14

 

Am nächsten Morgen war von Shane keine Spur zu sehen, aber sie stand auch sehr früh auf - schon kurz nachdem sich Michael in Luft aufgelöst haben musste. Sie duschte und nahm zum Frühstück ein paar Kekse aus dem Schrank, wusch das Geschirr ab, das sie nach der elterlichen Abendessens-Katastrophe am Vortag einfach nur in die Spüle gestellt hatten - wäre das nicht Michaels Job gewesen? -, und packte ihren Rucksack aus. Danach verstaute sie darin die Bibel mit dem verborgenen Geheimnis und den Metallkanister, den sie ins Chemielabor zurückbringen wollte, sodass er nur ausgeliehen und nicht gestohlen war.

Dann dachte sie: Fehlte nur noch, dass sie mir das Buch klauen. Deshalb packte sie es wieder aus und zwängte es im Regal zwischen Band 10 einer Enzyklopädie und einen Roman, von dem sie noch nie zuvor gehört hatte. Dann ging sie nach draußen, schloss die Tür zu und machte sich auf den Weg zum College. Im Chemielabor war viel los, als sie in der Pause zwischen zwei Stunden dort ankam, deshalb war es nicht schwer, in den Materialraum zu schlüpfen und den Kanister zurück an seinen Platz zu stellen. Sie wischte alles, worauf sie ihre Fingerabdrücke hinterlassen haben konnte, sorgfältig ab. Nachdem sie das erledigt hatte, hetzte sie ins Sekretariat, um ihre Unterlagen für die Abmeldung vom College abzugeben. Niemand schien überrascht. Sie nahm an, dass sich eine Menge Leute abmeldeten. Oder einfach verschwanden.

Es war Mittag, als sie sich auf den Weg zum Common Grounds machte. Eve war gerade angekommen, sie gähnte und sah übernächtigt aus; sie war überrascht, als sie Claire sah, und brachte ihr eine Tasse Tee. »Ich dachte, du sollst das Haus nicht verlassen«, sagte sie. »Michael und Shane sagten...“

»Ich muss mit Oliver sprechen«, sagte Claire.

»Er ist hinten«, antwortete Eve. »In seinem Büro. Claire? Stimmt was nicht?«

»Nein«, sagte sie. »Ich glaube nur, dass es Zeit ist, etwas zu verändern.«

Die Tür, auf der Büro stand, war geschlossen. Sie klopfte, und als sie Olivers warme Stimme herein rufen hörte, trat sie ein. Er saß hinter einem kleinen Tisch in einem sehr kleinen, fensterlosen Zimmer; der Computer vor ihm war an. Er lächelte sie an und stand auf, um ihr die Hand zu geben. »Claire«, sagte er. »Schön zu sehen, dass du in Sicherheit bist. Ich hörte, es gab einige... Unannehmlichkeiten.«

Oliver trug ein gebatiktes Grateful-Dead-T-Shirt und Jeans mit abgeschossenen Flicken auf den Knien - weniger um stylisch zu sein, sondern eher, weil die Jeans Löcher hatte, wie sie annahm. Er sah müde und besorgt aus und plötzlich fiel ihr auf, dass er etwas an sich hatte, das Michael sehr ähnelte. Außer dass er tagsüber da war, natürlich, und nachts auch; er konnte also kein Geist sein. Oder doch?

»Brandon ist ganz und gar nicht glücklich«, sagte er. »Ich fürchte, es wird zu einer Vergeltungsmaßnahme kommen. Brandon schlägt gern indirekt zu, nicht von Angesicht zu Angesicht, deshalb passt du am besten auch gut auf deine Freunde auf. Und auf Eve natürlich. Ich habe ihr schon geraten, besonders vorsichtig zu sein.«

Sie nickte und das Herz rutschte ihr in die Hose. »Hmm… was, wenn ich etwas zum Tausch anbieten könnte?«

Oliver setzte sich und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Was für ein Tausch? Und mit wem?«

»Ich - etwas Wichtiges. Ich möchte nicht näher darauf eingehen.«

»Ich fürchte, das musst du, wenn ich als eine Art Vermittler für dich auftreten soll. Ich kann keine Geschäfte machen, wenn ich nicht weiß, was ich bieten kann.«

Ihr wurde bewusst, dass sie noch immer ihre Teetasse in der Hand hielt, und sie stellte sie auf die Schreibtischecke. »Ähm... ich würde das lieber selbst tun. Ich weiß nur nicht, an wen ich mich wenden soll. Wer immer Brandon herumkommandieren kann, denke ich, oder jemand, der noch eine Stufe höher steht.«

»Es gibt eine soziale Ordnung in der Vampir-Community«, stimmte Oliver zu. »Brandon steht nicht weit oben. Es gibt zwei Fraktionen, musst du wissen. Brandon gehört zu einer davon - zur dunkleren Seite, könnte man wohl sagen. Es hängt vom Standpunkt ab. Aus der Perspektive der Menschen hat keine der beiden Fraktionen unbedingt eine weiße Weste.« Er zuckte die Achseln. »Ich kann dir helfen, wenn du mich lässt. Glaub mir, du wirst bestimmt nicht versuchen wollen, diese Leute selbst zu kontaktieren. Und ich bin mir nicht sicher, ob sie dir das überhaupt erlauben würden.«

Sie biss sich auf die Lippen und dachte daran, was ihr Michael über Deals in Morganville gesagt hatte. Sie war darin nicht gut und sie wusste das. Und sie kannte die Spielregeln nicht.

Oliver kannte sie, sonst wäre er längst tot. Außerdem war er Eves Chef und sie mochte ihn. Außerdem hatte er Brandon schon mindestens zweimal davon abhalten können, sie zu beißen. Und das sollte etwas heißen.

»Okay«, sagte sie. »Ich habe das Buch.«

Olivers graue Augenbrauen bildeten eine gerade Linie. »Das Buch?«

»Du weißt schon. Das Buch

»Claire«, sagte er langsam. »Ich hoffe, du weißt, was du da sagst. Denn du darfst dir dabei keinen Fehler erlauben und du darfst auf keinen Fall lügen. Wenn du bluffst, wirst du sterben und alle deine Freunde ebenso. Gnadenlos. Andere haben es schon versucht, haben Fälschungen abgegeben oder nur so getan, als hätten sie es, und sind dann geflohen. Sie starben alle. Jeder Einzelne. Verstehst du?«

Sie schluckte erneut verkrampft. Ihr Mund fühlte sich trocken an. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie sie sich letzte Nacht gefühlt hatte, so warm und voller Licht, aber der Tag war kalt, knallhart und beängstigend. Und Shane war nicht hier. »Ja«, flüsterte sie. »Ich verstehe. Aber ich habe es und ich glaube nicht, dass es eine Fälschung ist. Und ich bin bereit, es einzutauschen.«

Oliver zwinkerte nicht. Sie versuchte wegzuschauen, aber er hatte etwas Hartes und Forderndes an sich, und sie fühlte, wie ihre Angst rasch zunahm. »Also gut«, sagte er. »Aber du kannst das nicht selbst durchziehen. Du bist zu jung und zu verwundbar. Ich erledige das für dich, aber ich brauche einen Beweis.“

»Was für einen Beweis?«

»Ich muss das Buch sehen. Mach zumindest Bilder vom Umschlag und von einer der Seiten, um zu beweisen, dass es das Richtige ist.«

»Ich dachte, Vampire können es nicht lesen,«

»Können sie auch nicht, zumindest der Legende nach. Es liegt an dem Symbol. Wie die Schutzsymbole hat es Eigenschaften, die Menschen nicht wirklich verstehen können. In diesem Fall verwirrt es die Sinne der Vampire. Nur Menschen können die Worte darin lesen - aber ein Foto hebt die Verwirrung auf, und auch Vampire können das Symbol als das, was es ist, erkennen. Wunderwelt der Technik.«

Er warf einen Blick auf die Uhr. »Ich habe heute Nachmittag einen Termin, den ich nicht verschieben kann. Ich komme heute Abend zu dir nach Hause, wenn das in Ordnung ist. Ich hätte gern die Gelegenheit, auch mit Shane und Eve zu sprechen. Und mit dem anderen Freund, den ich hier noch nie gesehen habe - Michael, oder? Michael Glass?«

Sie nickte wie in Trance; sie war ein wenig nervös, aber sie war sich nicht sicher, weshalb. Es war okay, oder? Oliver gehörte zu den Guten.

Und sie hatte keine Ahnung, an wen sie sich sonst wenden könnte, nicht in Morganville. Brandon? Na wunderbar. Klasse Option.

»Heute Abend«, wiederholte sie. »Alles klar.«

Sie stand auf und ging hinaus; ihr war seltsam kalt.

Eve schaute auf, runzelte die Stirn und versuchte, ihr zu folgen, aber Leute drängten sich um die Kaffeebar und Claire eilte zur Tür und entwischte, bevor Eve sie einholen konnte. Sie wollte nicht darüber sprechen. Ihr war ganz übel, weil sie sich plötzlich sicher war, einen gewaltigen Fehler gemacht zu haben, aber sie wusste nicht, wie oder warum.

Sie war so in diesen Gedanken vertieft, mit ihrem eigenen Kopf beschäftigt und von der Sicherheit der heißen Sonne und den Menschen auf der Straße eingelullt, dass sie vergaß, dass in Morganville nicht nur nachts Gefahren lauerten. Das erste Warnsignal, das sie erhielt, war das tiefe Brummen eines Motors; dann wurde sie von den Füßen gerissen und taumelte gegen den sonnenerhitzten Lack einer Lieferwagentür, die zur Seite glitt.

Von der einen Seite wurde sie geschoben, von der anderen gezogen und sie konnte gerade noch aufschreien, bevor sie im Inneren des Lieferwagens landete, wo sich mehrere Leute auf sie warfen; die Tür fiel zu und das Sonnenlicht erlosch. Sie schlitterte über den mit Teppich ausgelegten Boden, als der Wagen beschleunigte, und hörte Johlen und Gelächter.

Das Gelächter von Mädchen.

Jemand kniete auf ihrer Brust, sodass sie kaum noch atmen konnte; sie wand sich und versuchte, sie abzuschütteln, aber es klappte nicht. Als sie blinzelte, weil sie Sternchen sah, erkannte sie, dass es Gina war, die auf ihr kniete. Ihr Make-up war frisch aufgetragen und sie war perfekt durchgestylt, wenn man mal von dem fiesen Funkeln in ihren Augen absah. Monica kniete neben ihr mit einem angespannten, grausamen kleinen Lächeln im Gesicht. Jennifer saß am Steuer. Es waren auch noch einige andere Mädels in dem Lieferwagen, an die sie sich von der Begegnung im Wohnheimkeller erinnerte. Monica warb also noch immer Mitglieder und diese beiden schienen den Sprung in die Psycho-Schule für Fortgeschrittene geschafft zu haben.

»Runter von mir!«, schrie Claire und versuchte, nach Gina zu schlagen; Monica packte ihre Hände und riss sie mit einem schmerzhaften Ruck über ihren Kopf. »Geh runter, Miststück!« Monica versetzte ihr einen Hieb in den Magen, sodass das letzte bisschen Luft aus Claires Körper wich und sie nach Atem rang. Ginas Gewicht machte es unglaublich schwierig zu atmen. Konnte man auf diese Weise jemanden umbringen? Jemanden ersticken? Vielleicht, wenn das Opfer klein war... wie sie...

Der Lieferwagen hielt nicht an und brachte sie immer weiter von jeglicher Sicherheit fort.

»Du«, sagte Monica, während sie sich über sie beugte. »Ich bin ziemlich sauer auf dich, Freak. Ich vergesse niemals etwas und mein Freund auch nicht.«

»Brandon?«, schnaufte Claire. »Himmel, hast du keinen abgekriegt, dessen Herz wenigstens schlägt?«

Dafür traf sie ein weiterer Schlag und dieses Mal tat es so weh, dass sie anfing, wütend und hilflos zu weinen. Gina legte ihr eine Hand um den Hals und begann zuzudrücken. Nicht stark genug, um sie zu töten, aber gerade genug, dass es wehtat und es noch schwieriger machte, ein wenig kostbare Luft einzuatmen. Sie konnten dies noch Stunden mit ihr machen, wenn sie wollten. Aber Claire glaubte, dass sie noch viel mehr auf Lager hatten.

Und tatsächlich griff Monica in ihre Tasche und zauberte ein Feuerzeug hervor; eines dieser Butanfeuerzeuge mit langer greller Flamme. Sie hielt es nahe an Claires Gesicht: »Wir veranstalten ein Barbecue«, sagte sie. »Roast Freak. Wenn du das überlebst, wirst du eine üble Fratze haben. Aber mach dir keine Sorgen, wahrscheinlich wirst du es sowieso nicht überleben.«

Claire schrie aus vollem Halse, was nicht viel hergab; aber Monica zuckte zusammen und Jennifer, die am Steuer saß, jagte es einen Schreck ein; sie wandte sich um und drehte dabei das Lenkrad.

Das war ein Fehler.

Der Lieferwagen schlingerte nach rechts und knallte in etwas Solides. Claire flog durch die Luft, Gina flog mit ihr wie auf einem fliegenden Teppich; sie krachten in die gepolsterte Rückseite der Sitze und Monica und Gina kullerten durcheinander, als der Wagen schlitternd zum Stehen kam.

Claire schüttelte ihre Panik ab, stürzte zur Tür und sprang hinaus. Der Lieferwagen war von hinten auf ein anderes Auto aufgefahren, das an der Seite parkte, und Alarmanlagen gingen an. Sie fühlte sich benommen und wäre fast hingefallen, dann hörte sie Monicas wütendes Brüllen hinter sich. Es brachte sie rasch dazu, sich zusammenzureißen. Sie rannte los.

Dieser Teil der Innenstadt war nahezu verlassen - die Läden waren geschlossen, nur wenige Fußgänger waren auf der Straße. Keiner von ihnen sah sie auch nur an.

»Hilfe!«, schrie sie und fuchtelte mit den Armen. »Helfen Sie mir! Bitte...«

Sie gingen alle weiter, als sei sie unsichtbar. Sie schluchzte einen Augenblick vor Verzweiflung auf, dann jagte sie um die Ecke und hielt schlitternd an.

Eine Kirche! Sie hatte während ihres gesamten Aufenthalts in Morganville keine einzige gesehen und hier war nun eine. Sie war nicht groß - ein bescheidenes weißes Gebäude mit einem kleinen Kirchturm. Ein Kreuz war nirgends zu sehen, aber es war zweifellos eine Kirche.

Sie rannte über die Straße, die Treppe hoch und warf sich gegen die Tür.

Und prallte ab. Sie war verschlossen.

»Nein!«, schrie sie und rüttelte an der Tür. »Nein, komm schon, bitte!«

Auf dem Schild an der Tür stand, dass die Kirche von Sonnenaufgang bis Mitternacht geöffnet sei. Was Zum Henker...?

Sie wagte nicht, lang nachzudenken. Sie sprang die Treppe hinunter und rannte an der Seite entlang nach hinten. Neben dem Müllcontainer befand sich eine schwarze Tür mit einem Glasfenster. Sie war ebenfalls verschlossen. Sie schaute sich um und entdeckte ein Stück Holz; sie nahm es und schwang es wie einen Baseballschläger.

Es krachte.

Sie verschrammte sich den Arm, als sie durch das zerbrochene Fenster nach dem Schloss tastete, aber sie schaffte es, und kurze Zeit später knallte sie die Tür hinter sich zu. Sie schloss ab, schaute sich hektisch um und fand ein Stück schwarze Pappe, das sie in die leere Fensterfläche klemmte. Mit etwas Glück würde es bei oberflächlichem Hinschauen nicht auffallen.

Sie schwitzte, weil sie gerannt war, und durch den Aufprall tat ihr alles weh; sie trat zurück und drehte sich um, um in die Kapelle zu gehen. Es handelte sich zweifellos um eine Kapelle mit den abstrakten Buntglasfenstern und den langen schimmernden Bankreihen aus Holz, aber es gab kein Kreuz, kein Kruzifix, keinerlei Symbole. Die ultimative Unitarierkirche, schätzte sie. Wenigstens war sie leer.

Claire ließ sich auf halber Strecke zum Altarraum auf eine der Bänke sinken und streckte sich in voller Länge auf der roten Samtpolsterung aus. Ihr Herz schlug schnell, es raste förmlich, und sie hatte noch immer entsetzliche Angst.

Niemand wusste, wo sie war. Und wenn sie versuchte zu gehen, könnte Monica...

Sie wollten mich bei lebendigem Leibe verbrennen.

Sie schauderte, wischte sich Tränen von den Wangen und versuchte nachzudenken, sich irgendetwas auszudenken, wie sie hier wieder herauskam. Vielleicht gab es hier ein Telefon. Sie könnte Eve oder Shane anrufen. Beide, beschloss sie. Eve wegen des Autos und Shane, weil er ihren Bodyguard spielen sollte. Armer Shane. Er hatte recht, sie sollte wirklich damit aufhören, ihn jedes Mal anzurufen, wenn sie brachiale Gewalt brauchte. Das schien irgendwie nicht fair.

Claire erstarrte und konnte sich nicht mehr rühren, als sie ein leises Geräusch in der Kapelle vernahm. Ein bloßes Wispern, als würde sich Stoff bewegen. Bestimmt nur ein Vorhang, der sich im Luftzug der Klimaanlage aufbauschte. Oder...?

»Guten Tag«, sagte die sehr blasse Frau, die sich über die Bank lehnte und auf sie hinunterschaute. »Du bist Claire, nehme ich an.«

***

Als der lähmende Schreck ein wenig nachgelassen hatte, konnte Claire sie schließlich einordnen. Sie wusste, sie hatte sie schon einmal gesehen, nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber dies war die Frau - die Vampirin -, die nach Ladenschluss von ihrer Limousine am Common Grounds abgesetzt worden war.

Was hatte sie in einer Kirche zu suchen?

Claire setzte sich langsam auf, unfähig, die Augen von der Frau abzuwenden, die leicht lächelte. Sanftes Licht sickerte durch die Buntglasfenster und verlieh ihr einen goldenen Schimmer. »Ich bin dir gefolgt«, sagte die Frau. »Aber um die Wahrheit zu sagen, mag ich diese Kirche auch ein wenig. Sie ist so friedlich, findest du nicht? Ein heiliger Ort. Einer, der denjenigen, die sich darin befinden, eine gewisse... Immunität gegen Gefahren verleiht.«

Claire leckte sich die Lippen ab; sie schmeckten salzig nach Schweiß und Tränen. »Sie meinen, Sie werden mich hier drin nicht umbringen.«

Die Frau hörte nicht auf zu lächeln. Vielleicht wurde ihr Lächeln sogar noch etwas breiter. »Genau das meine ich, Schätzchen. Dasselbe gilt natürlich für meine Leibwächter. Ich kann dir versichern, dass sie da sind. Ich werde niemals allein gelassen. Das ist Teil des Fluchs, den meine Position mit sich bringt.« Sie lächelte und neigte elegant ihren Kopf. Alles an ihr war elegant, von ihrem schimmernden Haar, das wie eine goldene Krone ihren Kopf zierte, bis hin zu ihren Kleidern. Claire hatte keinen Blick für Mode, es sei denn, sie wurde von Mädels getragen, die sie grün und blau prügelten, aber dieses Outfit sah aus wie etwas, das Leute auf sehr alten, gestellten Fotos aus der Zeit ihrer Mutter trugen. Oder aus der ihrer Großmutter.

»Ich heiße Amelie«, fuhr die Frau fort. »In gewisser Hinsicht kennst du mich schon, auch wenn dir das vielleicht nicht bewusst ist. Bitte, mein Kind, schau mich nicht so verängstigt an. Ich versichere dir, dass von mir absolut keine Gefahr für dich ausgeht. Ich warne immer sehr deutlich, bevor ich Gewalt anwende.«

Claire hatte keine Ahnung, wie sie es anstellen sollte, weniger verängstigt auszusehen, aber sie verschränkte ihre Hände im Schoß, damit sie aufhörten zu zittern. Amelie seufzte.

»Du bist sehr neu in unserer Stadt«, sagte sie, »aber ich hab noch niemanden kennengelernt, der in so kurzer Zeit in so viele Wespennester gestochen hat. Erst Monica, dann Brandon und dann kommt mir zu Ohren, dass du den guten alten Oliver um Rat ersucht hast... und jetzt sehe ich dich auf meinen Straßen um dein Leben rennen... Nun, ich finde, du bist eine interessante Person. Du machst mich neugierig, Claire. Wer bist du? Warum bist du so?«

»Ich bin - niemand«, sagte Claire. »Und ich verlasse die Stadt. Meine Eltern nehmen mich vom College.« Plötzlich schien ihr das eine großartige Idee. Sie sah es nicht mehr als Flucht, sondern eher als Rückzug.

»Wirklich? Na ja, wir werden ja sehen.« Bei Amelie sah ein Schulterzucken wie eine fremdartige Bewegung aus. »Weißt du, wer ich bin?«

»Jemand Wichtiges.«

»Ja. Jemand sehr Wichtiges.« Amelies Augen sahen im dämmrigen Licht unbewegt aus, sie hatten keine richtige Farbe - Grau vielleicht? Oder Blau? Es war nicht die Farbe, die ihnen Macht verlieh. »Ich bin der älteste Vampir der Welt, meine Liebe. In gewissem Sinne bin ich der einzige Vampir, der zählt.« Sie sagte das ohne besonderen Stolz. »Natürlich mögen manche anderer Meinung sein. Aber sie täuschen sich auf traurige und fatale Weise.“

»Ich - ich verstehe nicht«

»Das erwarte ich auch nicht.« Amelie beugte sich vor und legte hagere, elegante weiße Hände auf die Holzbank vor sich und ließ ihr spitzes Kinn darauf ruhen. »Irgendwie bist du in unsere Suche nach dem Buch hineingeraten. Ich glaube, du weißt, welches ich meine.«

»Ich - ähm - ja.« Auf gar keinen Fall würde sie zugeben, was bei ihr zu Hause lag. Sie hatte diesen Fehler bereits einmal gemacht. »Ich meine, ich weiß, dass die...«

»Vampire«, half ihr Amelie aus. »Es ist kein Geheimnis, meine Liebe.«

»...dass die Vampire danach suchen.«

»Und du bist also rein zufällig in das Verfahren in der Bibliothek hineingestolpert, in dem wir die Bücher nach diesem einen durchkämmen.«

Claire blinzelte. »Gehört es Ihnen?«

»In gewisser Weise. Sagen wir mal, es gehört mir so sehr wie es jedem anderen gehört, der heute lebt. Wenn ich, streng genommen, überhaupt am Leben bin. Man sagte früher untot, weißt du, aber sind nicht alle lebendigen Dinge untot? Ich hasse Unpräzision. Ich nehme an, das haben wir gemeinsam, junge Frau.« Amelie neigte den Kopf ein wenig zur Seite. Das erinnerte Claire mit einem Frösteln an eine Naturdokumentation. Eine Gottesanbeterin betrachtet ihr künftiges Essen. »Vampir ist ein solch altes Wort. Ich sollte die Universität beauftragen, einen anderen Begriff zu finden, ein - wie sagt man heute? - benutzerfreundlicheres Wort für das, was wir sind.“

»Ich - was wollen Sie von mir?«, brach es aus Claire heraus. Dann entschuldigte sie sich lächerlicherweise sofort dafür, da sie wusste, dass es unhöflich geklungen hatte. Die Vampirin flößte ihr zwar Angst ein, aber sie war nicht unhöflich gewesen.

»Schon gut. Du stehst unter großem Druck, deshalb verzeihe ich dir diesen Verstoß gegen die guten Manieren. Alles, was ich von dir will, mein Kind, ist die Wahrheit. Ich möchte wissen, was du über das Buch herausgefunden hast.“

»Ich - hm, nichts.«

Es folgte ein langes Schweigen. Währenddessen hörte Claire entfernte Geräusche - jemand riss an der Vordertür der Kirche.

»Das ist bedauernswert«, sagte Amelie ruhig. »Ich hatte gehofft, ich könnte dir helfen. Scheinbar gelingt mir das nicht.“

»Ähm - das war's? Das ist alles?«

»Ich fürchte, ja.« Amelie setzte sich wieder, die Hände im Schoß gefaltet. »Geh, wie du gekommen bist. Ich wünsche dir viel Glück, meine Liebe. Du wirst es brauchen. Das sterbliche Leben ist unglücklicherweise sehr zerbrechlich und äußerst kurz. Deines könnte noch kürzer sein als normal.“

»Aber...«

»Ich kann dir nicht helfen, wenn du mir nichts dafür bieten kannst. Es gibt Gesetze in Morganville. Ich kann nicht einfach Streuner aufnehmen, nur weil sie einnehmend sind. Leb wohl, kleine Claire. Viel Glück.«

Claire hatte keine Ahnung, wie sie dieses ›einnehmend‹ meinte, aber sie verstand die Botschaft. Was immer das für eine Tür war, die hier geöffnet worden war, zu guten oder zu schlimmen Dingen, sie wurde ihr jetzt vor der Nase zugeschlagen. Sie stand auf und fragte sich, was sie jetzt sagen sollte; sie beschloss, dass es das Beste wäre, überhaupt nichts zu sagen...

...und sie hörte, wie die Hintertür mit einem Krachen geöffnet wurde.

»Oh, shit«, flüsterte sie. Amelie schaute sie vorwurfsvoll an. »Entschuldigung.«

»Wir sind in einem Gotteshaus«, sagte sie streng. »Also wirklich, hat eurer Generation denn gar niemand Manieren beigebracht?«

Claire duckte sich hinter einer Kirchenbank. Sie hörte schnelle Schritte und dann Monicas Stimme: »Tut mir leid, Ma'am! Ich wusste nicht, dass Sie hier sind...“

»Aber ich bin hier«, sagte Amelie kühl. »Morrell, oder? Ich kann euch nie auseinanderhalten.«

»Monica.«

»Wie reizend.« Amelies Stimme wechselte von kühl zu eiskalt. »Ich muss Sie bitten zu gehen, Miss Morrell. Sie gehören nicht hierhin. Mein Siegel ist auf diesem Ort. Sie kennen die Regeln.«

»Es tut mir leid, Ma'am. Ich dachte nicht...«

»Du denkst häufig nicht, scheint mir. Geh jetzt.“

»Aber - da ist dieses Mädchen - ist sie...«

»Amelies Stimme zischte jetzt wie Eisregen auf einer Fensterscheibe. »Soll das etwa ein Verhör werden?“

»Nein! Nein, es tut mir aufrichtig leid, Ma'am, es wird nicht wieder vorkommen, es tut mir leid...« Monicas Stimme erstarb. Sie zog sich zurück, den Gang hinunter. Claire blieb zitternd, wo sie war.

Beinahe hätte sie angefangen zu schreien, als Amelies blasse Gestalt sich wieder über der Kirchenbank erhob und auf sie herunter starrte. Sie hatte nicht gehört, dass sie sich bewegt hatte. Überhaupt nicht.

»Ich würde vorschlagen, du gehst jetzt schnell nach Hause, kleine Claire«, sagte Amelie. »Ich würde dich dort absetzen, aber das würde mehr beinhalten, als ich mir im Moment leisten kann. Lauf, ]auf nach Hause. Beeil dich. Und - wenn du mich wegen des Buchs belogen hast, dann denk daran, dass viele Leute aus vielen Gründen gern so etwas Wertvolles besitzen würden. Finde heraus, weshalb sie es haben wollen, bevor du es übergibst.«

Claire nahm langsam die Hände von ihrem Kopf und glitt auf den Sitz der Kirchenbank, wobei sie die Vampirin ansah. Sie hatte noch immer Angst, aber Amelie schien… na ja... nicht direkt böse zu sein. Nur kalt. Eiskalt.

Und alt.

»Was ist damit?«, fragte Claire. »Mit dem Buch?«

Amelies Lächeln war verblasst wie alte Seide. »Leben«, sagte sie. »Und Tod. Mehr kann ich dir nicht sagen. Es wäre nicht weise.« Das Lächeln verschwand und ließ nur noch die Kälte übrig. »Ich glaube, du solltest jetzt wirklich gehen.«

Claire sprang auf und eilte davon, wobei sie bei jedem zweiten Schritt über die Schultern zurückschaute. Sie sah andere Vampire herauskommen - sie hatte sie nicht gesehen, keinen einzigen von ihnen. Einer davon war John aus der Bibliothek. Er grinste sie an, aber nicht auf freundliche Art und Weise. Eines seiner Augen war milchig weiß.

Sie rannte davon.

***

Wohin auch immer Monica und ihre Freundinnen verschwunden waren, sie waren nicht dorthin verschwunden, wo Claire jetzt rannte - und sie rannte den ganzen Weg bis in die Lot Street. Ihre Lungen brannten, als sie um die Ecke bog, und sie brach beinahe in Tränen der Dankbarkeit aus, als sie das große alte Haus sah.

Und Shane, der auf der Verandatreppe saß.

Er stand auf, ohne ein Wort zu sagen, und sie warf sich in seine Arme; er fing sie auf und hielt sie einige Sekunden lang fest umschlungen; dann schob er sie etwas zurück, um zu sehen, ob sie zu Schaden gekommen war.

»Ich weiß«, sagte sie. »Du hast gesagt, ich soll nicht gehen. Es tut mir leid.«

Er nickte und sah sie finster an. »Rein mit dir.«

Sobald sie im Haus war, die Tür sicher verriegelt, sprudelte die ganze Geschichte aus ihr heraus. Monica, der Lieferwagen, das Feuerzeug, die Kirche, die Vampirin. Er stellte keine Fragen. Tatsächlich blinzelte er nicht einmal. Ihr gingen die Worte aus und er schaute sie einfach nur ausdruckslos an.

»Du freundest dich besser mit der Einrichtung deines Zimmers an«, sagte er. »Ich werde dich nämlich dort einsperren und nicht mehr herauslassen, bis deine Eltern kommen und dich ins Auto laden.«

»Shane...«

»Ich meine es ernst. Kein Bullshit mehr, Claire. Du bleibst am Leben, egal was ich tun muss.« Er klang rundheraus zornig. »Und du musst mir von Michael erzählen.“

»Was?«

»Im Ernst, Claire. Sag's mir jetzt sofort. Ich kann ihn nämlich nirgends finden und weißt du was? Ich kann in tagsüber nie finden - verdammt! Hast du das gespürt?« Sie hatte. Ein kalter Hauch, der über ihre Haut strich. Michael, der versuchte, ihr etwas zu sagen. Wahrscheinlich Um Himmels willen, sag's ihm nicht. »Wir stehen das nicht durch, wenn wir nicht ehrlich zueinander sind.« Shanes Adamsapfel hüpfte, als er schluckte. »Ist er... du weißt schon.., ist er einer von ihnen? Ich muss das nämlich wissen.«

»Nein«, sagte sie.

Shane schloss die Augen und ließ sich gegen die Wand plumpsen, die Hände an beiden Seiten des Kopfes. »Mein Gott, danke. Ich wäre fast durchgedreht. Ich dachte... ich meine, es ist eine Sache, ein Nachtmensch zu sein, aber Michael… ich war.., ich dachte...«

»Warte«, sagte Claire und holte tief Luft. Kälte breitete sich wieder über sie aus - Michael, der versuchte, sie aufzuhalten. Sie ignorierte es. »Lass das, Michael. Er sollte es wissen.«

Shane nahm die Hände von seinem Kopf, schaute sich um und blickte sie stirnrunzelnd an. »Michael ist nicht hier. Ich habe nachgeschaut. Ich habe das ganze verdammte Haus von oben bis unten durchsucht.«

»Doch, er ist da. Die kalte Stelle.« Sie streckte ihre Hand aus und wedelte damit durch die gekühlte Luft. »Ich denke, er steht... genau hier.« Sie schaute auf ihre Uhr. »Er kommt in etwa zwei Stunden zurück, wenn die Sonne untergeht. Dann kannst du ihn sehen.«

»Wovon zum Teufel sprichst du überhaupt?“

»Michael. Er ist ein Geist.«

»Ach, komm schon! Bullshit! Der Alte sitzt jeden Abend da und isst mit uns!«

Sie zuckte mit den Achseln, hob dabei die Hände und ging dann weg. »Du wolltest es wissen. Schön. Jetzt weißt du es. Mir geht es übrigens blendend, danke.«

»Was meinst du damit, er ist ein Geist?« Shane holte sie ein, überholte sie und versperrte ihr den Weg.

»Komm schon! Geist? Er ist so real wie ich!«

»Manchmal«, stimmte sie ihm zu. »Frag ihn. Oder noch besser, beobachte ihn im Morgengrauen. Und dann sag mir, was er ist, denn Geist ist das einzige Wort, das mir dafür einfällt. Das Problem ist, er kann das Haus nicht verlassen, Shane. Er kann uns nicht helfen. Er sitzt hier fest und tagsüber kann er noch nicht einmal mit uns sprechen. Er - lässt sich einfach treiben.« Sie wedelte erneut die kalte Luft von sich weg. »Hör schon auf, Michael. Ich weiß, dass du sauer bist. Aber er muss es jetzt einfach wissen.«

»Claire!« Shane packte und schüttelte sie in blanker Frustration. »Du sprichst mit der leeren Luft!“

»Wie auch immer. Lass mich los, ich habe zu tun.“

»Was denn?«

»Packen!« Sie riss sich los und ging nach oben, wobei sie immer zwei Stufen auf einmal nahm. Shane schlug immer die Tür zu, wenn er böse war; sie probierte es aus und es half.

Die kalte Stelle folgte ihr. »Verdammt, Michael, raus aus meinem Zimmer, du Perversling!« Konnte man auch ein Perversling sein, wenn man tot ist? Sie glaubte schon, dass das ging, wenn man die Hälfte der Zeit einen intakten Körper hatte. »Ich zieh mich gleich aus, ich schwör es dir!«

Die kalte Stelle blieb penetrant, wo sie war, bis sie den Saum ihres T-Shirts bis zum BH hob; dann verschwand sie allmählich. »Feigling«, sagte sie und durchschritt den Raum von vorne bis hinten, beunruhigt und fast schon ein bisschen ängstlich.

Shane hämmerte an die Tür, aber sie streckte sich auf ihrem Bett aus, bedeckte ihr Gesicht mit dem Kissen und tat so, als würde sie ihn nicht hören.

Die Dämmerung brach herein und zog einen blauen Vorhang über den Himmel; sie sah, dass die Sonne schon halb am Horizont verschwunden war, dann schloss sie die Tür auf und stürmte hinaus. Shane kam gerade aus Michaels Zimmer. Er suchte noch immer nach jemandem, der nicht auffindbar war. Zumindest nicht auf die Art, die er sich vorstellte.

»Michael!«, brüllte Claire an ihrem Ende des Flurs und fühlte, wie die Kälte sie einhüllte wie ein eisiges Tuch. Shane wirbelte herum und sie fühlte, wie sich der Nebel verdichtete und dick und schwer wurde; dann sah sie ihn wirklich, sah die blasse graue Gestalt in der Luft...

Eves Zimmertür flog auf. »Was Zum Teufel geht hier ab?«, schrie sie. »Könnt ihr diesen Krach vielleicht auf Flugzeugträgerlautstärke herunterfahren?«

...und dann erschien Michael einfach. Er entstand mitten zwischen den dreien aus dicklich grauem, schwerem Nebel und nahm allmählich Farbe und Gewicht an.

Eve schrie auf. Michael brach auf alle viere zusammen und würgte. Er kippte zur Seite, rollte auf den Rücken und starrte an die Decke. »Shit!«, keuchte er und blieb einfach liegen, während er nach Atem rang. Tränen waren ihm in die Augen geschossen und er sah völlig entsetzt aus; Claire wurde bewusst, dass er das jeden Tag durchmachte. Und jeden Abend. Sie konnte sich vorstellen, dass er vor Angst außer sich war.

Claire warf einen Blick den Gang hinunter zu Shane. Er stand wie angewurzelt da, sein Mund stand offen und er sah aus wie eine Karikatur seiner selbst. Eve auf ihre Art ebenfalls.

Claire ging zu Michael, streckte ihm die Hand hin und sagte: »Damit ist die Sache dann wohl geklärt«

Wortlos warf er ihr einen bitterbösen Blick zu und nahm dann ihre Hand, um sich hochzuziehen. Er schwankte und lehnte sich gegen die Wand, um Halt zu finden; als Claire versuchte, ihm zu helfen, schüttelte er den Kopf. »Gleich«, sagte er. »Das strapaziert dich zu sehr.«

»Der Geist!«, sagte Eve in einer piepsenden, atemlosen Stimme. »Du bist der Geist, von dem Miranda gesprochen hat. Oh, mein Gott, Michael, du bist der Geist! Du Mistkerl!«

Er nickte, wobei er sich noch immer auf die Atmung konzentrierte.

Eve bekam ihre Stimme wieder unter Kontrolle und quiekte: »Das ist ja wohl mit Abstand das verdammt Coolste, was ich je in meinem Leben gesehen habe!«

Shane war blass. Blass und erschüttert und - wie nicht anders zu erwarten war - stinksauer. Michaels und sein Blick trafen sich und sie schauten einander für einen langen Moment schweigend an, bevor Shane sagte: »Deshalb hast du mich also gebeten, zurückzukommen.«

»Ich..,« Michael hustete. Als er dieses Mal in sich zusammensackte, legte ihm Eve den Arm um die Schultern. Er sah überrascht aus, dann erfreut. »Nicht nur, weil...“

»Ich hab's kapiert«, sagte Shane. »Ich verstehe schon, Mann. Echt. Was zum Teufel ist passiert, während ich weg war?«

Michael schüttelte den Kopf. »Später.«

Nein, Shane war keineswegs sauer, bemerkte Claire. Er wandte sich ab und stampfte die Treppe hinunter, bevor sie etwas sagen konnte, aber sie hatte seine Augen gesehen. Ihr wurde einiges klar.

Er hat Alyssa verloren jetzt denkt er, er hätte auch Michael verloren. Sie wusste nicht, wie sich das anfühlte; nicht wirklich; sie konnte es sich vorstellen, aber sie war - und das wusste sie - behütet aufgewachsen. Sie hatte noch nie jemanden wirklich verloren, noch nicht mal ihre Großeltern. Trauer war für sie etwas aus Fernsehshows, aus Filmen oder Büchern.

Sie hatte keine Ahnung, was sie zu ihm sagen sollte. Sie hatte geglaubt, dass er spielend damit fertig würde, auf die Art, mit der Shane eben Dinge bewältigte, aber...

»Claire«, sagte Michael. »Lass ihn nicht weggehen.«

Sie nickte und ließ Eve, die Michael stützte, im Flur zurück; die beiden schienen überraschend gut mit diesem ganzen Lebendig-tot-untot-Ding klarzukommen. Sie nahm an, dass Eve so ziemlich die beste Wahl war, wenn ein Geist eine Freundin haben wollte.

Shane stand unten, er stand einfach nur da und schenkte ihr und allem anderen keine Aufmerksamkeit. Sie streckte die Hand aus und wollte ihm auf die Schulter tippen, wollte ihm zeigen, dass sie da war, auch wenn sie keine große Hilfe sein konnte, aber genau in diesem Augenblick klopfte es an die Eingangstür.

»Bei Gott, ich schwör dir, wenn das Miranda ist...«, knirschte er. Er ballte die Hände an seiner Seite zu Fäusten.

»Nein, ich glaube, es ist für mich«, sagte Claire, huschte um ihn herum und rannte den Flur hinunter. Sie schaute zuerst durch den Spion; es war tatsächlich Oliver, der auf der Stufe vor der Haustür stand und unbehaglich dreinschaute. Sie dachte, dass er wirklich gute Gründe dafür hatte... Himmel, wo immer man in Morganville nach Einbruch der Dunkelheit herumhing - es war so, als würde man sich ein Schild auf den Rücken kleben, auf dem BEISS MICH stand.

Sie drehte den Schlüssel im Schloss und schwang die Tür auf. »Ich habe nicht viel Zeit«, sagte er. »Wo sind sie? Shane und Eve?“

»Drin«, sagte sie und machte die Tür ein bisschen weiter auf, das universelle Zeichen für Herein. Aber er trat nicht ein. Stattdessen hielt er eine Hand hoch und wedelte verdutzt vor sich durch die Luft. »Oliver?«

»Ich fürchte, du wirst mich hereinbitten müssen«, sagte er. »Mir scheint, dieses Haus hat einen sehr detaillierten Schutz. Ich kann nicht eintreten, es sei denn, du bittest mich herein.“

»Oh. Sorry.« Sie wollte es gerade tun, als ihr einfiel, dass es vielleicht keine gute Idee wäre, jemanden hereinzubitten, ohne sich die Zustimmung der übrigen Bewohner des Glass House einzuholen. Vor allem, weil sie nur noch einen weiteren Tag hier wohnen würde. »Ähm, könntest du eine Sekunde warten?“

»Nein, Claire, das kann ich wirklich nicht«, sagte Oliver ungeduldig. Er trug noch immer das Hippie-Outfit aus dem Common Grounds, aber irgendwie sah er anders aus. Sonderbar.

»Bitte, lade mich ein, hereinzukommen. Ich habe keine Zeit zu warten.«

»Aber ich...«

»Claire, ich kann dir nicht helfen, wenn du mir nicht vertraust!

Schnell jetzt, bevor es zu spät ist. Lass mich herein!“

»Aber ich...« Sie holte tief Luft. »Okay. Ich lade dich ein...“

»Nein!« Der Schrei, der hinter ihr erklang, war absolut grauenerregend; sie warf sich zur Seite und bedeckte ihren Mund mit beiden Händen, um nicht zu schreien. Es war nicht Shane, der sich auf sie stürzte, es war Michael. Shane und Eve waren hinter ihm. »Claire, weg von der Tür!«

Michael sah aus wie ein Racheengel und mit Engeln fing man besser keinen Streit an. Claire trat hastig zurück, ihre Hände waren noch immer vor den Mund geschlagen, als Michael an ihr vorbeiging, direkt auf die Schwelle zu. Die Grenze seines Territoriums. Oliver sah enttäuscht aus, aber, wie sie bemerkte, nicht sonderlich überrascht. »Ah, Michael. Schön, dich wiederzusehen. Ich sehe, du überlebst ganz gut.«

Michael sagte nichts, aber aus Claires Blickwinkel von der Seite konnte sie den Blick erkennen, den er Oliver zuwarf, und er machte ihr Angst. Sie hätte nicht gedacht, dass Michael je so zornig werden könnte.

»Was willst du hier?«, fragte er scharf. Oliver seufzte.

»Ich weiß, du wirst mir nicht glauben«, sagte er, »aber die Wahrheit ist, dass ich in bester Absicht für deine kleine Freundin hier handle.«

Michael lachte bitter. »Yeah. Darauf würde ich wetten.«

»Und für deinen Freund Shane...« Olivers Blick wanderte von Michael zu Shane, danach zu Eve. »Und natürlich meine liebe Eve, die eine hervorragende Mitarbeiterin ist.«

Michael wandte sich langsam zu Eve um, deren Augen geweitet waren - vor Schrecken, wie Claire hoffte. Oder zumindest Verwirrung. »Ihr kennt euch?«, platzte Eve heraus. »Aber - Michael, du sagtest doch, du kennst Oliver nicht, und...“

»Ich kannte ihn auch nicht«, sagte Michael und wandte sich wieder um, »bevor er mich umbrachte.«

»Ja«, sagte Oliver und zuckte die Schultern. »Sorry, war nicht persönlich gemeint; es war ein Feldversuch, der nicht funktioniert hat. Aber es freut mich, dass du es überlebt hast, wenn auch nicht in der Form, die ich mir erhofft hatte.«

Michael gab ein Geräusch von sich, von dem Claire hoffte, es nie wieder von jemandem hören zu müssen, gleichgültig ob lebendig oder tot. Nun war es an Eve, die Hände vor den Mund zu schlagen; kurz darauf ließ sie sie wieder sinken und schrie: »Oh, mein Gott! Oliver!«

»Wir können meine moralischen Schwächen später diskutieren«, sagte er. »Jetzt müsst ihr mich ins Haus lassen, und zwar so schnell wie möglich.«

»Das kann wohl nicht dein Ernst sein«, sagte Michael. »Ich finde, es reicht schon, dass einer von uns tot ist. Ich lasse nicht zu, dass du die Übrigen auch noch tötest.«

Oliver musterte ihn für einen langen Augenblick schweigend. »Ich hatte gehofft, dies vermeiden zu können«, sagte er schließlich. »Deine kleine Claire hier ist wirklich ein Wunderkind, weißt du? Sie behauptet, das Buch gefunden zu haben. Ich glaube, sie hat in Morganville eine vielversprechende Zukunft... vorausgesetzt sie überlebt diese Nacht.«

Michael sah aus, als wolle er sich gleich übergeben. Sein Blick huschte kurz zu Claire. »Vergiss es. Hau ab. Niemand wird dich hereinbitten.«

»Nein?« Oliver lächelte breit und seine Eckzähne klappten mit träger Langsamkeit nach unten. Es war das absolut Furchteinflößendste, das Claire je gesehen hatte; das und die Aufrichtigkeit in seinen Augen. »Ich glaube, jemand wird es tun. Früher oder später.«

»Ich würde jetzt sagen, nur über meine Leiche, aber das hast du ja schon erledigt«, fuhr Michael ihn an. »Danke für den Besuch. Und jetzt verpiss dich, Mann!«

Er wollte die Tür schließen. Oliver hob die Hand - nicht so, als wollte er ihn körperlich daran hindern, nur als Warnung - und fuhr seine Vampirzähne wieder ein, sodass sein Gesicht wieder freundlich und vertrauenswürdig war. Wie... das Gesicht eines echt coolen Lehrers, einer, dessentwegen man gern zur Schule ging. Das, fand Claire, war ein größerer Verrat als alles andere.

»Warte. Wissen sie, warum sie hier sind, Michael? Warum du riskiert hast, ihnen deine Geheimnisse preiszugeben?« Michael hielt nicht inne. Die Tür schloss sich vor Oliver. »Shane, hör mir zu! Michael brauchte jemand Lebendiges, uni den Schutz des Hauses zu aktivieren! Du glaubst, es liegt ihm etwas an dir. Das stimmt nicht! Ihr seid nur Arme und Beine für ihn! Schlagende Herzen! Er ist nicht anders als ich!«

»Abgesehen von der Sache mit dem Blutsaugen, du Freak!«, brüllte Shane und dann fiel die Tür vor Olivers Nase ins Schloss. Michael legte mit zitternden Fingern den Riegel vor.

»Herrgott, warum hast du uns das nicht erzählt, Mann?«

»Ich - was?«, fragte Michael, ohne sich zu ihm umzudrehen. Er sah bleich und verstört aus, bemerkte Claire.

»Alles, die ganze verdammte Sache! Wie ist das passiert, Michael? Wie kam es dazu, dass du...« Shane machte eine Geste, die vage genug war, um alles bedeuten zu können. »Hat er versucht, du weißt schon, einen Vampir aus dir zu machen?“

»Ich glaube schon. Aber es hat nicht geklappt. Das ist alles, was ich weiß.« Michael schluckte schwer und wandte ihm das Gesicht zu. »Was den Schutz anbelangt, hat er recht. Der Schutz des Hauses funktioniert nicht, wenn nicht jemand Lebendiges darin wohnt. Ich zähle nicht direkt. Ich bin jetzt ein Teil davon. Ich brauchte dich wirklich.«

»Schon gut, Mann. Das ist mir echt egal. Nicht egal ist mir, dass du dich von einem verdammten Blutegel hast aussaugen lassen, als ich dir den Rücken zugewandt hatte...“

»Er kann kein Vampir sein«, sagte Eve plötzlich. »Es kann nicht sein. Er ist mein Chef! Und... er arbeitet tagsüber! Wie kann das überhaupt sein?«

»Frag ihn doch«, sagte Michael, »wenn du das nächste Mal zur Arbeit gehst.«

»Ja klar, als würde ich diesen Job nicht an den Nagel hängen.« Eve rückte näher an Michael heran und schlang ihre Arme um ihn. Er umarmte sie ebenfalls, als sei es die natürlichste Sache der Welt. Als hätten sie das schon immer gemacht, was - wie Claire zugeben musste - gut möglich war und sie hatte einfach nur nichts davon gewusst. Michael strich Eve über die Haare. »Gott, es tut mir so leid!«

»Du kannst nichts dafür«, sagte er. »Außer ihm kann niemand etwas dafür.«

„Wie hast du -?«

»Ich habe im Common Grounds gespielt. Ich wusste nicht, dass ihm der Laden gehört. Ich habe mit einem Typen gesprochen, der Chad hieß...«

»Oh. okay. Chad ist gestorben«, sagte Eve.

»Ich frage mich ja, wie das passieren konnte«, warf Shane säuerlich ein.

»Dieser Typ - Oliver, seinen Namen hatte ich nie erfahren -, er sagte, er sei Musiker und auf der Suche nach einem Zimmer. Ich hielt es für eine ausgezeichnete Idee. Er kam vorbei, um sich das Haus anzuschauen.« Michael schloss fest die Augen, als könnte er die Bilder in seinem Kopf nicht mehr ertragen. Nicht dass das helfen würde, wusste Claire. »Sobald ich ihn hereingebeten hatte, fühlte ich es. Aber es war zu spät und - er hatte Freunde.«

Shane stieß einen derben Fluch aus, der wie ein Schuss von den Wänden abprallte, lehnte sich mit gesenktem Kopf gegen die Wand und ließ sich fallen. »Ich hätte hier sein sollen.“

»Dann wären wir jetzt beide tot.«

»Das werdet ihr sowieso sein«, sagte Olivers Stimme durch die Tür. »Eve, meine Liebe. Hör mir zu. Hör auf meine Stimme. Lass mich rein.«

»Lass sie in Ruhe!«, brüllte Michael und wandte sich der Tür zu. Claire bemerkte, wie sich etwas in Eves Gesicht abspielte - der Wille verschwand daraus, der Glanz wich aus ihren Augen. Oh nein, dachte sie erstarrt und versuchte, den Mund zu öffnen, um Michael zu warnen.

Aber bevor ihr das gelang, sagte Eve: »Ja, Oliver. Komm rein.« Das Schloss sprang mit einem forschen, hellen Klang auf, die Tür wehte auf und ließ die Nacht herein; und Oliver trat über die Schwelle.