Jemand legt mir eine Decke über, und ich fahre erschrocken aus einem dieser Träume hoch, an die man sich nicht erinnern möchte. Elke steht vor mir und lächelt freundlich. Ich spüre meine Knie nicht mehr, meine Füße müssen blau sein, mein Nacken schmerzt.

„Morgen.“

Ich schließe die Augen wieder und hoffe, dass alles anders aussieht, wenn ich sie wieder öffne. Dann liege ich in meinem großen Bett in meiner Wohnung, spüre Maya neben mir und weiß, es ist nur eine kleine Strecke bis zum Bäcker, wo ich mir meine Quarktasche holen kann.

Aber es ist immer noch Elkes Gesicht, in das ich schaue.

„Ich habe dir Kaffee gemacht.“

„Danke.“

Elke ist eine gute Mutter, vollkommen egal, was sie glauben mag oder was andere vielleicht über sie sagen. Ich merke es an der Art und Weise, wie sie mit ihren Kindern umgeht und auch mit mir. Nur Mütter sind so.

„Maya sagt, du willst dir heute die Stadt ansehen.“

Ich strecke meine Beine aus und spüre einen ziehenden Schmerz in beiden Waden. Ich erinnere mich nicht mehr so genau an das, was sie gesagt hat. Oder an unser Gespräch. Seitdem wir in Barcelona sind, habe ich starke Probleme, mich an unsere gemeinsamen Momente zu erinnern. Ich kann jeden Geruch, jeden Geschmack, jedes Geräusch, alles aus Stuttgart sofort in mein Gedächtnis rufen. Wie ein kurzer Teaser für einen Kinofilm spielen sich Szenen in meinem Kopf ab, die wir zusammen erlebt haben. Elke schiebt eine Tasse mit Kaffee und einen Reiseführer über den Tisch.

„Damit du nicht verloren gehst.“

Sie lächelt.

„Ich habe heute ein Vorstellungsgespräch, aber ich lasse dir Alejandros Schlüssel da, wenn das in Ordnung ist.“

„Sicher. Wo ist Maya?“

„Mit Fabian unterwegs. Sie will mit ihm die Stadt erkunden und ihm ihre Lieblingsplätze zeigen. Die beiden müssen einiges aufholen, wie es scheint.“

Ich nicke und nehme den ersten Schluck Kaffee, vielleicht wird der Tag dann besser. Elke gibt mir einen Kuss auf die Stirn, irgendwo auf den Haaransatz, und ist dann zur Tür raus. Mir geht das alles zu schnell. Ich komme nicht so richtig mit. Morgens bin ich ohnehin nicht ganz auf der Höhe, aber mir die Nacht so zu verkürzen und die Gelenkigkeit meiner Knochen so zu strapazieren, um mir dann Informationen an den Kopf zu werfen, für die ich im wachen Zustand schon eine gute Stunde bräuchte – das ist kein guter Einstieg in den Tag. Ich bin erschlagen. Vor allem aber bin ich allein.

Die Wohnung, mag sie noch so klein sein, ist mir fremd. Es ist, wie wenn man mit den Eltern Urlaub in einem anderen Land macht und sich erst mal an die italienischen Steckdosen gewöhnen muss. Oder an die Türklinken in Amerika. An die Währung in England. Hier muss ich mich an all das auf einmal gewöhnen. Und dieses Gefühl erdrückt mich. Ich brauche frische Luft, um wieder klar denken zu können. Also stürze ich den Kaffee herunter, so gut es die Temperatur erlaubt, ziehe mich an, schütte etwas Wasser in mein Gesicht, schnappe mir den Schlüssel und haste die Treppe nach unten, als würde ich ersticken.

Barcelonas Luft empfängt mich wieder mit dem salzigen Geschmack und der Brise der Küstenstädte, aber genau das brauche ich jetzt. Den Reiseführer in der Hand stolpere ich los, laufe einfach geradeaus, egal wohin. Wenn ich angekommen bin, werde ich es wissen, und dann kann ich immer noch auf den Reiseführer zurückgreifen.

Ich bin kein Jogger, kein Sportler, und schon lange außer Form – machen wir uns nichts vor. Aber die Gedanken, die wie ein Uhrwerk in meinem Kopf ticken und ticken, sind eine gute Motivation. Ich spüre nicht, wie viele Straßen ich entlanggehe, ich zähle nicht die Gebäude, die mich immer wieder zu kleinen Pausen des Staunens hinreißen, ich schaue nicht auf die Uhr, ich folge nur meinem Herzen. Darin habe ich in letzter Zeit viel Übung. Ich schalte das Gehirn auf Stand-by und ernenne mein Herz zum Navigationssystem. Egal, wo es mich hinbringt. Und wo hat es mich hingebracht? In die vielleicht aufregendste Stadt Europas. Aber ganz so aufregend, wie ich es mir vorgestellt habe, fühlt es sich jetzt nicht an. Ganz und gar nicht.

Ich will ans Meer. Also schlage ich den Reiseführer auf, nur um erstaunt festzustellen, ich bin schon so gut wie dort. Nur ein paar Straßen und Kreuzungen weiter, schon kann ich es sehen. Ich stehe am Port Olimpic und sehe, wie das Meer den Horizont küsst. Es ist eine halbe Ewigkeit her, dass ich das Meer gesehen habe. Es war 1999 mit Patrick, bei unserer ganz persönlichen Abi-Abschlussfahrt nach Italien. Während ich die meiste Zeit betrunken in der Sonne lag und mir abends in der Ferienwohnung die Seele aus dem Leib kotzte, hing Patrick am Telefon, um mit Melanie zu telefonieren und ihre Kleider- oder (wahlweise) Schuhgröße zu erfragen, zwecks Mitbringsel und so.

Ich laufe die Stufen runter zum Strand und beobachte das Meer. Es sieht so anders aus, als auf den sonnigen Postkarten, die ich manchmal in meinem Briefkasten finde. Es ist weder tiefblau noch klar. Keine badenden Menschen und bunten Schirme. Nur wenige Besucher, vermutlich Touristen wie ich, die sich von der Kälte des Winters nicht abschrecken lassen. Ich hole ganz tief Luft, lasse meine Lungenflügel komplett aufgehen, versuche das erdrückende Gefühl abzuschütteln.

Ich schließe die Augen, höre das Rauschen und lasse los. Ich höre weder auf Kopf noch Herz. Ich stehe nur da und höre dem Meer zu, erhoffe mir eine ozeanische Antwort auf die Frage, die ich nicht stellen mag, vor der ich Angst habe, und die mich nicht mehr loslassen will.

Habe ich einen Fehler gemacht?

 

Ich laufe weiter durch die Straßen, vorbei an Cafés und Bars, an Ständen, die mir hemmungslos und ohne Erfolg versuchen, ein Trikot des FC Barcelona aufzudrängen. Ich kann den Ausführungen der Verkäufer kaum folgen, mein Spanisch lässt leider nur „Messi, Messi, Messi“ zu. Ich nicke freundlich und eile dann weiter.

Ich beachte die Basilica de Santa Maria del Mar nicht wirklich, obgleich ich mir ihrer Schönheit bewusst bin. Mein Reiseführer hat mir geflüstert, nicht weit von hier ist auch das Museu Picasso. Bei Nacht habe ich den Weg recht zügig gefunden, bei Tag werden meine Schritte langsamer. Ich hatte immer angenommen, Barcelona würde künstlerisch quasi Gaudi gehören, da seine Einflüsse überall zu sehen sind, und niemand sich Barcelona ohne diesen Künstler vorstellen kann. Man stelle sich vor, alle Gebäude, an denen Gaudi beteiligt war, würden aus Barcelona verschwinden. Die Stadt wäre so nackt wie Stuttgart ohne Kessel, ohne Fernsehturm, ohne den VfB. Picasso hat sich selbst mehr als Katalane denn als Andalusier gefühlt, obwohl er erst im Alter von dreizehn Jahren nach Barcelona kam. Man sagt, er habe das Malen erst hier gelernt. Obwohl er viele Jahre malend in Frankreich verbracht hat, liegen seinen Wurzeln hier, direkt hier. Und ich will sie sehen.

Wieder stehe ich vor dem Gebäude und bemerke jetzt erst, wie groß es wirklich ist. Ein Mann sieht mich fragend an – und mir wird klar, er will wissen, ob ich eine Eintrittskarte kaufen will oder nicht. Ich will.

Für Kunst abseits der multimedialen Ecke habe ich mich kaum interessiert. Wie sich jetzt zeigt, war das ein großer Fehler. Ich gehe durch alle Stockwerke und Räume, die seine Arbeiten in chronologischer Reihenfolge wiedergeben. Von manchen Werken habe ich gehört oder gelesen. Sie aber jetzt zu sehen, ist ein ganz anderes Gefühl. Wie lange ich mich zwischen den Kunstwerken aufhalte, weiß ich nicht. Ich gehe durch die Räume, manchmal zweimal, und schaue in aller Ruhe. Ich frage mich, wie es sich für Maya anfühlen muss, jetzt nicht mehr nur in Gedanken solche Museen betrachten zu können. Ich versuche, die Bilder mit ihren Augen zu sehen, und entdeckte tatsächlich in einigen von ihnen eine Art Rettungsanker für Verlorene wie mich. Sie strahlen manchmal Wärme, manchmal Wut, manchmal Liebe aus. Ich kann verstehen, wieso sich Maya Orte wie diese zur gedanklichen Flucht gesucht hat.

Nachdem ich mir sicher bin, jedes Bild gesehen zu haben, will ich schon die Treppe nach unten gehen, als mich ein Herr darauf aufmerksam macht, ich hätte das Stockwerk ganz oben vergessen, was eine Schande wäre. Ich bin mir nicht sicher, was ich von ihm halten soll, da er mich stark an eine katalanische Version von Diego Armando Maradona erinnert; aber vermutlich ist genau das der Grund, wieso ich seiner Aufforderung folge und wieder die Treppen nach oben gehe.

Und was lerne ich daraus? Vertraue immer auf „die Hand Gottes“. In einigen Räumen könnte meine Kopfhaltung an einen Besuch beim Barbier erinnern. Ich recke den Kopf nach oben wie die wenigen anderen Besucher hier, um die Deckenmalerei zu betrachten. Beeindruckend und schön. Vor allem aber lenkt es ab. Auf eine merkwürdige Weise bringt es mich näher an Maya, weil ich ohne sie vermutlich niemals hier wäre. Nicht in dieser Stadt, nicht an diesem Ort.

Ich nehme auf einer Bank am Ende des Raumes Platz und betrachte die Decke in aller Ruhe. So ist es also. Barcelona mit Maya, aber ohne sie. Ich bin hier, wo sie sein sollte, aber sie ist es nicht. Sie ist bei Fabian, wo sie auch hingehört. Ich muss nur lernen, es zu sagen, ohne dass mir der blöde Unterton meiner Eifersucht über die Lippen kommt. Ich klinge wie ein Schuljunge. Ich will Maya eben auch für mich. Jetzt hätte ich sie so gern hier. Dieses Museum mit ihr zu erleben, wie unvergesslich hätte das sein können! Es ist ein komisches Gefühl ... Maya hat sich während der wohl unangenehmsten Momente ihres Lebens an genau diesen Platz gewünscht. In Barcelona fühle ich mich unendlich fehl am Platz, aber hier drin genieße ich es. Die Ruhe, die Bilder und Skulpturen, es ist wirklich ein beeindruckender Ort. Ein bisschen scheine ich ihrem Vorbild zu folgen, immerhin habe auch ich mich hierher verkrochen und fühle mich nicht mehr ganz so mies. Nur allein. Ich habe Hunger und vielleicht lässt ich hier irgendwo in der Nähe etwas auftreiben. Spanische Küche ist ja nicht umsonst weltweit beliebt.

Als ich die Treppe wieder nach unten gehe, bedanke ich mich bei meinem persönlichen Maradona. Er lächelt wissend, als habe er mir ein Geheimnis verraten, das ich sonst verpasst hätte. Wie recht er doch hat.

5 Tage Liebe
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