Dreiundzwanzigstes Kapitel

Zander bemühte sich, ruhig zu atmen, als er auf der Veranda von Callias Vater stand, in den Hügeln von Tiyrns. Nein, falsch, es war nun Callias Veranda, Callias Haus. Früher war er jedes Mal furchtbar nervös gewesen, wenn er herkam, und heute ging es ihm keinen Deut besser. Dabei war doch alles anders, vollkommen anders. Und in diesem Moment etwa so schlimm, wie er es sich irgend vorstellen konnte.

Er klopfte. Blätter segelten in der leichten Brise und tänzelten über den Weg auf den Rasen. Das Haus war riesig, im Tudor-Stil der Menschenwelt gehalten. Es bot sehr viel mehr Platz, als sie brauchen würden. Zander hoffte, dass Callias Herz nicht an ihm hing, denn dort, wo sie hingehen würden, konnten sie es unmöglich mitnehmen.

Die Tür wurde geöffnet, und Callia stand vor ihm. Sie lächelte nicht, aber ihre Augen leuchteten auf, als sie ihn sah, und nach allem, was sie während der letzten achtundvierzig Stunden durchgemacht hatte, durfte er wohl nicht mehr erwarten.

»Komm rein, es ist kalt.« Sie legte eine Hand auf seinen Unterarm, von der aus Wärme in ihn hineinströmte, bis zu jenen Stellen, die in seinem Gespräch mit dem König erkaltet waren, und alle Furcht vertrieb. Callias Nähe beruhigte ihn auf eine ganz eigene Weise.

Sie schloss die Tür hinter ihm und rieb sich die Arme, während er seine Stiefel an der Eingangsmatte abputzte. »Wo ist Max?«, fragte er.

»Er schläft.« Sie führte ihn ins Wohnzimmer mit den hochlehnigen Sesseln und den unbequemen Sofas. »Er war schrecklich müde, was wohl kein Wunder ist, aber«, sie blickte zur Treppe, »ich mache mir Sorgen.«

»Ihm geht es gut«, sagte Zander, ging zu ihr und umfing sanft ihre Oberarme. »Du hast ihn untersucht und sogar von einer zweiten Heilerin ansehen lassen. Körperlich ist er gesund.«

»Ja, ich sorge mich auch mehr um seine Psyche.«

»Ich glaube, dass er härter im Nehmen ist, als wir beide denken, Thea.«

Für einen kurzen Moment wirkte sie verärgert, dann entwand sie sich ihm und stellte sich vor den Kamin. »Vermutlich lief deine Unterhaltung mit dem König nicht sehr gut.«

Zander biss die Zähne zusammen. Der König, ihr biologischer Vater, der einen Dreck auf andere gab. Selbst jetzt, da er wusste, dass Callia seine Tochter und Max sein Enkel war, der Thronfolger von Argolea, der niemals anerkannt würde. »Er ist komplett senil.«

»Ja«, hauchte sie und blickte in die Flammen. »Es ging also nicht gut.«

Sie wusste, was der König gesagt hatte, auch ohne dass Zander es ihr erzählte.

»Hör zu.« Zander ging zu ihr. »Wir pfeifen auf ihn. Wenn er so tun will, als sei nichts gewesen, meinetwegen. Aber ich lasse mich nicht zu seinem Bauernopfer machen. Pack das Nötigste für dich und Max zusammen, und wir verschwinden noch vor Einbruch der Nacht, ehe es irgendwer bemerkt.«

Sie drehte sich zu ihm, und jedwedes Leuchten in ihren Augen war erloschen. »Wir gehen nicht mit dir.«

»Was?«, fragte er.

»Oh, wow.« Sie legte die Hände an ihre Wangen und atmete tief ein. »Das ist schwieriger, als ich gedacht hätte.« Dann nahm sie die Arme wieder herunter und sah ihn an. »Wir gehen nicht mit, Zander. Ich habe es mir in den letzten vierundzwanzig Stunden gründlich überlegt. Es kann nicht funktionieren.«

»Wovon redest du?« Ein Anflug von Panik überkam ihn, und er versuchte, aus ihrer Miene zu lesen, was in ihr vorging, konnte es jedoch nicht.

»Du, ich, wir.« Sie rang die Hände. »Ich glaube, es gibt einen Punkt, an dem es entweder sein soll oder nicht, und wir haben diesen Punkt verpasst. Zu vieles hat sich geändert, und ich will nicht zurück. Du wirst immer in meinem Herzen sein, aber ich muss mich auf Max konzentrieren. Er ist der Mittelpunkt meines Lebens, niemand sonst.«

»Callia, warte. Falls es um das geht, was der König gesagt hat …«

»Nein, Zander«, sagte sie leise. »Es geht um mich und das, was ich will. Mein Leben lang haben andere mir gesagt, was ich tun soll, und damit ist es vorbei. Es wird Zeit, dass ich meine eigenen Entscheidungen treffe. Und jetzt …« Sie holte Luft. »Jetzt will ich hier bleiben.«

Ihre Worte versetzten ihm einen Stich. Über das Band zwischen ihnen versuchte er, die Lüge aufzuspüren, von der er sicher war, dass sie sich hinter dem verbarg, was sie sagte. Doch er fand nichts. Anscheinend schirmte sie ihre Gefühle vor ihm ab. Oder sagte sie die Wahrheit?

»Du«, begann er und konnte es nicht einmal denken, geschweige denn aussprechen, »willst mich nicht?«

»Ich denke, nein, ich weiß, dass es ein Fehler wäre, mit dir in die Menschenwelt zu gehen«, antwortete sie. »Ich möchte, dass du Isadora heiratest, Zander. Es ist das Richtige.«

Der Schmerz bohrte sich tief in seine Brust, und sein Herz, das Callia aufgetaut und zu neuem Leben erweckt hatte, zerbrach in tausend Stücke, gleich hier im Wohnzimmer ihres Vaters.

Vor Tagen, als er mit Titus an jener Klippe stand und in die Schlucht hinabblickte, hatte er sich gewünscht, zu sterben. Aber da hatte er wenigstens nichts empfunden. Er war so daran gewöhnt gewesen, nichts zu fühlen, dass ihm der Tod angenehm erschien. Nun wusste er, was echter Schmerz war; und nicht einmal der Tod könnte ihn von dieser Tortur befreien.

Ihm fiel ein, was er ihr in der Kolonie gesagt hatte, und diesmal entging ihm nicht, dass sie ihm mit keinem Wort gestanden hatte, sie würde seine Liebe erwidern, oder die Zukunft nach dem Finden ihres Sohnes erwähnte. Wie konnte er ein solcher Idiot sein? Sie hatte ihn nicht gewollt, nicht so wie er sie. Er hatte sich von seinen Wünschen und Bedürfnissen blenden lassen und die Anzeichen übersehen, die er längst hätte wahrnehmen müssen.

Er wartete, dass seine Wut aufflammte. Sehnte sich regelrecht danach. Doch sie war fort. War das nicht blanke Ironie? Das eine Mal, dass er sie brauchte, um nicht den Verstand zu verlieren, war sie nicht da.

»Zander, warte!«

Er konnte nicht. Er eilte zur Tür. Draußen blieb er stehen und inhalierte zittrig die kühle Luft.

Über Achthundert Jahre hatte er auf sie gewartet und endlich seine Menschlichkeit gefunden. Doch am Ende konnte er nichts vorweisen als einen Sohn, der ihn nicht kannte, und eine Verlobte, die er nicht wollte. Tröstlich war nur, dass er nicht mehr unsterblich war. Nun brauchte er bloß abzuwarten, bis Callia an Altersschwäche starb, dann konnte er endlich auch sterben.

Isadora fuhr sich mit den Händen durch ihr kurzes Haar und betrachtete sich im Spiegel der Frisierkommode. Das langärmlige weiße Brautkleid war schwer und kratzig, und es erinnerte sie an die Gewänder, die sie früher trug. So vieles war geschehen und dennoch nichts anders. Hier stand sie, dieselbe klösterliche Frau, die sie vor Wochen gewesen war, bevor Casey in ihr Leben trat und sie erfuhr, dass Callia ihre Halbschwester war. In wenigen Stunden wäre sie gebunden; dann wäre sie nicht mehr Besitz ihres Vaters, sondern Zanders.

Ihre Seele schrie nach Freiheit, und sie wollte aus der Haut fahren. Als die Panik immer unerträglicher wurde, stemmte sie die Hände auf die Kommode und starrte ihr Spiegelbild an.

Allerdings sah sie darin nicht ihr Gesicht. Der Spiegel wurde abwechselnd heller und dunkler, und ein Bild erschien. Zunächst war es verschwommen, wurde aber rasch klarer. Dann waren Isadoras Züge zu erkennen. Sie lag nicht in ihrem Bett, sondern in einem anderen, umgeben von flackerndem Licht und rauem Stein. Ihre Haut war sonnengebräunt, ihr Gesicht gerötet. Jemand – Wärme flutete sie, als das Bild zurückfuhr und schärfer wurde – küsste ihren Hals, ihre Schultern, die oberen Wölbungen ihrer Brüste. Sie sah ihn nur von hinten: den muskulösen Rücken, den strammen Hintern, als er sich im Kerzenschein über sie beugte.

Isadora schluckte und beobachtete die Szene fasziniert. Ihr Körper räkelte sich unter dem kräftigen Mann, und das Wonnestöhnen verriet ihr laut und deutlich, dass sie alles genoss, was er mit ihr tat.

Hitze flutete ihren Leib und strömte nach unten. Die Schenkel zusammengepresst, unterdrückte sie ein Stöhnen. Ihre Augen weiteten sich, als sie sich näher zum Spiegel neigte, um das Gesicht des Mannes zu sehen. Nachdem sie nun wusste, wie Zander für Callia empfand, konnte sie unmöglich seine Berührung so genießen. Es war falsch. Es war …

Und dann hob der Mann seinen Kopf. Als ihr Abbild im Spiegel den Höhepunkt erreichte, warf sie den Kopf nach hinten und stöhnte ekstatisch.

Isadora stieß einen stummen Schrei aus und wich zurück. Dabei fiel ihr Stuhl klappernd um. Angst schnürte ihr die Kehle zu, und sie fing an zu zittern. Nein, das konnte nicht sein. Etwas war furchtbar falsch. Die erste Zukunftsvision, die sie seit über einem Monat hatte, konnte nicht stimmen. Denn auf keinen Fall würde sie in diesem Reich oder dem nächsten jemals so mit Demetrius allein sein.

»Du hast wahrlich lange gebraucht.«

Isadora fuhr herum und fand sich von Angesicht zu Angesicht mit Persephone wieder. Die Göttin der Unterwelt hatte ihr weißes Gewand mit einem Goldschal in der Taille gegürtet und saß auf einem Sessel in Isadoras Sitzecke. Ihre langen Beine hatte sie überkreuzt und wippte leicht mit dem Fuß. Von ihren dunkelrot bemalten Zehen baumelte eine goldene Sandale. »Ich wollte diese Stadt schon dem Erdboden gleichmachen«, sagte Persephone und musterte Isadora mit strengen grünen Augen. »Warten gefällt mir nicht, kleine Königin. Ich verplempere schon mein ganzes Leben mit Warten.«

Oh, Mist, die Vereinbarung, die Isadora beinahe vergessen hatte! »Du bist hier, weil …«

»Weil du soeben deine Kräfte zurückgewonnen hast. Und nun gehören sie mir, einen Monat lang. Das war übrigens heiß«, ergänzte sie mit einem Nicken zum Spiegel. »Ich bin gespannt, was als Nächstes passiert.«

»Du kannst nicht …«

Isadora verstummte, als Persephone sich zur vollen Größe aufrichtete. Sie war größer als die Argonauten und besaß mehr Macht in ihrem kleinen Finger als irgendeiner von ihnen im ganzen Leib. Zu spät fiel Isadora ein, dass die Göttin sie und diese Burg wegpusten konnte, wenn sie wollte. »Ich kann, und ich werde. Einen Monat, kleine Königin. Solange bist du ohne deine Kräfte ausgekommen; ein Monat mehr wird dich nicht umbringen.«

Mit einem Puff war Persephone weg. Isadora hielt sich am Bettpfosten fest, damit sie nicht umkippte. Draußen begannen Glocken zu läuten, die ihre Vermählung ankündigten.

Es fühlte sich an, als würde von allen Seiten mit winzigen Messern auf sie eingestochen. Ihre Lunge schien plötzlich zu klein. Sie begriff nicht, was sie gerade gesehen hatte, aber etwas tief in ihr sagte ihr, wenn sie hierblieb, würde es wahr werden, ob sie sich an Zander band oder nicht.

Das durfte sie nicht zulassen. Sie konnte nicht bleiben, und sie würde sich niemals so von Demetrius berühren lassen.

Panisch blickte sie sich im Zimmer um und versuchte, einen Plan zu schmieden. Leider kamen ihr nur unbrauchbare Ideen, die sie sofort verwarf. Orpheus hatte sich seinen Tarnumhang zurückgeholt, also käme sie nicht unbemerkt aus der Burg. Und das Siegel … Anscheinend wusste niemand, was nach der Begegnung mit Atalanta aus dem Siegel geworden war.

Oh Gott, oh Götter, oh Götter!

»Mylady«, sagte Saphira, die mit einem dampfenden Becher in der einen Hand und dem gefürchteten Goldschleier in der anderen ins Zimmer kam. Der Schleier sollte Isadora bis zur allerletzten Sekunde vor Zander verhüllen. »Alle sind bereit für Euch.«

Isadoras Brustkorb hob und senkte sich mit ihren kurzen, angestrengten Atemzügen. An den Bettpfosten geklammert, blickte sie auf und versuchte, sich zu konzentrieren. Die zierliche Saphira erschrak sichtlich, als sie bemerkte, dass Isadora mitten in einer heftigen Panikattacke steckte.

Die Zofe ließ den Schleier aufs Bett fallen und eilte zu Isadora.

»Oh, Mylady.« Nach wie vor hielt sie den Becher in der Hand, legte den Arm um Isadora und stützte sie. Isadora klammerte sich an die schmalen Schultern ihrer Dienerin. »Es ist unverzeihlich, dass der König Euch das antut.«

»Ich … kriege … keine Luft.«

»Natürlich nicht. Das würde keine an Eurer Stelle.« Saphira führte Isadora zur Ottomane. Ihre Miene war hart vor Entschlossenheit. »Ihr tut das nicht. Ich lasse es nicht zu.«

»Du … du kannst es nicht … verhindern. Keiner … kann das.« Oh Götter!

Saphira kniff die Lippen zusammen und reichte Isadora den Becher. »Hier, trinkt das.«

»Ich …«

»Trinkt«, wiederholte sie in einem Tonfall, wie Isadora ihn noch nie von ihr gehört hatte. »Dann werdet Ihr Euch gleich besser fühlen.«

Mit zitternden Händen hob Isadora den Becher an ihre Lippen. Der Tee roch nach Lavendel und noch etwas, das ihr vage bekannt vorkam. Die dampfende Flüssigkeit glitt ihr heiß die Kehle hinunter und wärmte sie von innen nach außen. Einer nach dem anderen entspannten sich ihre Muskeln.

Saphira kniete zu Isadoras Füßen. »So ist es gut.«

Träge nickte Isadora. Sie nahm noch einen Schluck. Die Panikattacke ebbte ab, doch wenn sie an das dachte, was ihr bevorstand …

Saphiras kühle Hände ergriffen Isadoras Knie durch den dünnen Kleiderstoff. »Ich habe Freunde, die Euch helfen können.«

»Wie?«

»Sie können Euch von hier wegbringen, bis Euer Vater dahingeschieden ist. Sobald er nicht mehr ist, bringen sie Euch zurück.«

Isadora überlegte. So einfach war es gewiss nicht, oder? Etwas in ihrem Hinterkopf schrie Nein!, aber sie konnte nicht recht hinhören. Ihr fiel das Denken schwer, denn alles wurde wie vernebelt.

Saphira hielt ihr den Becher an den Mund. »Trinkt.«

Genau, trinken, das sollte sie. Dann fühlte sie sich besser.

Ihre Muskeln schienen gar nicht mehr zu arbeiten. Als Saphira den Becher an Isadoras Lippen kippte, konnte sie nicht anders, als zu schlucken. Während der warme Tee in ihren Bauch lief, fühlte sie, wie der letzte Rest Anspannung aus ihrem Körper wich.

Ein komisches Lächeln umspielte Saphiras Mund. »Schön. So ist es gut, Prinzessin.«

Saphiras Gesichtsausdruck bereitete Isadora Sorge, doch die wurde gleich von einem einzigen Gedanken vertrieben. »C-Casey.« Sie durfte nicht zu lange von ihrer Schwester getrennt sein. Diese Bedingung gehörte zu ihrer Verbindung als Erwählte.

»Zerbrecht Euch wegen Casey nicht Euren kleinen Kopf. Ich verspreche, dass Ihr nicht mehr lange über sie nachdenken müsst.« Saphira stand auf, als wäre alles entschieden, zog Isadora hoch und stützte sie, weil sie beängstigend schwankte. Benommen registrierte die Prinzessin, dass ihre Zofe viel stärker war als sonst, was seltsam anmutete.

»Ich bringe Euch hier raus, Prinzessin. In wenigen Stunden wird dies alles nichts als eine böse Erinnerung sein. Ihr vertraut mir doch, nicht wahr?«

Wie auf Stichwort nickte Isadora, obwohl sie das Gefühl hatte, sie würde sich selbst aus der Ferne beobachten und hätte keinerlei Kontrolle über ihr Tun.

Saphira lächelte wieder. »Gut. Ich habe Euch ja auch noch nie im Stich gelassen, nicht?«

Nein. Allerdings schrie die kleine Stimme in Isadoras Kopf, dass ein einziges Mal schon genügte.