Mayas Mutter Elke sieht ihr ähnlich, nur ist sie etwas kleiner. Fabian, ein erstaunlich großes Kerlchen, macht auf mich nicht den Eindruck, als wäre er behindert oder eingeschränkt, als er auf Maya zustürmt und sie fest umarmt. Minuten vergehen, Tränen fließen, es wird noch mehr umarmt, bis ich schließlich wahrgenommen werde. Ich stehe am Sprinter, will die Situation nicht stören und fühle mich etwas fehl am Platz. Dem Mann, der in der Eingangstür stehen geblieben ist, scheint es wie mir zu gehen. Unsere Blicke treffen sich, wir nicken uns zu und wissen: dieser Moment findet ohne uns statt.

Irgendwann zerrt mich Maya heran und stellt mich als „der Jonas“ vor. Der Mann von der Eingangstür heißt Alejandro und ist wohl ein Freund der Familie, oder so was. Zumindest spricht er gebrochenes Deutsch und lächelt uns an. Er hat Elke und Fabian geholfen, die Wohnung zu finden und ist bereit, beim Einzug zu helfen. Die Familie möchte hier in Barcelona einen neuen Start wagen. Elkes Spanisch ist erstaunlich gut, nur Fabian bleibt stumm. Große klare Augen beobachten und mustern mich. Ich traue mich nicht, Maya zu berühren, weil ich nicht weiß, wie er wohl reagieren wird. Eifersucht will ich nicht provozieren, deswegen folge ich mit langsamen Schritten in das Gebäude, die Treppe nach oben in eine schlichte Wohnung, die ohne Zweifel noch nicht völlig eingeräumt ist. Kartons empfangen uns im Flur, Möbel fehlen bis auf Tisch und Stühle komplett. Alejandro versucht mir zu erklären, dass Freunde von ihm am Wochenende einen Schrank vorbeibringen, dann können die Kartons endlich ausgepackt werden. Ich versuche nicht zu viel zu lächeln, wenn er mit mir spricht, was bei seiner Art der Aussprache nicht ganz einfach ist. Er erinnert mich an eine Mischung aus den Fußballern Raul und Ballack; wie kann das gut gehen?

Fabian und Maya verschwinden sofort in einem der Zimmer, und ich höre nur noch Lachen und Gekichere. Elke nimmt sich meiner an, während Alejandro sich verabschiedet. Er wohnt nicht hier, hilft nur, wenn er gebraucht wird.

In der Küche schiebt mich Elke auf einen Stuhl; sie besteht darauf mich zu duzen, und schöpft eine Art Eintopf auf meinen Teller.

„Du musst am Verhungern sein.“

„Ziemlich.“

Eine Dose Cola folgt dem Teller, dann setzt sie sich zu mir und lächelt. Sie ist ohne Zweifel Mayas Mutter, die beiden haben zu viel gemeinsam, um das abzustreiten. Ihre Locken sind nicht ganz so ungezähmt wie Mayas', und das Leben hat deutliche Spuren in Form von Falten in ihrem Gesicht hinterlassen – aber ja! sie sieht wirklich aus wie ihre Tochter.

„Fabian hat sich die ganze Zeit auf Maya gefreut, die beiden haben sich viel zu lange nicht mehr gesehen.“

Sie nickt in Richtung Flur, als wolle sie Mayas Abwesenheit erklären, aber das ist für mich okay. Maya hat sich das verdient und ich kann sowieso nur noch ans Essen denken. Ich schiebe Löffel um Löffel in den Mund und spüre, wie die Müdigkeit meine Beine hochkriecht. Bald werde ich mich ihr ergeben müssen, will aber nicht hier auf dem Stuhl einschlafen. Ich trinke hastig etwas Cola und versuche so gut es geht, einen ansehnlichen Eindruck zu hinterlassen.

„Und du hast Maya also in der Galerie kennengelernt?“

Fast verschlucke ich mich. Ich habe keine Ahnung, was Maya ihrer Mutter erzählt hat und was ich nun sagen soll, um ihre kleine Lüge nicht auffliegen zu lassen. Meine Antwort ist eine Mischung aus Nicken und Schulterzucken, dabei achte ich darauf, den Mund wieder schnell zu füllen. Mit vollem Mund spricht man schließlich nicht.

„Sie sagte, ihr hättet euch bei der Arbeit kennengelernt.“

„Das stimmt.“

Da muss ich nicht mal lügen, nur trifft es „Galerie“ nicht so genau, aber ich spiele mit.

„Das ist schön. Was machst du beruflich?“

„Ich bin Webdesigner.“

Fehler! Ich war Webdesigner, denn nachdem ich auch dieses Projekt nicht in dem vorgegebenen Zeitrahmen fertiggestellt habe, bin ich diesen Job wohl auch los.

„Schön. Zwei kreative Köpfe.“

Sie scheint mich zu mögen, was mich wundert. Mütter meiner Partnerinnen mögen mich üblicherweise nicht. Das ist ein Gesetz, so wie: „Engländer können keine Elfmeter schießen“. Manche Dinge sind ungeschriebene Gesetze. Sie haben sich einfach im Leben zu oft bewiesen.

„Du schläfst im Zimmer bei Maya, das Bett dürfte groß genug sein. Ich schlafe dann bei Fabian.“

„Ich kann auch auf der Couch schlafen, das ist kein Problem.“

Wieso ich das sage, weiß ich selbst nicht. Will ich einen guten Eindruck hinterlassen?

„Leider ist das ein Problem. Wir haben keine Couch. Unser Budget ist etwas ... eingeengt.“

So wie sie es sagt, lässt sie keinen Zweifel daran, dass es ihr peinlich ist. Das muss es nicht, denn ich kenne ja die Situation.

Mayas Lachen tönt aus dem Nebenzimmer zu uns, dann wird die Tür aufgeschoben und Fabian steht in der Küche. Er sieht zu mir, sieht zu Elke, wieder zu mir, dann auf meinen Teller.

„Ich will auch!“

„Oh Schatz, wir haben nichts mehr. Ich habe für die beiden was aufgehoben. Maya muss etwas essen.“

„Er kann meine Portion haben, ich bin satt. Wirklich.“

Ich bin nicht satt, aber ich fühle mich in dieser Situation unwohl. Es stehen drei Stühle um den Tisch. Es gibt nicht genug Betten. Es ist wie eine taubstumme Version von: „Du gehörst hier nicht her“. Niemand spricht es aus, aber es ist überdeutlich im ganzen Raum zu sehen.

Fabian nimmt mein Angebot an, als ich den Platz räume und er sich über meinen Teller hermacht. Zuerst wird allerdings nach dem Pfefferstreuer gegriffen und versucht, auf Teufel komm raus den halben Inhalt auf den Teller zu entleeren. Ich empfinde den Eintopf bereits als ausreichend scharf, aber Fabian würzt eifrig nach. Ohne auch nur einen Löffel probiert zu haben.

Maya bemerkt meinen verwunderten Gesichtsausdruck und winkt mich in den Flur. Wir verlassen die Küche zusammen und lassen Fabian und Elke in der Küche mit dem überwürzten Eintopf zurück.

„Jetzt hast du ihn ja mal kennengelernt.“

Sie lächelt.

„Netter Kerl.“

„Er ist heute überdreht, eigentlich ist er viel ruhiger.“

Ich folge ihr über den Flur ins Wohnzimmer, wo nur ein alter Ledersessel und ein Couchtisch stehen, dazu ein Fernseher, ein Schrank, vollgestopft mit Büchern, zwei Kartons, eine Decke, zwei große Kissen. Es ist offensichtlich, hier wird gerade eingezogen. Maya setzt sich auf den Sessel und verfolgt meinen Blick, der über die Buchrücken im Schrank wandert.

„Fabian ist verrückt nach Märchen. Frag mich nicht wieso. Ich denke, es hat damit angefangen, dass wir ihm früher welche vorgelesen haben.“

„Märchen?“

Tatsächlich sind so ziemlich alle Märchen, die jemals zu Papier gebracht wurden, in diesem Schrank vertreten. Standardwerke, aber auch Exotisches. Alles steht hier, in Reih und Glied.

„Er ist eben verrückt danach.“

„Und nach Pfeffer?“

Ich drehe mich wieder zu ihr und komme langsam auf sie zu. Ich möchte Fabian gerne etwas besser verstehen, und ich denke, sie versteht ihn am besten.

„Bei Fabian gibt es meistens nur Extreme. Er überwürzt alles, damit er überhaupt etwas schmeckt oder fühlt. Deswegen schlägt er sich auch manchmal selbst, allerdings sehr selten. Die Medikamente helfen.“

„Und die zweitausend Euro?“

Ich nehme vor ihr auf einem Karton Platz und lege meine Hände auf ihre Oberschenkel. Sie legt ihre auf meine und hält sie fest, während sie weiterspricht. Es ist das erste Mal, dass ich nach dem Geld frage. Vielleicht hatte ich gehofft, sie würde mir während der Fahrt von alleine mehr darüber erzählen, aber jetzt sind wir hier.

„Fabian begeistert sich für wenige Sachen, weil seine Konzentration schnell von hier nach da huscht.“

Ich nicke.

„Märchen, Bücher und Fische.“

„Fische?“

„Komm mit.“

Sie zieht mich vom Karton hoch und wir gehen zusammen ins andere Zimmer. Auch hier sieht es nicht danach aus, als ob Menschen schon lange hier wohnen. Nur ein kleines Aquarium auf dem Tisch am Fenster zeugt von der liebevollen Einrichtung. Drei kleine Fische tummeln sich im Innern, schwimmen um einander herum. Daneben alle Futterboxen, wie die Orgelpfeifen nach Größe sortiert.

„Er liebt Fische über alles. Uns ist vor einer Weile aufgefallen, dass er völlig loslässt, wenn er sich mit ihnen beschäftigt. Es tut ihm gut.“

Ich beuge mich vor und beobachte das langsame Tanzen derschuppigen Freunde im Wasser. Es beruhigt mich binnen Sekunden. Kein Wunder, dass es eine angenehme Wirkung auf jemanden wie Fabian hat.

„Wir wollen die Delfintherapie mit ihm versuchen.“

Ich sehe wieder zu Maya. Ich habe schon oft gehört, dass solche Therapien mit Tieren den Kindern geholfen haben.

„Hier in Barcelona haben wir eine gefunden, die Fabian angenommen hat. Natürlich zahlt die Versicherung das nicht. Wie üblich.“

Sie zuckt nur die Schultern, als hätte sie sich schon längst damit abgefunden. Ich werde immer noch etwas wütend, wenn ich das höre, aber sie hat sich daran gewöhnt.

„Dafür also das Geld.“

Sie nickt. In ihren Augen sehe ich diesen kleinen Hoffnungsschimmer, der sie vorantreibt. Ich habe in den Augen ihrer Mutter das Gleiche gesehen. Sie klammern sich an alles und versuchen, keine Möglichkeit unversucht zu lassen.

„Kannst du das verstehen?“

Ich nicke. Ich war noch nie in einer solchen Situation, aber jetzt bin ich als Zaungast dabei. Obwohl ich mit Fabian kaum ein paar Worte gewechselt habe, sehe ich doch, wie wichtig er Maya ist. Sie geht liebevoll mit ihm um, und er sieht zu ihr auf. Sie muss es versuchen. Was auch immer sie sich von der Delfintherapie verspricht – ich hoffe, es tritt ein.

Sie legt die Arme von hinten um mich und küsst meinen Nacken.

„Ohne dich wäre das alles vielleicht nie so gekommen.“

Ich bin mir da nicht mehr so sicher. Maya hat einen sehr sturen Kopf und findet Möglichkeiten, wenn sie will. Nicht immer müssen diese konventionell sein, aber sie findet Wege. Soviel weiß ich schon über sie.

Hinter uns wird die Tür geöffnet, und Fabian kommt ins Innere. Maya löst sich aus der Umarmung, Fabian tritt wortlos neben das Aquarium und mustert mich misstrauisch. Ich hebe abwehrend die Hände.

„Schöne Fische.“

Wie wird man Freund mit dem Bruder der Freundin? Wie gewinnt man ein Herz, wenn man Angst hat, sonst besagte Freundin zu verlieren?

„Meine Fische.“

Er nickt und zeigt auf das Aquarium, beobachtet sie ganz genau, Ich bewege mich nicht.

„Ich werde auch mit Fischen schwimmen.“

Genau genommen sind Delfine keine Fische, aber das spielt keine Rolle, und ich sehe keinen Grund, ihm das zu erklären.

Er dreht seinen Kopf zu Maya.

„Ich werde mit ihnen schwimmen, richtig?“

„Ganz genau.“

„Und du auch!“

Er lächelt sie breit an. Maya nickt, obwohl ich mir nicht sicher bin, dass sie das wirklich möchte. Besonders glücklich sieht sie bei der Vorstellung nicht aus. Fabian lacht, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkt, und ich tue es ihm gleich.

„Jaja, lacht ihr nur!“

Fabian dreht sich zu mir um und zeigt mit dem ausgestreckten Finger auf mich.

„Und du auch!“

Maya sieht überrascht zu mir. Obwohl ich kein besonders großer Schwimmer bin, nicke ich, als wäre es selbstverständlich. Fabian beugt sich wieder zum Aquarium und stippt etwas Futter auf die Wasseroberfläche. Mayas Augen verharren auf meinem Gesicht. Ich weiß genau: in wenigen Minuten ist mein vierter Tag mit ihr vorbei und die Situation wird sich ändern.

Ihr Mund formt stumm Worte, die ich zu entziffern versuche. Für mich klingt es wie:

„Ich liebe dich.“

5 Tage Liebe
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