5

 

Claire beobachtete den Zeiger einer alten Wanduhr, der langsam auf die Elf zukroch und dann an ihr vorbeizog. Professor Hamms beginnt seine Unterrichtsstunde, dachte sie und fühlte eine leichte Übelkeit im Magen. Das war der zweite Tag in Folge, an dem sie den Unterricht verpasste. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch keine zwei Schultage hintereinander verpasst. Sie hatte zwar das Lehrbuch schon gelesen - zweimal sogar -, aber Unterricht war wichtig. Dort erfuhr man die wirklich guten Sachen, vor allem in Physik, wo es praktische Versuche gab. Unterricht war der Teil, der Spaß machte.

Es war Donnerstag. Das hieß, dass sie später noch eine Laborstunde hatte. Eine Laborstunde konnte man nicht nachholen, auch wenn man eine gute Entschuldigung hatte. Sie seufzte, zwang sich, den Blick von der Uhr abzuwenden, und öffnete den zweiten Band ihres Mathebuchs - sie hatte bereits die Prüfung für Mathe I abgelegt, hätte auch schon die für Mathe II machen können, aber sie dachte, dass sie vielleicht etwas Neues über die Lösung linearer Ungleichungen lernen könnte, die schon immer ein Problem für sie dargestellt hatten.

»Was zum Henker machst du da eigentlich?« Shane. Er stand auf der Treppe und starrte sie an. Sie hatte ihn nicht kommen hören, wahrscheinlich weil er barfuß war. Seine Haare waren eine Katastrophe. Vielleicht hatte er geschlafen.

»Lernen«, sagte sie.

»Oh«, sagte er, als hätte er noch nie jemanden lernen sehen. »Interessant.« Er sprang über das Geländer, als er noch drei Stufen über dem Boden war, und ließ sich neben ihr auf die Couch plumpsen. Er machte mit der Fernbedienung den Fernseher an und wechselte den Modus. »Stört dich das?“

»Nein«, sagte sie höflich. Das war gelogen, aber sie war noch nicht bereit, so unverblümt zu sein. Es war ihr erster Tag hier.

»Großartig. Möchtest du vielleicht eine Pause machen?“

»Eine Pause?«

»Das ist, wenn du aufhörst, was-auch-immer zu lernen, und etwas tust, das dir Spaß macht« - er neigte den Kopf zur Seite, um einen Blick auf ihr Buch zu werfen. »Das ist dort, wo ich herkomme, so Brauch.« Er ließ etwas, das nach Plastik klang, auf ihr Buch fallen. Sie zuckte zusammen und hob mit spitzen Fingern den kabellosen Controller auf. »Oh, komm schon. Erzähl mir jetzt nicht, du hast noch nie ein Game gespielt.«

Um die Wahrheit zu sagen, sie hatte schon mal gespielt. Ein Mal. Es hatte ihr nicht besonders gefallen. Er musste es an ihrem Gesichtsausdruck gesehen haben, denn er schüttelte den Kopf. »Das ist jetzt aber wirklich traurig. Jetzt musst du eine Pause machen. Du darfst es dir auch aussuchen: Horror, Action, Autorennen oder Krieg.«

»Daraus darf ich auswählen?«, platzte sie heraus.

Er schaute sie beleidigt an. »Möchtest du vielleicht Girl Games? Nicht in meinem Haus. Schon gut, ich such was für dich aus. Hier. Ego-Shooter.« Er zog eine CD-Hülle aus dem Stapel neben der Couch und schob eine CD in das Gerät. »Geht ganz leicht. Alles, was du tun musst, ist abdrücken. Glaub mir, nichts geht über ein bisschen virtuelle Gewalt. Danach fühlt man sich gleich besser.“

»Du spinnst ja.«

»Hey, beweis mir das Gegenteil. Es sei denn, du traust es dir nicht zu.«

Er sah sie nicht an, als er es sagte, aber sie fühlte dennoch einen Stich. »Vielleicht bist du einfach noch nicht so weit.«

Sie schloss Mathe II, nahm den Controller und schaute zu, wie die bunten Grafiken auf den Bildschirm geladen wurden. »Zeig mir, was ich tun muss.«

Er lächelte langsam. »Zielen. Schießen. Versuchen, mir nicht in die Quere zu kommen.«

Er hatte recht. Sie hatte es immer unheimlich gefunden, vor dem Bildschirm herumzuhängen und virtuelle Monster zu töten, aber Mann... es machte einfach Spaß. Zuerst zuckte sie noch zusammen, wenn etwas aus der Bildschirmecke auf sie zugestürzt kam, dann brüllte sie wie Shane, wenn sie einige Monster platt gemacht und dafür Punkte erhalten hatte.

Als das Spiel für sie aus war und der Bildschirm plötzlich einen fauchenden Zombie und rote Spritzer zeigte, fühlte sie sich, als würde ein Eiswürfel ihren Rücken hinuntergleiten.

»Ooops«, sagte Shane und feuerte weiter. »Sorry. Manchmal ist man der Zombie, manchmal das Fressen. Ganz gut für den Anfang, Kid.«

Sie legte die Steuerung auf das Polster der Couch und schaute ihm eine Weile beim Spielen zu. »Shane?«, fragte sie schließlich.

»Moment - verdammt, das war knapp. Was?“

»Wie kamst du eigentlich auf Monicas...«

»Abschussliste?«, half er aus und feuerte ein paar Dutzend Kugeln auf einen hervorstürzenden Zombie ab, der ein Abendkleid trug. »Da gehört nicht viel dazu, es reicht schon, wenn man nicht jedes Mal, wenn sie einen Raum betritt, vor ihr auf Knien rutscht.« Das war, wie sie bemerkte, nicht direkt eine Antwort auf ihre Frage. Nicht direkt.

»Was hast du gemacht?«

»Ich, ähm, hab sie bloßgestellt.«

Er drückte auf einen Knopf, hielt das Spiel mitten in einem Schrei an und wandte sich ihr zu. »Du hast was?«

»Na ja, sie sagte etwas über den Zweiten Weltkrieg und dass die Chinesen darin verwickelt waren, und...«

Shane lachte. Er hatte ein tolles Lachen, laut und voll roher Energie, und sie lächelte nervös zurück. »Du bist mutiger, als du aussiehst, Kompliment!« Er hob eine Hand und sie klatschte ungeschickt darauf. »Oh Mann, das ist ja noch erbärmlicher als die Sache mit dem Game. Noch mal!«

Fünfmal Abklatschen später meisterte sie die High five zu seiner Zufriedenheit und er ließ das Garne weiterlaufen.

»Shane?«, fragte sie.

Dieses Mal seufzte er. »Jaa?«

»Entschuldige, aber - wegen deiner Schwester...«

Stille. Er schaute sie nicht an, gab kein Zeichen, dass er sie gehört hatte. Er tötete einfach weiter Monster.

Darin war er gut.

Claire verließ der Mut. Sie wandte sich wieder ihrem Lehrbuch zu. Irgendwie war es gar nicht mehr so aufregend wie vorher. Nach einer halben Stunde packte sie es weg, stand auf, streckte sich und fragte: »Wann steht Michael auf?“

»Wann er will.« Shane zuckte die Achseln. »Warum?« Er schnitt eine Grimasse und beinahe wäre ihm auf dem Bildschirm der Arm abgerissen worden.

»Ich - ich dachte mir, ich könnte zum Wohnheim zurück und meine Sachen holen.«

Er drückte auf einen Knopf und der Bildschirm stand wieder mitten in einer Feuersalve still. »Was?« Er schenkte ihr seine volle Aufmerksamkeit, weshalb ihr Herz einen Sprung machte und anfing, schneller zu schlagen. Typen wie Shane schenkten kleinen, mausgesichtigen Bücherwürmern wie ihr nicht ihre volle Aufmerksamkeit. Nicht so zumindest.

»Mein Zeug. Aus meinem Wohnheimzimmer.«

»Yeah, das hatte ich beim ersten Mal auch schon verstanden. Dir scheint wohl entgangen zu sein, dass dich die Cops suchen?«

»Na, wenn ich mich einfach zurückmelde«, sagte sie sachlich, »dann wäre ich nicht mehr vermisst. Ich kann immer noch sagen, ich hätte woanders übernachtet. Dann werden sie aufhören, nach mir zu suchen.«

»Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe.«

»Nein, ist es nicht! Wenn sie glauben, ich sei zurück im Wohnheim, werden sie mich Monica überlassen, stimmt's? Es kann ein paar Tage dauern, bis ihr dämmert, dass ich nicht zurückkomme. Sie könnte mich bis dahin vergessen haben.«

»Claire...« Er schaute sie für eine paar Augenblicke ernst an, dann schüttelte er den Kopf. »Auf keinen Fall gehst du allein da rüber.«

»Aber - sie wissen nicht, wo ich bin. Wenn du mitkommst, werden sie dahinterkommen.«

»Und wenn du nicht aus dem Wohnheim zurückkommst, bin ich derjenige, der Michael beibringen muss, dass ich dich hab gehen lassen und dass du wie eine Vollidiotin ins offene Messer gelaufen bist. Erste Horrorfilmregel, C. - immer schön zusammenbleiben.«

»Ich kann mich doch nicht einfach hier verstecken. Ich habe Unterricht!«

»Ist gestrichen.«

»Keine Chance!« Allein der Gedanke daran bereitete ihr Entsetzen. Fast so sehr, wie durchzufallen.

»Claire! Vielleicht hast du es ja immer noch nicht begriffen, du steckst in Schwierigkeiten! Monica war es ernst, als sie dich die Treppe hinuntergeschubst hat. Das war eine ihrer leichtesten Übungen. Nächstes Mal könnte sie vielleicht richtig böse werden.«

Sie stand auf und nahm ihren Rucksack. »Ich gehe jetzt.«

»Dann bist du total bescheuert. Idioten kann man nicht aufhalten«, sagte Shane unverblümt und wandte sich wieder seinem Garne Zu. Er schaute sie nicht noch mal an, als er wieder begann, die Tasten zu bearbeiten und voll Rachegelüste weiterzufeuern. »Verrat ihnen nicht, wo du letzte Nacht warst. Wir wollen keine Scherereien.«

Claire presste verärgert die Kiefer aufeinander und schluckte den bösen Kommentar hinunter, der ihr auf der Zunge gelegen hatte. Dann ging sie in die Küche, um einige Müllsäcke zu holen. Als sie sie gerade in den Rucksack stopfte, hörte sie, wie sich die Eingangstür öffnete und wieder schloss.

»Pest und Cholera über all unsere Häuser!«, brüllte Eve und Claire hörte den silbrigen Ton ihres Schlüsselbunds, als sie ihn auf das Tischchen im Flur fallen ließ. »Lebt hier noch jemand?«

»Ja!«, fuhr Shane sie an. Er klang mindestens so zornig, wie Claire zumute war.

»Verdammt«, antwortete Eve fröhlich. »Und ich hatte so gehofft...«

Claire kam aus der Küche und begegnete Eve auf dem Weg ins Wohnzimmer. Sie trug heute kariert - einen rot-schwarzen Schottenrock, schwarze Netzstrümpfe, klobige Lacklederschuhe mit Totenköpfen auf den Zehen, ein weißes Herrenhemd, Strapse. Und einen bodenlangen schwarzen Ledermantel. Ihre Haare waren mit Bändern, die mit Totenköpfen gemustert waren, zu zwei Rattenschwänzen zusammengefasst. Sie roch nach... Kaffee. Frisch gemahlen. Vorne auf dem Hemd hatte sie einige braune Spritzer.

»Oh, hey, Claire«, sagte sie und blinzelte. »Wohin?“

»Beerdigung«, sagte Shane. Auf dem Bildschirm kreischte ein Zombie und starb eines grausamen Todes.

»Yeah? Cool! Wessen?«

»Ihre eigene«, sagte Shane.

Eves Augen weiteten sich. »Claire - gehst du zurück?«

»Nur um ein paar Sachen zu holen. Ich denke, ich werde alle paar Tage dort aufkreuzen, mich sehen lassen, sodass sie denken, dass ich immer noch dort wohne...«

»Whoa, whoa, whoa, schlechte Idee. Ganz schlechte Idee. Nein, Süße. Du kannst nicht zurück. Nicht allein jedenfalls.“

»Warum nicht?«

»Die warten doch bloß auf dich!«

Shane stellte das Spiel wieder auf Pause. »Glaubst du, ich hätte ihr das nicht längst gesagt? Sie hört ja nicht auf mich.“

»Und du hättest sie jetzt einfach so gehen lassen?“

»Ich bin schließlich nicht ihre Mom.“

»Wie wär's mit einfach ein Freund?«

Er warf ihr einen Blick zu, der bedeutete, dass sie einfach mal die Klappe halten sollte. Eve starrte zurück und schaute dann Claire an. »Mal im Ernst. Du kannst nicht einfach - das ist gefährlich. Du hast ja keine Ahnung. Wenn Monica wirklich zu ihrem Schutzpatron gegangen ist und dich angezeigt hat, kannst du nicht einfach so hereinspazieren, weißt du?“

»Ich spaziere nicht herum«, betonte Claire. »Ich gehe in mein Wohnheimzimmer, hole ein paar Klamotten, gehe zum Unterricht und komme nach Hause.“

»Zum Unterricht?« Eve fuchtelte hilflos mit ihren schwarz lackierten Fingernägeln. »Nein, nein, nein! Kein Unterricht, machst du Witze?«

Shane hob den Arm. »Hallo? Genau das hab ich doch auch schon gesagt.«

»Wie auch immer«, sagte Claire, drängte sich an Eve vorbei und ging den Gang entlang zur Eingangstür. Sie hörte Shane und Eve wie wild miteinander flüstern, zögerte aber nicht.

Wenn sie zögerte, würde sie der Mut verlassen.

Es war kurz nach Mittag. Genug Zeit, zum College zu kommen, den restlichen Unterricht mitzumachen, ein paar Kleider in einen Müllsack zu stopfen, genug Leuten Hallo zu sagen, um alles ins rechte Licht zu rücken, und, bevor es dunkel wurde, wieder zu Hause zu sein. Und nach Einbruch der Dunkelheit wurde es erst gefährlich, oder? Wenn sie das mit den Vampiren wirklich ernst meinten.

Sie hatte schon begonnen, dem ein winziges bisschen Glauben zu schenken.

Sie öffnete die Eingangstür, ging hinaus, schloss sie hinter sich und trat hinaus auf die Veranda. Die Luft roch von der Hitze stark und spröde. Eve muss das Blut in den Adern gekocht haben in ihrem Mantel; die heiße Luft flimmerte über dem Beton des Gehwegs und die Sonne stand als blasser weißer Fleck am Himmel, der das Blau von verwaschenen Jeans hatte.

Sie war schon halbwegs am Gehweg, wo Eves Riesenschlitten parkte, als die Tür hinter ihr zufiel.

»Warte«, platzte Eve heraus und eilte auf sie zu, wobei der Ledermantel hinter ihr im heißen Wind flatterte. »Ich kann das nicht zulassen.«

Claire ging weiter. Die Sonne brannte auf die Wunde an ihrem Kopf und auf ihre Prellungen. Ihr Knöchel tat immer noch weh, aber nicht so sehr, dass er sie besonders quälte. Sie würde nur ein bisschen vorsichtig sein müssen.

Eve flitzte um sie herum, sodass sie ihr gegenüberstand, und tänzelte rückwärts, als Claire unbeirrt weiterging. »Im Ernst. Das ist bescheuert, Claire, du kommst mir nicht wie jemand vor, der Todessehnsucht hat. Ich meine, ich habe Todessehnsucht, ich weiß, wovon ich rede - okay stopp! Stopp mal!« Sie streckte ihre Hand aus, Handfläche nach vorne, und Claire hielt nur wenige Zentimeter davon entfernt an. »Du wirst gehen, so viel habe ich begriffen. Lass mich dich wenigstens fahren. Du solltest nicht zu Fuß gehen. Dann kann ich Shane anrufen, falls - falls etwas passiert. Und wenigstens hast du dann jemanden an deiner Seite.«

»Ich will euch nicht in Schwierigkeiten bringen.«

Michael war in Bezug darauf sehr deutlich geworden.

»Deshalb kommt Shane ja nicht mit. Er - nun ja, er zieht Probleme an wie der Fernsehbildschirm den Staub. Außerdem ist es besser, ihn nicht in Monicas Nähe zu bringen. Was alles passieren könnte!« Eve schloss die Autotüren auf. »Du musst ›Erster‹ rufen.“

»Was?«

»Du musst ›Erster‹ rufen, damit du den Beifahrersitz kriegst.“

»Aber es ist sonst niemand...«

»Ich sag's nur, damit du dich daran gewöhnst, denn wenn Shane dabei wäre, hätte er jetzt schon den Beifahrersitz und du müsstest hinten sitzen.«

»Hm...« Claire kam sich sogar beim Versuch, es zu sagen, blöd vor.

»Erster?«

»Üb weiter. Man muss schnell am Drücker sein hier in der Gegend.«

Das Auto hatte glatte Vinylsitze, die rissig waren und abblätterten, die Sicherheitsgurte waren Restposten, die nicht besonders sicher aussahen. Claire versuchte, nicht zu sehr auf den Polstern herumzurutschen, als das große Auto über die schmale, unebene Straße holperte. Die Läden sahen so düster und uneinladend aus, die Fußgänger waren so vornübergebeugt, wie Claire sie in Erinnerung behalten hatte.

»Eve?«, fragte sie. »Warum bleiben die Menschen hier? Warum gehen sie nicht einfach weg? Wenn doch, du weißt schon... Vampire.«

»Gute Frage«, sagte Eve. »Die Leute sind da ein bisschen komisch. Die Erwachsenen zumindest. Kids raffen sich ständig auf und gehen weg, aber die Erwachsenen sind festgefahren. Häuser. Autos. Jobs. Kids. Sobald du etwas besitzt, ist es für die Vampire leicht, dich an die kurze Leine zu nehmen. Es braucht einiges, damit die Menschen alles hinschmeißen und abhauen. Vor allem, wenn sie wissen, dass sie nicht mehr lang am Leben sind, wenn sie das tun. Oh, shit, runter mit dir!«

Claire löste ihren Sicherheitsgurt und glitt hinunter in den dunklen Raum unter dem Armaturenbrett. Sie zögerte nicht, weil Eve keinen Witz gemacht hatte - in ihrer Stimme schwang reine Panik mit. »Was ist los?« Sie traute sich kaum zu flüstern. »Polizeiauto«, sagte Eve, ohne die Lippen zu bewegen. »Kommt direkt auf uns zu. Bleib unten.«

Sie blieb unten. Eve trommelte nervös mit den Fingernägeln auf das harte Lenkrad und stieß dann einen Seufzer aus. »Okay, sie sind weg. Bleib aber noch unten. Sie könnten zurückkommen.«

Claire gehorchte und stemmte sich gegen die Straßenunebenheiten, als Eve in Richtung Campus fuhr. Ein bis zwei weitere Minuten vergingen, ehe Eve signalisierte, dass die Luft rein sei; sie ließ sich auf ihren Sitz sinken und schnallte sich an.

»Das war knapp«, sagte Eve.

»Was ist, wenn sie mich gesehen haben?«

»Erst einmal hätten sie mich wegen Einmischung auf die Polizeiwache geschleift, mein Auto konfisziert...« Eve tätschelte entschuldigend das Lenkrad. »Und du wärst einfach verschwunden.«

»Aber...«

»Glaub mir. Die, die so etwas machen, sind keine Amateure. Also, bringen wir das hier hinter uns und hoffen, dass dein Plan funktioniert, okay?«

Eve steuerte langsam durch die Masse der Studenten, die auf den Straßen unterwegs zum Mittagessen waren, machte eine Kehrtwendung und folgte Claires Wegbeschreibung zum Wohnheim.

Howard Hall sah heute auch nicht hübscher aus als gestern. Der Parkplatz war nur halb voll und Eve manövrierte den großen Caddy in eine Parklücke an der Rückseite. Sie drehte den Zündschlüssel und blinzelte in das Sonnenlicht, das auf der Motorhaube gleißte. »Okay«, sagte sie. »Du gehst rein, holst deinen Krempel und bist in fünfzehn Minuten wieder da, sonst starte ich die Operation ›Holt Claire da raus‹.

Claire nickte. Sie hatte überhaupt kein gutes Gefühl mehr, was ihren Plan betraf, als sie so auf die Eingangstür starrte.

»Hier«, sagte Eve und hielt ihr etwas hin. Es war ein dünnes, glattes Handy. »Shanes Nummer ist auf Kurzwahl eingestellt, drück einfach auf Sternchen zwei. Und denk daran, fünfzehn Minuten, danach flippe ich aus und benehme mich wie deine Mom. Okay?«

Claire nahm das Handy und ließ es in ihre Tasche gleiten. »Bin gleich wieder da.«

Sie hoffte, dass sie nicht ängstlich geklungen hatte. Nicht zu ängstlich zumindest. Freunde zu haben - selbst wenn sie noch brandneu waren - half ihr zu verhindern, dass ihre Stimme zitterte und ihre Hände bebten. Ich bin nicht allein. Ich habe Beistand. Das war ein ganz neues Gefühl. Und ein schönes obendrein.

Sie stieg aus dem Auto, winkte Eve, die den Gruß erwiderte, unbeholfen zu, dann drehte sie sich um, um in die Hölle zurückzukehren.