasst war und abblätterte.

Sie zählte die Hausnummern und bemerkte, dass sie vor der 716 stand. Sie sah sich um und schnappte nach Luft, denn wer auch immer der Typ am Telefon war, mit der Beschreibung lag er goldrichtig. Nummer 716 sah aus wie die Filmkulisse für einen Streifen über den Amerikanischen Bürgerkrieg. Dicke gräuliche Säulen. Breites Portal. Zwei Geschosse mit großen Fenstern.

Das Haus war riesig. Na ja, vielleicht nicht riesig, aber größer, als Claire es sich vorgestellt hatte. Groß genug für eine Studentenverbindung und wahrscheinlich bestens dafür geeignet. Sie konnte sich vorstellen, dass über der Tür griechische Buchstaben hingen.

Es sah wie ausgestorben aus, aber man musste sagen, dass alle Häuser dieses Blocks wie ausgestorben aussahen. Es war später Nachmittag, alle waren noch bei der Arbeit. Ein paar Autos glitzerten in der glühenden Sonne, ihr Lack war durch eine Schmutzschicht gedämpft. Aber keine Autos vor der 716.

Was für eine bescheuerte Idee, dachte sie und da waren sie wieder, diese Tränen, die zusammen mit Panik in ihr aufstiegen. Was sollte sie jetzt tun? Zur Tür gehen und darum betteln, hier einziehen zu dürfen? Wie erbärmlich war das denn! Sie würden sie bestenfalls für armselig halten, schlimmstenfalls für irre. Nein, es war allein schon eine blöde Idee gewesen, das Geld für das Taxi zu verpulvern.

Es war heiß und sie war erschöpft und alles tat ihr weh und sie hatte noch Hausaufgaben zu erledigen und keinen Platz zum Schlafen und plötzlich war es einfach zu viel.

Claire ließ ihren Rucksack fallen, vergrub ihr malträtiertes Gesicht in beiden Händen und begann, wie ein Baby zu schluchzen.

Blöde Heulsuse, würde Monica jetzt vielleicht sagen, dachte Claire, aber das ließ sie nur noch lauter schluchzen und plötzlich erschien ihr die Vorstellung, nach Hause zu gehen, nach Hause zu Mom und Dad und zu dem Zimmer, das, wie sie wusste, dort auf sie wartete, besser als alles andere, besser als alles hier draußen in dieser Furcht einflößenden, verrückten Welt...

»Hey«, sagte eine Mädchenstimme und jemand berührte sie am Ellbogen. »Hey, alles in Ordnung?«

Claire schrie auf und machte einen Satz, landete hart auf ihrem gezerrten Knöchel und wäre fast hingefallen. Das Mädchen, das sie erschreckt hatte, streckte die Hand aus und griff nach ihrem Arm, um sie zu stützen, wobei sie selbst auch aufrichtig erschrocken aussah. »Tut mir leid! Meine Güte, ich bin so ein Trampel. Bist du okay?«

Das Mädchen war nicht Monica oder Jen oder Gina oder irgendjemand anderes, den sie auf dem Campus der TPU gesehen hatte; dieses Mädchen war ziemlich Gothic. Nicht auf unangenehme Weise - sie hatte nicht dieses verdrießliche Ich-bin-so-cool-dass-es-schon-wieder-cool-ist-Gehabe der meisten Goths, die Claire in der Schule gekannt hatte - aber das schwarz gefärbte, zottelige Haar, das bleiche Make-up, die dicken Lidstriche und die schwere Wimperntusche, die rot-schwarz geringelten Strümpfe und die klobigen Schuhe, der schwarze Faltenminirock… ganz offensichtlich ein Fan der dunklen Seite.

»Ich heiße Eve«, sagte das Mädchen und lächelte. Sie hatte eine liebe, eine lustige Art zu lächeln, ein Lächeln, das dazu einlud, gemeinsam über einen Insider-Witz zu lachen. »Ja, stell dir vor, meine Eltern haben mich wirklich so genannt. Es ist, als hätten sie schon gewusst, was aus mir wird.«

Ihr Lächeln erlosch und sie betrachtete aufmerksam Claires Gesicht. »Wow. Große Güte, was für ein Veilchen. Wer hat dich geschlagen?«

»Niemand«, sagte Claire rasch, ohne überhaupt darüber nachzudenken, warum, auch wenn sie wusste, dass Gothic Eve auf keinen Fall zum Gefolge der adretten Monica gehören konnte. »Ich hatte einen Unfall.«

»Yeah«, stimmte Eve sanft zu. »Ich hatte diese Art von Unfall auch oft, bin in Fäuste gefallen oder so. Wie ich schon sagte, ich bin ein Trampel. Bist du okay? Brauchst du einen Arzt oder so? Ich kann dich fahren, wenn du willst.«

Sie machte eine Geste zur Straße hin und erst jetzt bemerkte Claire, dass eine uralte Kiste von Cadillac - mit Heckflossen und allem - am Bordstein angehalten haben musste, als sie sich die Augen ausgeheult hatte. Ein heiter aussehender Totenschädel baumelte am Rückspiegel und Claire zweifelte nicht daran, dass die hintere Stoßstange mit Aufklebern von Emo-Bands zugepflastert war, von denen niemals jemand etwas gehört hatte.

Sie hatte Eve bereits ins dem Herz geschlossen. »Nein«, sagte sie und fuhr sich ärgerlich mit dem Handrücken über die Augen. » Ich, äh - weißt du, es tut mir leid. Ich hatte echt einen miesen Tag. Ich bin wegen des Zimmers gekommen, aber...«

»Richtig, das Zimmer!« Eve schnipste mit den Fingern, als hätte sie das total vergessen. »Super! Ich habe gerade Pause und bin deshalb heimgekommen - ich arbeite drüben im Common Grounds, dem Café, weißt du? - und Michael wird noch eine Weile nicht wach sein, aber du kannst reinkommen und dir das Haus anschauen, wenn du möchtest. Ich weiß nicht, ob Shane da ist, aber...«

»Ich weiß nicht, ob ich wirklich hier...«

»Natürlich möchtest du, ganz bestimmt!« Eve rollte die Augen. »Du glaubst ja nicht, was für Nullen versuchen, bei uns den Fuß in die Tür zu kriegen. Ich meine, ernsthaft! Freaks. Du bist die erste Normale, die mir bisher dabei untergekommen ist, Michael bringt mich um, wenn ich dich gehen lasse und nicht wenigstens versuche, ins Geschäft zu kommen.«

Claire blinzelte. Irgendwie hatte sie gedacht, dass sie diejenige sein würde, die darum betteln würde, in Betracht gezogen zu werden... und normal? Eve hielt sie für normal?

»Sicher«, hörte sie sich sagen. »ja, ich möchte sehr gern.«

Eve grabschte Claires Rucksack und schwang ihn sich über die Schulter, über ihre schwarze, silbern beschlagene Handtasche, die die Form eines Sarges hatte. »Mir nach.« Und sie stürmte davon, den Weg hinauf zur Veranda der ehrwürdigen gotischen Südstaatenvilla, um die Tür aufzuschließen.

Von Nahem sah das Haus alt aus, aber nicht direkt heruntergekommen; verwittert, entschied Claire. Könnte hie und da ein bisschen Farbe vertragen und die gusseisernen Stühle bräuchten auch mal einen Anstrich. Die Eingangstür hatte zwei Flügel, darüber befand sich ein Buntglasfenster.

»Ho!«, brüllte Eve und ließ Claires Rucksack auf einen Tisch im Flur fallen, ihre Handtasche legte sie daneben und ihre Schlüssel in einen antik aussehenden Aschenbecher mit einem gusseisernen Affen auf dem Henkel. »Leute! Hier ist jemand aus Fleisch und Blut!«

Als die Tür hinter ihr ins Schloss krachte, kam Claire in den Sinn, dass man dies auf verschiedene Arten auslegen könnte, und eine davon - die Blutgericht-in-Texas-Art - gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie rührte sich nicht und schaute sich erstarrt um.

Zumindest hatte das Innere des Hauses nichts offensichtlich Unheimliches an sich. Viel Holz, sauber und schlicht. An manchen Ecken blätterte die Farbe ab, so als hätte es schon eine Menge erlebt. Es roch nach Zitronenputzmittel und - Chili?

»Ho!«, brüllte Eve noch einmal und trampelte den Flur entlang. Er weitete sich zu einem größeren Zimmer; soweit Claire sehen konnte, standen dort große Ledersofas und Bücherregale, wie in einem richtigen Zuhause. Vielleicht sah so Wohnen außerhalb des Campus aus. Wenn ja, war dies eine deutliche Verbesserung zum Wohnheimleben. »Shane, ich rieche das Chili, ich weiß, dass du da bist! Nimm die Ohrstöpsel raus!«

Sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass an einem Ort wie diesem Zimmer ein Blutgericht stattfinden könnte. Das war ein Pluspunkt. Oder, was das Blutgericht betrifft, auch nicht, dass Mitbewohner, die Serienmörder sind, so etwas Häusliches tun würden wie Chili kochen. Gutes Chili, so wie es roch. Mit... Knoblauch?

Sie machte ein paar zögerliche Schritte den Gang entlang. Eves Schritte klapperten in ein anderes Zimmer davon, vielleicht die Küche. Das Haus wirkte sehr still. Nirgends sprang etwas hervor, um Claire zu erschrecken, deshalb setzte sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen, bis sie in den großen zentralen Raum gelangte.

Und dort lümmelte ein Typ auf der Couch - so wie nur Typen lümmeln können -, gähnte und setzte sich auf, wobei er sich den Kopf rieb. Als Claire den Mund öffnete - um Hallo zu sagen oder um Hilfe zu schreien, das wusste sie noch nicht so genau -, brachte er sie überraschend zum Schweigen, indem er sie angrinste und den Finger auf den Mund legte, wie um sie zu beruhigen. »Hey«, flüsterte er. »Ich bin Shane. Was geht?« Er zwinkerte ein paarmal, und ohne seinen Gesichtsausdruck zu ändern, sagte er: »Junge, das ist aber ein übles Veilchen. Tut weh, was?«

Sie nickte leicht. Shane schwang seine Beine von der Couch und saß da und schaute sie an, wobei er die Ellbogen auf die Knie stützte und die Hände baumeln ließ. Er hatte braunes Haar mit einem unregelmäßigen Stufenschnitt, der es nicht ganz geschafft hatte, punkig zu sein. Er war etwas älter als sie selbst. Achtzehn? Er war kräftig, aber auch entsprechend groß. Es reichte, um sich noch winziger zu fühlen als sonst. Sie nahm an, dass seine Augen braun waren, aber sie wagte es immer nur kurz, ihn direkt anzuschauen.

»Bestimmt sagst du gleich, dass das andere Mädchen noch übler aussieht«, sagte Shane.

Sie schüttelte den Kopf und zuckte zusammen, als er durch die Bewegung noch mehr schmerzte. »Nein. Ähm... woher weißt du, dass es...?«

»Ein Mädchen war? Ganz einfach. Deiner Größe nach hätte dich ein Kerl ins Krankenhaus gebracht, wenn er dir einen Schlag verpasst hätte, der so eine Spur hinterlässt. Also, was ist los? Du siehst nicht gerade aus, als wärst du auf der Suche nach Ärger.« Sie hatte das Gefühl, dass sie jetzt eigentlich sauer sein sollte, aber mal im Ernst, diese ganze Sache erschien ihr allmählich sowieso wie ein seltsamer Traum. Vielleicht war sie überhaupt nicht zu sich gekommen. Vielleicht lag sie ja in irgendeinem Krankenhausbett im Koma und Shane war nur ihre Version der Grinsekatze aus Alice im Wunderland. »Ich bin Claire«, sagte sie und hob verlegen die Hand zum Gruß. »Hi.«

Er deutete mit dem Kopf auf einen Ohrensessel aus Leder. Sie ließ sich in ihn gleiten, ihre Füße baumelten über dem Boden und ein eigenartiges Gefühl der Erleichterung durchflutete sie. Es fühlte sich an wie ein Zuhause, obwohl es das natürlich nicht war, und sie fing an zu glauben, dass es das auch niemals sein könnte. Sie passte nicht hierher. Aber eigentlich konnte sie sich nicht vorstellen, wer überhaupt hierher passen würde.

»Möchtest du etwas?«, fragte Shane abrupt. »Cola, vielleicht? Chili? Eine Busfahrkarte zurück nach Hause?“

»Cola«, sagte sie, und überraschenderweise: »Und Chili.“

»Gute Wahl. Ich habe es selbst gekocht.« Er rutschte - sonderbar schlaff für seine Statur - von der Couch und trottete in die Küche, wo Eve verschwunden war. Claire lauschte den undeutlichen Stimmen, als sich die beiden unterhielten, und entspannte sich, einen Muskel nach dem anderen, in der weichen Umarmung des Sessels. Sie hatte es bis jetzt nicht bemerkt, aber das Haus war kühl und das träge Kreisen des Deckenventilators über ihr fächelte ihrem heißen, schmerzenden Gesicht kalte Luft zu. Es fühlte sich gut an.

Sie schlug die Augen auf, als sie den Klang von Eves klappernden Schuhen vernahm. Eve kam ins Zimmer zurück und trug ein Tablett mit einer rot-weißen Getränkedose, einer Suppentasse, einem Löffel und einem Eisbeutel. Sie stellte das Tablett auf einem Tischchen ab und schob es mit dem Knie in Richtung Claire. »Zuerst den Eisbeutel«, sagte sie. »Man kann nie wissen, was Shane in Sein Chili tut. Nimm dich in Acht«

Shane trottete zur Couch zurück und ließ sich darauf plumpsen, dann nippte er an seiner Getränkedose. Eve warf ihm einen entrüsteten Blick zu. »Klar, Mann, danke, dass du mir auch eine mitgebracht hast.« Ihr waschbärartiges Make-up betonte das Augenrollen noch. »Idiot.«

»Ich wusste ja nicht, ob du Zombie-Dreck oder so was darüber gestreut haben möchtest. Und ob du diese Woche isst.«

»Idiot! Fang schon mal an zu essen - ich hole mir selbst etwas.« Claire nahm den Löffel und probierte zögerlich einen Bissen; das Chili war dick und fleischig, scharf gewürzt und mit viel Knoblauch. In der Tat sehr lecker. Sie war schon so an das Essen aus der Cafeteria gewöhnt und das hier war einfach... wow. Ganz anders. Shane beobachtete sie mit hochgezogenen Augenbrauen, als sie anfing, es in sich hineinzuschaufeln. »Gut«, nuschelte sie. Er salutierte träge. Als sie ihre Suppentasse halb leer gegessen hatte, kam Eve mit ihrem Tablett zurück, das sie auf die andere Hälfte des Tischchens knallte. Eve setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und haute rein.

»Nicht übel«, sagte sie schließlich. »Zumindest hast du die Oh-my-God-Soße dieses Mal weggelassen.«

»Ich habe mir eine Ladung davon gemacht«, sagte Shane. »Sie steht im Kühlschrank und trägt einen Aufkleber, auf dem »umweltgefährdend« steht; es gibt also nichts zu meckern, wenn du in Flammen aufgehst. Wo hast du denn diese Stadtstreicherin aufgelesen?«

»Draußen. Sie ist wegen des Zimmers gekommen.«

»Hast du sie erst zusammengeschlagen, um sicherzugehen, dass sie taff genug ist?«

»Leck mich, Chili-Boy.«

»Beachte Eve einfach nicht«, sagte er zu Claire. »Sie hasst Arbeitstage. Sie hat Schiss, braun zu werden.«

»Yeah, und Shane hasst es einfach zu arbeiten. Wie heißt du überhaupt?«

Claire machte den Mund auf, aber Shane kam ihr zuvor, eindeutig erfreut, dass er seiner Mitbewohnerin um eine Nasenlänge voraus war. »Claire. Wie, du hast sie nicht mal gefragt? Und ein Mädchen hat sie verprügelt. Wahrscheinlich irgendeine Schlampe aus dem Wohnheim. Du weißt ja, was das für ein Laden ist.«

Sie tauschten einen Blick aus. Einen recht langen. Eve wandte sich wieder an Claire. »Stimmt das? Du wurdest im Wohnheim zusammengeschlagen?«

Sie nickte und schaufelte sich hastig mehr Essen in den Mund, um nicht so viel sagen zu müssen.

»Das ist ja krass. Kein Wunder, dass du dich nach einem Zimmer umschaust.« Claire nickte wieder.

»Du hast nicht viel mitgebracht.«

»Ich hab nicht viel«, sagte sie. »Nur die Bücher und vielleicht noch ein paar Sachen in meinem Zimmer. Aber - ich möchte nicht zurück, um das Zeug zu holen. Nicht heute Abend zumindest.«

»Warum nicht?« Shane hatte einen schäbigen alten Baseball vom Boden aufgehoben und warf ihn gegen die hohe Decke, wobei er die kreisenden Flügel des Ventilators nur knapp verfehlte. Er fing ihn lässig wieder auf. »Will dich noch immer jemand verprügeln?«

»Ja«, sagte Claire und schaute auf ihr Chili hinunter, das schnell weniger wurde. »Ich nehme es an. Es ist ja nicht nur sie, es ist - na ja, sie hat Freundinnen. Und.,, ich nicht. Dort ist es - nun ja, es ist unheimlich.«

»Das kenn ich«, sagte Eve. »Hier ist es praktisch genauso.« Shane tat so, als würde er den Baseball nach ihr werfen. Sie gab vor, in Deckung zu gehen.

»Wann steht Michael auf?«

Shane verpasste ihr einen weiteren vorgetäuschten Wurf. »Himmel noch mal, Eve, was weiß ich. Ich mag den Kerl, aber ich liebe ihn nicht. Geh an seine Tür klopfen und frage. Ich geh mich jetzt jedenfalls fertig machen.«

»Fertig wofür?«, fragte Eve. »Du gehst doch nicht etwa wieder aus, oder?«

»Doch sicher, ja. Bowlen. Sie heißt Laura. Wenn du weitere Einzelheiten wissen möchtest, kannst du wie alle anderen das Video herunterladen.« Shane rollte sich von der Couch, stand auf und trottete zu der breiten Treppe, die in den ersten Stock führte. »Bis dann, Claire.«

Eve gab ein frustriertes Geräusch von sich. »Jetzt warte doch mal! Was würdest du sagen. Wäre es okay, wenn sie hier einzieht, oder was?«

Shane wedelte mit der Hand. »Meinetwegen, Mann. Was mich angeht, ich finde sie okay.« Er warf Claire einen raschen Blick und ein schiefes, eigentümlich liebes Lächeln zu, als er die Treppe hinaufsprang. Er bewegte sich wie ein Athlet, aber ohne das aufgeblasene Gehabe, das sie kannte. Irgendwie sexy eigentlich.

»Männer«, seufzte Eve. »Verdammt, es wäre schon gut, noch eine Frau hier zu haben. Sie sind immer so yeah, meinetwegen, aber wenn es darum geht, aufzuräumen oder Geschirr zu spülen, verwandeln sie sich plötzlich in Geister. Ich meine, nicht dass du hier das Zimmermädchen machen müsstest oder so... aber du musst sie erst anschreien, bevor sie ihren Teil übernehmen, sonst wirst du untergebuttert.«

Claire lächelte, oder versuchte es zumindest, aber ihre aufgeplatzte Lippe pochte und sie fühlte, wie der Schorf aufbrach. Blut rann ihr das Kinn herunter und sie griff nach der Serviette, die Eve auf das Tablett gelegt hatte, um sie daraufzudrücken. Eve beobachtete sie schweigend und stirnrunzelnd, dann erhob sie sich vom Boden, nahm den Eisbeutel und hielt ihn behutsam gegen die Beule an Claires Kopf. »Was macht die Beule?«, fragte sie.

»Schon besser.« Es stimmte. Das Eis betäubte den Schmerz fast sofort und das Essen zauberte eine wohlige Wärme in ihren Bauch. »Hm, ich denke, ich sollte mal... nach dem Zimmer fragen...«

»Also, du musst mit Michael sprechen und er muss einverstanden sein, aber Michael ist echt süß. Ihm gehört übrigens das Haus. Seiner Familie jedenfalls. Ich glaube, sie sind vor ein paar Jahren weggezogen und haben ihm das Haus hinterlassen. Er ist etwa sechs Monate älter als ich. Wir sind alle so um die achtzehn. Michael ist sozusagen der Älteste.“

»Er schläft tagsüber?«

»Ja. Ich meine, ich schlafe auch gern tagsüber, aber er ist davon regelrecht besessen. Ich habe ihn einmal einen Vampir genannt, weil er wirklich nicht gern bei Tag auf ist. Und zwar nie. Er fand das nicht besonders lustig.«

»Bist du dir sicher, dass er kein Vampir ist?«, sagte Claire. »Ich habe welche in Filmen gesehen. Die sind ganz clever.« Sie wollte nur einen Witz machen. Eve lächelte nicht.

»Oh, ziemlich sicher. Erstens isst er Shanes Chili, das weiß Gott genug Knoblauch enthält, um ein ganzes Dutzend hochkarätiger Draculas zur Explosion zu bringen. Und zweitens habe ich ihn einmal dazu gezwungen, ein Kreuz zu berühren.« Eve nahm einen großen Schluck aus ihrer Cola.

»Du hast - was? Ihn dazu gezwungen?«

»Na ja, klar. Ich meine, als Mädchen kann man nicht vorsichtig genug sein, vor allem hier.« Claire muss wohl ein verständnisloses Gesicht gemacht haben, denn Eve rollte schon wieder die Augen. Das musste wohl ihr Lieblingsgesichtsausdruck sein, dachte Claire. »In Morganville. Weißt du?«

»Was ist damit?«

,,Soll das heißen, du weißt es nicht? Wie kannst du das nicht wissen?« Eve setzte ihre Dose ab und richtete sich auf die Knie auf, wobei sie die Ellbogen auf dem Tischchen abstützte. Sie sah ernst aus unter ihrem dicken Make-up. Ihre dunkelbraunen Augen hatten einen goldenen Rand. »In Morganville wimmelt es nur so vor Vampiren.«

Claire lachte.

Eve nicht. Sie starrte sie nur weiterhin an.

»Ähm... du machst doch Witze?«

»Wie viele Studenten machen jährlich ihren Abschluss an der TPU?«

»Ich weiß nicht... das College taugt nichts, die meisten wechseln...«

»Alle gehen. Oder zumindest kreuzen sie nicht mehr auf, stimmt's? Ich kann nicht fassen, dass du das nicht weißt. Hat dir niemand den Grund dafür gesagt, bevor du hierhergezogen bist? Sieh mal, die Vampire beherrschen die Stadt. Sie haben hier das Sagen. Und entweder gehörst du dazu oder eben nicht. Wenn du für sie arbeitest, wenn du so tust, als wären sie nicht da, als würde es sie nicht geben, und wenn du wegschaust, wenn etwas passiert, dann bekommen du und deine Familie einen Freibrief. Du stehst unter Schutz. Wenn nicht...« Eve fuhr sich mit dem Finger quer über die Kehle und ließ die Augen herausquellen.

Na klar, dachte Claire, als sie den Löffel weglegte. Kein Wunder, dass niemand bei diesen Leuten einzieht. Sie haben nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ganz schön blöd. Abgesehen von dem durchgeknallten Part mochte sie sie wirklich.

»Du denkst, ich bin plemplem«, sagte Eve und seufzte. »Yeah, schon kapiert. Ich würde das auch von mir denken, aber ich bin in einem Haus aufgewachsen, das unter Schutz stand. Mein Vater arbeitet für die Wasserversorgung. Meine Mom ist Lehrerin. Aber wir tragen alle diese hier.« Sie streckte ihr Handgelenk hin. Darauf war ein schwarzes Lederband mit einem roten Symbol, keines, das Claire kannte. Es sah ein bisschen aus wie ein chinesischer Buchstabe. »Siehst du, wie rot meines ist? Abgelaufen. Es ist wie eine Krankenversicherung. Kinder sind nur bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr mitversichert. Meins ist vor sechs Monaten abgelaufen.« Sie schaute es traurig an, dann zuckte sie die Achseln und löste es, um es auf das Tablett fallen zu lassen. »Ich glaube, ich brauche es nicht mehr zu tragen. Sicherlich würde eh keiner darauf reinfallen.«

Claire schaute sie nur hilflos an; sie fragte sich, ob sie Opfer eines schlechten Scherzes geworden sei und Eve jeden Augenblick loslachen und ihr sagen würde, was für ein Idiot sie doch sei, dass sie ihr das alles abkaufte; und Shane würde von trägelieb zu grausam übergehen, sie zur Tür hinausschubsen und sie die ganze Zeit nachäffen. Denn so funktionierte die Welt nicht. Man schloss nicht irgendwelche Leute ins Herz, die sich später als völlig verrückt herausstellten, oder? Aber konnte man das so sagen?

Über die Alternative - also dass Eve gar nicht verrückt war - wollte Claire erst gar nicht nachdenken. Sie erinnerte sich an die Menschen auf der Straße, die so schnell und mit gesenktem Kopf gegangen waren. Die Art und Weise, wie die Mutter auf ein freundliches Winken hin ihr Kind von der Straße gezerrt hatte. »Na, Wunderbar. Denk ruhig weiterhin, ich sei irre«, sagte Eve und setzte sich nach hinten auf ihre Fersen. »Ich meine, und wenn schon? Ich werde nicht versuchen, dich von irgendwas zu überzeugen oder so. Nur - geh nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr raus, es sei denn, jemand ist bei dir. Jemand, der unter Schutz steht, wenn du jemanden findest. Halt nach dem Armband Ausschau.« Sie stieß ihres leicht mit dem Finger an. Das Symbol ist weiß, wenn es aktiviert ist.«

»Aber ich...« Claire räusperte sich und überlegte, was sie sagen sollte. Ihr fiel nichts Nettes ein. War es da nicht besser, den Mund zu halten? »Okay. Danke. Ähm, ist Shane...?«

»Shane? Geschützt?« Eve schnaubte. »Niemals! Selbst wenn er es wäre, was ich bezweifle, würde er es niemals zugeben; er trägt jedenfalls kein Armband oder so. Michael - Michael hat auch keinen Schutz, aber es gibt eine Art Standardschutz für Häuser. Wir sind eine Art Außenseiter hier. Zusammen zu sein, gibt uns auch Sicherheit«

Ein eigenartiges Gespräch, das sie da bei Chili und Coke führten, und dazu auch noch der Eisbeutel auf ihrem Kopf. Claire war sich überhaupt nicht bewusst, dass sie gähnte. Eve lachte.

»Du kannst es auch als Gutenachtgeschichte betrachten«, sagte sie. »Hör mal, ich zeige dir das Zimmer. Schlimmstenfalls legst du dich ein Weilchen hin, lässt den Eisbeutel wirken und haust dann ab. Oder hey, du wachst auf und entscheidest dich, mit Michael zu sprechen, bevor du gehst. Wie du willst.«

Ein Frösteln überlief sie und sie erschauerte. Das kam wohl von dem Schlag auf den Kopf, vermutete sie, und daher, dass sie so müde war. Sie griff in ihre Tasche, fand die Packung Tabletten, die ihr der Arzt verschrieben hatte, und schluckte eine davon mit ihrem letzten Schluck Cola. Dann half sie Eve, die Tabletts in die Küche zu tragen, die riesig war, mit steinernen Spülbecken und altertümlichen, polierten Küchenanrichten sowie zwei modernen Annehmlichkeiten - dem Herd und dem Kühlschrank - die wie Fremdkörper in den Ecken standen. Ein Tontopf mit Chili köchelte noch immer vor sich hin.

Als das Geschirr gespült, die Tabletts gestapelt und der Müll entsorgt waren, hob Eve Claires Rucksack vorn Boden auf und führte sie durch das Wohnzimmer die Treppe hinauf. Auf der dritten Stufe drehte sie sich beunruhigt um und sagte: »Hey, schaffst du die Treppe? Weil, du weißt schon...«

»Ist schon okay«, log Claire. Ihr Knöchel tat höllisch weh, aber sie wollte das Zimmer sehen. Und auch wenn sie sie später wahrscheinlich rauswerfen würden, wollte sie wenigstens noch einmal in einem Bett schlafen, ganz gleich wie klobig und alt es war. Bis oben waren es dreizehn Stufen. Sie bewältigte jede einzelne, auch wenn sie schweißige Fingerabdrücke auf dem Geländer hinterließ, das Shane sich auf seinem Weg nach oben vorhin nicht einmal die Mühe gemacht hatte zu berühren.

Eves Schritte wurden hier von einem üppigen, alt aussehenden Teppich mit Wirbeln und Farben verschluckt, der in der Mitte des polierten Holzbodens lag. Es gab sechs Türen im oberen Flur. Als sie daran vorübergingen, deutete Eve darauf und kommentierte. »Shanes.« Die erste Tür. »Michaels.« Die zweite Tür. »Ihm gehört auch dieses Zimmer - es ist ein Doppelzimmer.« Dritte Tür. »Großes Bad.« Vierte. »Das zweite Badezimmer ist unten, es ist eine Art Notfallbad, wenn Shane hier drin ist und stundenlang Haarschaum aufträgt...«

»LECK MICH!«, brüllte Shane durch die geschlossene Tür. Eve schlug mit der Faust dagegen und führte Claire zu den letzten beiden. »Das ist mein Zimmer. Deines ist ganz hinten.«

Als die Tür aufschwang, schnappte Claire, die auf eine Enttäuschung gefasst war, nach Luft. Erstens war es riesig. Dreimal so groß wie ihr Wohnheimzimmer. Zweitens war es ein Eckzimmer und hatte drei - drei! - Fenster, die im Moment alle mit Rollos und Vorhängen verdunkelt waren. Das Bett war kein winziges Wohnheimbett, sondern hatte eine normal große Federkernmatratze und gewaltige Säulen aus dunklem Massivholz an den Ecken. An der Wand stand eine Kommode, die groß genug war, um vier- oder fünfmal so viel Kleider aufzunehmen, wie Claire je besessen hatte. Und dann noch ein Wandschrank. Und dann noch...

»Ist das ein Fernseher?«, fragte sie mit schwacher Stimme.

»Yeah. Mit Satellitenanschluss. Du müsstest dich jedoch daran beteiligen, es sei denn, du willst ihn nicht im Zimmer haben. Oh, und es gibt auch Internet. Breitband, da drüben. ich sollte dich wohl warnen, sie überwachen nämlich den Internetverkehr hier in der Gegend. Du musst also aufpassen, was du in Mails schreibst und so.« Eve stellte den Rucksack auf die Kommode. »Du musst dich nicht sofort entscheiden. Du solltest dich wohl erst etwas ausruhen. Hier, dein Eisbeutel.« Sie folgte Claire zum Bett, half ihr, die Überwürfe zurückzuschlagen, und als Claire die Schuhe ausgezogen und sich hingelegt hatte, deckte sie sie fest zu, wie eine Mutter, und legte ihr den Eisbeutel auf den Kopf.

»Wenn du aufstehst, wird Michael wahrscheinlich wach sein. Ich muss zurück zur Arbeit, aber das wird schon. Wirklich.« Claire lächelte sie ein wenig benommen an; die Schmerztabletten begannen zu wirken. Sie fröstelte erneut. »Danke, Eve«, sagte sie. Das ist - wow.«

»Nun, du siehst aus, als könntest du heute ein kleines Wow gebrauchen.« Eve zuckte die Achseln und lächelte gewinnend zurück. »Schlaf gut. Und mach dir keine Sorgen, die Vampire kommen hier nicht rein. Das Haus steht unter Schutz, auch wenn wir selbst nicht unter Schutz stehen.«

Claire dachte ein paar Sekunden darüber nach, als Eve den Raum verließ und die Tür zumachte, und dann schweiften ihre Gedanken ab in wohligere Gefilde, in denen sie die Weichheit des Kissens registrierte und wie gut sich das Bett anfühlte und wie frisch und weich die Laken waren...

Sie hatte einen sehr seltsamen Traum: Ein stiller Raum, in dem jemand bleich und still auf einem Samtsofa sitzt, die Seiten eines Buches umblättert und weint. Sie hatte nicht direkt Angst, aber sie fror ab und zu, und das Haus... das Haus schien, als sei es voller Wispern.

Schließlich fiel sie in einen tieferen dunkleren Schlaf und träumte überhaupt nicht mehr.

Nicht mal von Monica.

Nicht mal von Vampiren.