Ich habe vier Freunde angerufen, bevor ich über Ecken und Umwege eine Adresse bekommen habe, hinter der sich die Wohnung einer gewissen Jessie verbergen soll. Genau die Jessie, die ich in der U-Bahn Station habe kennenlernen dürfen, Mayas Freundin. Sie ist meine erste Anlaufstation, da Mayas Handy ausgeschaltet ist und ich ihr bereits acht Nachrichten hinterlassen habe.

Jetzt drücke ich die Klingel und warte. Es ist schon nach zehn Uhr, vermutlich ist es unverschämt, um diese Uhrzeit noch zu klingeln – aber im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, heißt es. Ich weiß nur, dass ich atme, weil ich es in der kühlen Nachtluft sehen kann.

Ich warte. Dann höre ich das Knacken in der Sprechanlage.

„Ja?“

„Hallo, hier ist Jonas, ich wollte fragen, ob Maya zufällig bei dir ist?“

Eins. Zwei. Drei. Ich zähle meine Pulsschläge am Hals, während ich auf eine Antwort warte. Vier. Fünf.

„Moment.“

Dann das erlösende Surren, und ich schiebe die Tür auf. Der Fahrstuhl ist außer Betrieb, ich muss fünf Stockwerke nach oben steigen. Ich höre Schritte auf der Treppe, die mir entgegenkommen. Und im dritten Stock sehe ich sie.

„Was machst du hier? Woher weiß du, dass ich hier bin? Wie hast du die Adresse gefunden?“

Sie trägt weiße Hüttenschuhe mit blauen Bommeln, ich muss kurz lächeln. Dazu graue Jogginghosen und einen weiten Strickmantel, den sie um ihren Körper zieht, als wäre er eine Rüstung, der sie vor meinen Worten schützen kann. Ihre Locken tanzen noch ein bisschen vom Treppenlaufen.

„Soll ich die Fragen in chronologischer Reihenfolge beantworten?“

„Jonas ...“

„Okay, ich habe ein bisschen recherchiert, okay? Ich muss noch was loswerden.“

„Ich kann dich hier nicht brauchen. Jessie muss schlafen, und morgen ...“

Sie bricht ab – und bevor ihr eine günstige Ausrede einfällt, schiebe ich meinen Satz schnell dazwischen.

„Es dauert nicht lange. Bitte.“

Langsam komme ich auf sie zu und ziehe sie auf die erste Stufe neben mich. Wir sitzen eng nebeneinander, unsere Hüften berühren sich, ihr Ellenbogen bohrt sich durch meine Jacke in meine Seite.

„Ich will wissen, was los ist. Ich muss es wissen, weil ... tja, weißt du, als Patrick damals in der Schule als Teenager sein Herz gebrochen bekam, da waren er und sein Herz noch jung. Junge Herzen heilen schnell. Das ist so, wie wenn Kinder zwei Sprachen gleichzeitig lernen, ganz ohne Probleme. Später dann wird es immer schwerer. Ich kenne ein Kind, das spricht vier Sprachen und ist gerade mal fünf. Ich habe versucht, mir selbst Italienisch beizubringen und kann nur einen Kaffee bestellen. Weil es mit dem Alter schwerer wird.“

Ihre Augen beobachten mich und sicher spiegeln sie sich in meinen. Ich habe eine ganz genaue Vorstellung von dem, was ich sagen will. Ich habe alle Sätze fertig in meinem Kopf, ich habe Pläne B bis D für alle ihre Reaktionen. Aber jetzt schneidet meine Nervosität jegliche Verbindung zwischen Kopf und Zunge ab. Was will ich doch gleich sagen? Ich muss mir schnell etwas Neues einfallen lassen. Also überlasse ich meinem Herzen die Kontrolle und schalte den emotionalen Autopiloten ein.

„Also, was ich sagen will ... Patricks Herz ist eben wieder ganz geworden, weil er erst fünfzehn war. Aber wenn ihm das heute noch mal passieren würde, dann stehen die Chancen schlecht, dass es wieder heilt. Weißt du ...“

„Was hat Patrick damit zu tun?“

„Er ist ein Exempel. Mein Exempel. Wenn Patrick es schafft, Melanie zu heiraten, dann können Herzen heilen und Liebe erzeugt Gegenliebe, verstehst du?“

„Kein Wort.“

Das läuft super. Ich greife nach ihrer Hand, die sich weich und warm in meiner anfühlt. Ihre Finger sind lang und dünn und wunderschön. Die Erinnerung an ihre Haut ist noch so stark, ich spüre eine Gänsehaut auf meinem Körper.

„Mein Herz würde nicht mehr so leicht heilen, wenn du jetzt gehst. Vielleicht gar nicht mehr. Aber wenn du trotzdem gehen willst, dann will ich wissen, gegen was ich verliere.“

Ich habe Angst, ihr ins Gesicht zu sehen, also spiele ich mit ihren Fingern zwischen meinen und konzentriere mich auf nichts anderes mehr.

„Ich musste noch mal anschaffen gehen. Ich brauche noch etwas Geld.“

So tötet man Vampire, habe ich mir sagen lassen: den Holzpflock direkt durchs Herz rammen!

„Auch wenn ich es nicht mehr will. Wegen dir. Weil es dir so wehgetan hat und ich dir nicht wehtun will.“

Sie berührt meine Wange mit ihrer Nase, und ich muss automatisch lächeln, obwohl mein Herz von Buffy der Vampirjägerin zu Tode malträtiert wird. Ihre Stimme ist ein Flüstern, ganz nah an meinem Ohr.

„Aber ich muss, Jonas. Es tut mir so unendlich leid. Ich wusste keinen anderen Weg und ich kann dir nicht mal mehr in die Augen schauen. Früher war es nur ein Job, den ich gehasst habe, und trotzdem kam ich damit klar. Was andere denken, ist mir egal; ich weiß, wer ich bin.“

Sie streichelt meine Hand langsam. Ich meine ertrinken zu müssen, so schwer fällt mir das Atmen.

„Aber du siehst mich so anders, und ich habe mir so gefallen, wie deine Augen mich sehen. Ich tue dir weh, Jonas, das bringt mich fast um.“

Sie küsst meine Wange und ich schließe die Augen.

Das ist wie bei diesen Cartoon Strips, bei denen die Untertitel nicht zu den Bildern passen. Maya ist zärtlich und liebevoll, sucht meine Nähe und scheint sie auch zu genießen  aber ihre Worte tun mir weh, als würde man mich bei lebendigem Leib verbrennen und gleichzeitig ertränken.

„Also hast du mit einem anderen geschlafen, als du von mir weggegangen bist?“

Ich will die Antwort nicht hören, will es nicht wissen und weiß die Antwort doch jetzt schon. Patrick hat sich geirrt, als er sagte, ich hätte gegen ihren Job gewonnen. Maya sagt nichts, und so bin ich gezwungen, die Augen wieder zu öffnen. Ihre stehen unter Tränen, und es tut so sehr weh.

„Ich verstehe.“

„Nein, du verstehst nicht. Ich brauche das Geld ganz dringend, sonst fällt alles zusammen. Und ich habe so lange darauf gewartet, ich kann sie jetzt nicht im Stich lassen.“

„Wen ihm Stich lassen?“

„Jonas, unter anderen Umständen würde ich sofort aufhören, das musst du mir glauben!“

„Wie viel Geld brauchst du denn?“

„Nein. Ich will kein Geld von dir. Ich schaffe das schon allein.“

„Wieso nicht? Von den anderen nimmst du auch Geld. Schlaf mit mir und ich zahle den vollen Preis.“

Sie zieht ihre Hand zurück und sieht mich an.

„Nein.“

„Okay, dann verkaufe ich meine Couch oder meine Seele oder sonst was. Aber hör auf!“

Ein ganz kleines schüchternes Lächeln zuckt über ihr Gesicht und verschwindet so schnell, wie es gekommen ist. Aber bevor sich wieder diese Traurigkeit ausbreitet, schnappe ich ihre Hand, halte sie fest in meiner (was bei der verdächtigen Blaufärbung meiner Hand zu erstaunlichen Schmerzen führt) und sehe sie direkt an. Ich fahre das letzte Geschütz auf.

„Bitte Maya.“

„Ich brauche fast zweitausend Euro, Jonas. Und das bis übermorgen. Ich muss es tun.“

„Verkauf dein Flugticket. Ich verkaufe auch was. Gemeinsam kriegen wir die Kohle schon zusammen, für was auch immer du sie brauchst. Okay?“

Der Plan klingt nach einer guten Möglichkeit, das sehe ich in ihrem Gesicht, sie sagt nicht sofort nein, sie denkt ernsthaft darüber nach. Jetzt muss ich am Ball bleiben, ihre Verteidigung ist fast ausgespielt, ich muss jetzt meine Worte so geschickt wählen, wie Gareth Bale die Pässe bei Tottenham Hotspur.

„Das kriegen wir hin.“

„Und wie komme ich nach Barcelona?“

Gar nicht, will ich sagen, zucke aber nur die Schultern.

„Ich fahre dich.“

„Du spinnst.“

„Ich fahre dich. Ich bin ein guter Fahrer, habe nur drei Punkte in Flensburg. Ich fahre dich, wohin du willst.“

Sie schließt die Augen und atmet langsam ein und aus.

„Jetzt sag endlich JA, du Angsthase!“

Die Stimme kommt von oben. Überrascht sehe ich zum Stockwerk über uns. Wie eine lächelnde Version von Gollum mit schwarzer Kapuze sitzt Jessie am Treppengeländer. Sie hat uns belauscht, aber anstatt sauer zu sein, will ich zu ihr rennen und sie fest umarmen. Wenn ihre Freundin meinen Plan gut findet, dann muss Maya auch ja sagen.

Mayas Augen öffnen sich, ein Lächeln erscheint.

„Okay. Ich ergebe mich. Ich verkaufe das Ticket. Aber wir müssen die zweitausend Mücken zusammenkriegen.“

„Das schaffen wir! Du wirst schon sehen!“

Ich denke gar nicht nach, ich drücke einfach meine Lippen auf ihre und küsse sie. Vergessen all die Worte, die wir uns in der Zwischenzeit an den Kopf geworfen haben, vergessen das langsame Zerreißen unserer Herzen, ich will sie nur noch küssen. Und sie küsst mich zurück, legt die Arme um meinen Nacken, während sie ihren Körper gegen meinen drückt.

„Herrgott, nehmt euch doch ein Zimmer.“

Jessies Stimme werde ich ab sofort immer mit positiven Momenten in Verbindung bringen. In meinem Kopf wird die Verkündung des Mauerfalls nur noch in ihrer Stimme erklingen. Ich bin so glücklich, es fühlt sich an, als ob kleine Protonen auf meiner Haut tanzen und dabei immer wieder zu Maya überspringen wollen.

Wir müssen nur zweitausend Euro verdienen. Das wird ein Klacks.

5 Tage Liebe
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