„Als Patrick mir vor unzähligen Jahren – damals bezahlte man noch in einer anderen Währung – erzählte, er wäre verliebt und würde genau diese Frau zum Altar führen, glaubte ich ihm kein Wort. Wohlgemerkt, Melanie wusste damals vermutlich nicht mal, dass Patrick existierte.“

Ich klammere mich so fest an mein Sektglas, dass ich Angst habe, es könnte in meiner Hand zerbrechen. Die Hochzeitsgesellschaft ist größer, als ich es angenommen habe, und die Stimmung ist gelöst und gut. Meine Rede ist nur eine von vielen, aber die Erwartungen sind natürlich etwas größer.

Patrick sitzt neben Melanie, er trägt einen dunkelblauen Anzug mit Fliege und hat sich größte Mühe gegeben, seinen Haaren zumindest den Schein einer Frisur zu verleihen. Melanie trägt ein weißes Kleid, und auch wenn ihr niemand die Unschuld abnehmen will, gebe ich gerne zu, dass sie hinreißend aussieht.

Beide lächeln mich an und halten sich dabei an den Händen. Ich habe die Rede nur so zur Sicherheit aufgeschrieben, aber der Zettel steckt in der Innentasche meines Jackets. Jetzt wage ich wage es nicht, das Glas loszulassen. Im Moment ist es alles, was mir Halt gibt.

„Aber er hatte es sich damals zur Schulzeit in den Kopf gesetzt. Mich würde es wirklich interessieren, wer damals alles seinen Hintern gegen ihn verwettet hat!“

Gelächter, und das an der richtigen Stelle der Rede. Ich entspanne mich ein wenig. Patrick sieht mich an, wie nur beste Freunde sich ansehen können. Wir haben gemeinsame Erinnerungen, die niemand hier in diesem Saal oder dieser Stadt jemals teilen wird. Selbst wenn wir ihnen von unseren verrückten Zeiten erzählten, sie würden es trotzdem nicht verstehen.

Ich sehe, dass er auch so denkt. Heute wird sich etwas in unserem Leben verändern, und das unwiderruflich. Er ist jetzt Ehemann. Damit hat er Verpflichtungen angenommen, auf die er seit der Schule gewartet hat. Ich kenne ihn gut. Ich kenne ihn sehr gut und ich weiß, er ist bereit dafür und wird ein liebender Ehemann, weil ich weiß, wie sehr er Melanie liebt.

„Bevor ich die Gäste eurer Hochzeit ins Koma langweile, erzähle ich nur eine kurze Geschichte, die vielleicht verdeutlicht, wie sehr du Melanie schon immer geliebt hast.“

Ich wende meinen Blick zurück zu den Gästen, zu seinen Eltern, die ich wie liebe wie meine eigenen – und zu ihren Eltern, die einen glücklichen Eindruck machen.

„Es war 1996 oder so was. Ich bin mir nicht mehr sicher. Patrick und ich sind auf das Dach eines Hochhauses in Stuttgart-Freiberg geklettert. Wir sind mit dem Fahrstuhl bis nach ganz oben gefahren und dann über eine kleine Feuerleiter aufs Dach. Er hatte mich am Morgen abgeholt und gesagt, es sei der Tag, da wollte er der ganzen Stadt sagen, dass er Melanie Wächter über alles liebt.“

Patrick hält Melanies Hand fest, und sie sieht ihn überrascht von der Seite an. Sie hatte von dieser Geschichte keine Ahnung, weil sie eben eine der besagten Erinnerungen von zwei besten Freunden ist.

„Wir standen also auf diesem Dach, es war so windig und mir war kalt. Aber Patrick wollte seine Mission unbedingt durchziehen, denn es war genau auf den Tag ein Jahr her, dass er sich in Meli verliebt hatte. Da stand er nun mit ausgebreiteten Armen und schrie dem Wind trotzig entgegen, dass er Melanie Wächter liebte und sie heiraten würde.“

Melanie sieht Patrick mit offenem Mund an, und dieser zuckt nur die Achseln. Er hat es damals getan und heute ist er am Ziel all seiner Träume. Ein kleiner, ein winziger Teil meines Herzen beneidet ihn. Weil er hat, was er wollte – und weil er glücklich ist dabei. Er hat sein Ziel nie aus den Augen verloren und es wirklich bekommen.

„Auf Patrick und Melanie.“

Ich erhebe mein Glas und alle gerührten Anwesenden im Saal tun es mir gleich. Endlich kann ich mich wieder setzen und stürze den Sekt in einem Zug hinunter. Ich habe es überstanden. Puh!

Das Schlimme an dieser Rede war nicht etwa die Tatsache, dass ich sie halten musste, und das vor einem Saal voller Menschen, von denen ich nur die Hälfte kannte. Das Schlimme war, dass ich nicht an Maya denken durfte. Es hätte mich komplett und völlig aus der Bahn geworfen, das durfte in diesem Moment nicht passieren.

Seit ich sie an der Bahn verabschiedet hatte, konnte ich an kaum etwas anderes mehr denken. Das sind Situationen, mit denen ich nicht besonders gut klarkomme, weil ich sie nicht gewöhnt bin und nicht darauf vorbereitet wurde. Weder in der Schule noch daheim von meinen Eltern. Wo gibt es das praktische Ratgeberbuch „In eine Prostituierte verliebt für Dummies“ zu kaufen? Ich habe mir sogar gestern Abend „Pretty Woman“ angeschaut. Aber etwas wirklich Nützliches habe ich nicht gelernt. Wie auch? Ich kann ihr schlecht ein Hotel als Luxusherberge bieten. Oder grau meliertes Haupthaar.

Aber ich habe einen Plan, und wenn ich zu Patrick sehe, dann versuche ich mir etwas von ihm abzuschauen.

Das Grausamste an meiner jetzigen Situation ist das Kopfkino. Arbeitet sie heute? Oder ist sie nur bei Jessie und sie verbringen einen netten Abend zusammen? Wenn sie „arbeitet“, dann als Tänzerin oder doch als ... ich kann das Wort gar nicht mehr aussprechen.

Die Vorstellung, ein anderer Mann ist jetzt gerade bei ihr und berührt sie so wie Patrick vor ein paar Tagen – das macht mich rasend. Mir wird schlecht und ich habe das Buffet noch komplett vor mir. Schon vor meiner Rede habe ich mir die Häppchen genau angesehen und einen Plan überlegt, wie ich sie auf meinen Teller ergattern soll, aber jetzt lasse ich mich von der Schlange einfach weiterschieben, vorbei an den Häppchen, die ich mir ausgeguckt hatte.

„Tolle Rede. Ehrlich. Danke.“

Patrick drückt sich neben mich in die Schlange und niemand beschwert sich. Immerhin ist er der Bräutigam, er darf alles.

„So was hatte ich nicht erwartet.“

Er hatte also Unsinn erwartet. Wenn ich ehrlich bin, ich auch. Die Rede in meiner Jackentasche weicht auch gehörig von meinem vorgetragenen Wort ab, aber das muss ich jetzt nicht sagen.

„Du warst so schnell weg ...“

Es ist weder eine Frage noch eine Feststellung. Patrick beobachtet mich und ich nehme, nur zur Überbrückung, ein paar Teigtaschen auf meinen Teller. Um genau die wollte ich mich beim Buffet eigentlich drücken. Die Anzahl an Teigtaschen deutet darauf hin, dass so ziemlich alle dieses Vorhaben hatten.

„Ja, ich war müde und musste das Mädchen noch heimfahren.“

Ich nenne sie absichtlich "das Mädchen", weil ich Lucy nicht über die Lippen bringe und Maya nicht sagen darf. Es würde verraten, dass sie ein echtes Leben hat, in dem ich sie zum Essen einladen darf, weitab von ihrem Leben als Lucy.

Patrick beobachtet jede meiner Bewegungen und mustert mich kritisch. Er kennt mich zu gut, und deswegen versuche ich, das Gespräch auf etwas anderes zu lenken.

„Übrigens, Melanie sieht wirklich wunderschön aus. Hut ab.“

Ich grinse ihn an, aber er hat mich durchschaut.

„Wieso bist du nicht zurückgekommen?“

Ich muss Zeit gewinnen, und so deute ich auf eine Platte mit Shrimps-Häppchen hinter ihm.

„Könntest du mir zwei von denen reichen, bitte?“

Ich bin allergisch auf Meerestiere, aber im Moment ist mir alles recht, um mich nicht den quälenden Fragen meines besten Freundes stellen zu müssen.

„Jonas. Wenn ich dir die Häppchen gebe, schwillt dein Gesicht an und du kotzt mir den Tisch voll.“

„Ach stimmt ja, habe ich ganz vergessen.“

Ob er den Schweiß auf meiner Stirn sehen kann? Wie wischt man sich den am unauffälligsten weg?

„Die Party war gut, aber sie wäre besser gewesen, wenn du auch da gewesen wärst. So als bester Freund.“

Sein Blick ist bohrend. Selbst wenn mir jetzt eine gute Ausrede einfallen mag, sie wird ihn nicht täuschen, also könnte ich ihm auch genauso gut die Wahrheit sagen, aber das würde bedeuten, ich müsste es aussprechen. Mir selbst die Wahrheit eingestehen. Dabei weiß ich doch noch gar nicht, wo ich stehe oder was ich mache.

„Hat es was mit der Stripperin zu tun?“

Sofort zucke ich zusammen. Nicht nur, weil er natürlich recht hat, sondern weil mir das Wort nicht gefällt. Nicht als Beschreibung für Maya. Wieder drängen sich Bilder in meinen Kopf. Wo ist sie jetzt? Wieso kann sie nicht an mich denken? Würde sie überhaupt an mich denken?

Bei unserer letzten und einzigen Begegnung wollte sie mich zuerst nicht wiedersehen. Dann vielleicht doch. Dann hat Jessie irgendwie die Stimmung ruiniert, und jetzt hoffe ich einfach, sie lässt sich wie abgemacht von mir bekochen und findet keine Ausrede für eine Absage. Mit diesem Gedanken beschäftige ich mich die ganze Zeit. Ich starre auf mein Handy und warte auf ein Klingeln oder das Piepsen, welches das Eingehen einer Kurznachricht ankündigt. Sicher sagt sie ab.

Ich habe so manchen Korb in meinem Leben erhalten und auch verteilt. Aber irgendwie würde mich eine Absage von Maya wirklich treffen.

„Jonas?“

Ach richtig. Die Hochzeit meines besten Freundes.

„Sorry. War kurz in Gedanken.“

Er legt mir die Hand auf die Schulter und grinst breit.

„Du bist verliebt.“

„Quatsch!“

Vielleicht kommt mein Einwand etwas zu schnell und zu trotzig. Ich klinge ganz, als wäre ich noch mal fünfzehn Jahre jung. Und um ehrlich zu sein, ich fühle mich auch so.

„Doch, doch.“

Er packt meinen Arm, zieht mich aus der Schlange am Buffet zur Seite und sieht mich an.

„Du bist mein bester Freund, deswegen sage ich es dir im Guten ... du bist verliebt.“

Noch immer will ich mich gegen diese verrückte Tatsache wehren, weiß aber schon, als ich Luft zu einer Widerrede hole, dass ich keine Argumente habe. Daher belasse ich es bei einem schweren Ausatmen.

„Ich habe gesehen, wie du sie angesehen hast. Als sie für mich getanzt hat.“

Patrick verschränkt die Arme vor der Brust und ich meine, ein kurzes Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen. Liegt es an der Erinnerung an den Abend? An den Tanz?

„Ich kenne das. Ich habe heute Meli geheiratet. Wir beide wissen, wie es angefangen hat. Ein Blick, das Gefühl zu wissen, sie ist die Richtige. Aber Meli tanzt nicht nackt vor anderen Kerlen.“

Wenn Patrick nur wüsste, was Maya wirklich macht, er würde mir vermutlich den Kopf in die Toilette halten, damit ich wieder klar denken kann. Vermutlich hätte er damit auch recht. Aber wenn mich jemand versteht, dann muss es doch Patrick sein.

„Ich habe Jahre gebraucht, um sie zu überzeugen.“

„Ich weiß. Ich war bei jedem Meter dabei. Verdammt, ich fühle mich, als hätte ich sie heute auch ein bisschen geheiratet.“

Er lacht, ich werfe einen kurzen Blick zu Melanie.

„Hör zu, Jonas. Wenn du sie wirklich haben willst, dann streng dich an. Aber so was passiert nicht in einer Woche. So was dauert.“

Ich will ihm sagen, dass ich sowieso nur fünf Tage Zeit habe, beiße mir aber auf die Zunge und nicke. Er legt mir seine Hände auf die Schultern und sieht mich ernst an.

„Es lohnt sich manchmal.“

Er lässt den zweiten Teil des Satzes weg. Manchmal lohnt es sich nämlich eben nicht. Zum Beispiel hat Alyssa Milano nicht einen meiner zahlreichen Fanbriefe beantwortet. Mir könnte mit Maya das Gleiche passieren, ich weiß es. Das weiß ich genau. Aber ich schiebe diese Option erfolgreich in so weite Ferne, dass ich sie nicht mehr sehen kann und als „unmöglich“ abtue. Aber natürlich stehen die Chancen für genau dieses Ende sehr gut. Patrick hat mir ein Happy End vorgemacht. Es ist also doch möglich.

„Lass dir nur nicht wehtun. Du bist nämlich schon verliebt.“

Damit lässt er mich doch tatsächlich stehen. Mich und meine Teigtaschen, die ich nicht einmal essen möchte. Was erlaubt er sich eigentlich? Ich werde doch wohl besser als jeder andere wissen, ob ich verliebt bin oder nicht! Doch bevor ich Patrick vom Gegenteil überzeugen kann, wird er von einer Traube Gratulanten verschluckt, die alle begeistert sind von diesem Tag, und ich sehe nur, wie Melanie seine Hand nimmt und ihn zur Tanzfläche führt. Obwohl alle beim Essen sind und die Musik nur leise im Hintergrund läuft, scheinen die beiden auf einem ganz eigenen Planeten zu sein, vermutlich ist es die Venus. Wir alle spielen hier auf der Erde keine Rolle mehr, es gibt nur noch sie beide und diesen Tanz.

Mir ist der Appetit ohnehin vergangen, also stelle ich meinen Teller ab und beobachte die beiden von meinem Platz am Tisch aus. Das ist Liebe. Zu meiner Bewunderung mischt sich wieder etwas Neid. Ich muss an Maya denken. Schon wieder ...

5 Tage Liebe
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