Sechzehntes Kapitel

Callia wurde das Herz schwer, als Zander ins Zimmer kam. Der allzeit selbstbewusste Wächter sah wie ein Toter aus. Nicht physisch, nein, er war stark und gesund wie eh und je, vollständig von seinen Wunden genesen. Er sah emotional tot aus: seine Augen leer, der Gang schwer und das blonde Haar zerwühlt, als wäre er sich mehrfach mit den Fingern hindurchgefahren. Ein unsichtbares Gewicht schien seine Schultern nach unten zu drücken und mit ihnen die Atmosphäre um ihn herum.

Sie hatte ihn nie als alt gesehen. Ein gewöhnlicher Mensch würde ihn auf Mitte dreißig schätzen, für einen auf verwegene Art attraktiven Mann in den besten Jahren halten. Der war er nicht. Zander war 829 Jahre alt. Und heute, jetzt gerade, sah man diese Jahre in seinen graublauen Augen, die sie an alles erinnerten, was er getan und gesehen hatte und was gewesen war.

»Lena sagt, sie ist sehr zufrieden mit dir.«

Callia musterte ihn stumm. Er trug die traditionelle schwarze Kampfhose, die Titus ihm in die Höhle mitgebracht hatte, und sein langärmeliges weißes Henley-Shirt, in dem seine Muskeln zwar zur Geltung kamen, die Zeichnungen der Argonauten hingegen weitestgehend verborgen blieben. Helle Stoppeln sprossen auf seinem Kinn, als hätte er sich seit Tagen nicht rasiert, und die zarten Narben auf seinen Fingerknöcheln und dem Hals sowie kleine Flecken von entblößter Haut hier und da ließen ihn nur noch rätselhafter und faszinierender wirken.

Götter, er war wirklich wunderschön, selbst mit den Narben aus Jahrhunderten in der Schlacht. Callia erinnerte sich, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Es war fast elf Jahre her. Damals war sie dreißig gewesen – erwachsen für menschliche Verhältnisse, für argoleanische praktisch noch ein Teenager. Der König hatte sie gebeten, die Position der königlichen Heilerin zu übernehmen, welche Jahre vorher ihre Mutter innegehabt hatte, bis zu ihrem Tod. Deshalb war Callia auf der Burg gewesen, überwältigt von dem ganzen Prunk und zugleich bemüht, nicht allzu unwissend zu erscheinen. Und auf dem Weg zum König war sie Theron und Zander auf dem Korridor begegnet.

Damals wie heute hatte ihr Herz gestottert und sie hatte das Gefühl gehabt, keine Luft mehr zu bekommen. Diese Wirkung hatte er immer auf sie, besser gesagt, sie nahm beständig zu, bis zu jener Nacht, als er sie ins Studierzimmer des Königs zog und sie alles, was sie jemals über Gleichgewicht, Ordnung und Kontrolle körperlichen Verlangens gelernt hatte, über den Haufen warf.

Er steckte die Hände in die Gesäßtaschen seiner Hose und rührte sich nicht. Offensichtlich wusste er nicht, was er sagen oder tun sollte, und in der Stille begann Callias Puls zu rasen. Sie war nicht sicher, warum er so still war, aber eines war klar: Er hatte Schuldgefühle. Und mit denen konnte sie nicht umgehen.

»Zander, du musst nicht bleiben. Mir geht es gut, und du bist mir nichts schuldig.«

»Habe ich dir je von meiner Mutter erzählt?«

Die seltsame Bemerkung machte sie sprachlos, umso mehr, als sein Ausdruck deutlich verriet, dass das, was ihm durch den Kopf ging, wichtig war. »Nein«, sagte sie verhalten, »ich glaube nicht.«

»Sie arbeitete in der Burg.« Er kam zu ihr und setzte sich neben sie auf das Bett, achtete jedoch darauf, sie nicht zu berühren. »Es war im zwölften Jahrhundert, als die Dinge noch recht anders waren. Archidmus war König, und der Rat hatte seinerzeit weit größere Macht über die Monarchie wie auch über das Volk.« Er stützte die Ellbogen auf die Knie und senkte den Blick. »Ihr Name war Khloe, und sie war Lehrerin. Sie unterrichtete die Kinder des Königs und einiger Bediensteter auf der Burg. Man vermählte sie mit einem Gelehrten, Alastor, dessen älterer Bruder die Familie im Zwölfen-Rat vertrat.

Sie bekamen keine Kinder und waren erst wenige Jahre gebunden, als mein Vater, Nikator, ihr eines Tages in der Burg über den Weg lief.«

Den Namen des Argonauten sprach er mit einer Abscheu aus, dass Callia ein kalter Schauer über den Rücken lief. Ihr war bekannt, wie wenig er von dem Ándras hielt, der ihn zeugte, aber er hatte selten von ihm gesprochen und Callia hatte nie gefragt. Die Gerüchte über Nikator indes waren im ganzen Königreich bekannt und mit ein Grund, weshalb ihr Vater gegen die Beziehung mit Zander gewesen war. Nikator war seinem Namen – der Eroberer – in jeder nur denkbaren Hinsicht gerecht geworden: ein brutaler Kämpfer in der Schlacht und außerhalb, ein Ándras, der sich nicht um das Gesetz scherte und sich nahm, was er wollte. Oft mit Gewalt.

Plötzlich war Callia nicht mehr sicher, ob sie den Rest dieser Geschichte hören wollte.

Zander rang die Hände, und obgleich er auf den Boden sah, wollte Callia schwören, dass sein Blick Jahrhunderte zurück gerichtet war statt auf die Baumwollfäden des Teppichs. »Ich rede mir gern ein, dass es einvernehmlich war, dass sie sich einander verbunden fühlten.« Wie wir, dachte sie, auch wenn er es nicht aussprach. »Aber ich weiß, dass es nicht so war. Jedenfalls wurde sie schwanger, und da der Rat ihre Vergewaltigung als Ehebruch ihrerseits auslegen würde, tat sie das Einzige, was sie tun konnte. Sie ging in die Berge zu einer Hexe, um das Baby wegmachen zu lassen.«

Er streckte die Hände vor sich aus, die Handflächen nach unten, so dass die uralten Argoleanerzeichen auf seinen Fingerrücken zu sehen waren. »Nur ging das nicht. Nicht einmal damals, noch im Mutterleib, konnte man mich töten.«

Callia stockte der Atem, denn ihr fielen seine Worte von jenem Tag ein, als sie ihm sagte, dass sie schwanger war. Tu meinem Kind nichts. Wenn du es nicht willst, nehme ich es, aber was immer du machst, versprich mir, nichts Drastisches zu unternehmen.

Er war ihr so wütend und misstrauisch vorgekommen. Und seine Worte hatten sie verletzt, stand sie doch selbst noch unter Schock. Vor allem aber war sie so verliebt in ihn gewesen, dass sie gar nicht begriff, warum er ihr unterstellte, sie käme auf solch eine Idee.

»Drei Mal«, erzählte weiter. »Drei Mal hat sie versucht, mich abzutreiben, aber es ging nicht.« Er griff an seinen Hals und strich über die lange, gezackte Narbe. »Hiermit wurde ich geboren.«

Callia wurde übel. Sie schloss die Augen, als ihr das Gespräch in der Höhle wieder einfiel, seine Worte, die wie ein Schlag ins Gesicht gewesen waren.

Und was bin ich?

Eine Mörderin.

»Am Ende brachte sie mich heimlich zur Welt«, fuhr er fort. »Die Hexe, die mich entband, sah die Zeichen auf meinen Armen und Händen und verständigte die Argonauten. Und obwohl nichts von alledem ihre Schuld war, ahnte meine Mutter, dass der Rat sie wegen ihrer Verbindung zu ihnen schlimm bestrafen würde.« Er zögerte und fügte leise hinzu: »Eine Woche nach meiner Geburt nahm sie sich das Leben.«

»Oh, Zander …«

Die Matratze unter ihr bewegte sich, und als seine Finger ihre Wange streiften, öffnete sie die Augen wieder. Er kniete vor ihr, sein schönes Gesicht von Sorgenfalten und Reue gezeichnet, und die Tränen, die in seinen Augen glänzten, brachen ihr fast das Herz. »Ich wusste nicht. Ich dachte …«

Er schluckte und schien nach Worten zu suchen. Seine Hand glitt hinab zu ihrem Bauch. »Ich wollte nie ein Argonaut sein. Diese verfluchten Zeichnungen haben mir mein Leben von Anfang an diktiert. Ich musste unter allen möglichen Anführern dienen; manche waren echte Mistkerle wie mein Vater, bei denen ich mich fragte, wofür zur Hölle ich überhaupt kämpfte. Dann kam Therons Vater, Solon, und die Dinge begannen, sich zu ändern. Die Männer, mit denen ich heute diene, sind anständig. Sie haben nichts mit den Argonauten früherer Zeiten gemein. Nicht einmal Demetrius ist halb so übel, wie die es waren. Als du mir sagtest, dass du schwanger bist, konnte ich Theron nicht einfach im Stich lassen. Ich schuldete ihm zu viel. Also verließ ich dich, um Vorkehrungen für die Wahl eines anderen zu treffen, der meinen Platz einnahm. Leider kam es nie dazu.«

Ihr graute vor dem, was er als Nächstes sagen würde, und dennoch musste sie es hören.

»Dein Vater kam zu mir in die Burg und erzählte mir, du hättest es dir anders überlegt und wärst ins Menschenreich gegangen, um deine Schwangerschaft abzubrechen.«

Callia sah erschrocken zu ihm auf, und er schüttelte langsam den Kopf. »Ich glaubte ihm nicht und machte mich auf die Suche nach dir. Schließlich fand ich die Klinik, wo mir eine Schwester sagte, dass es schon vorbei und du wieder fort wärst. Die Krankenakten bestätigten es.«

»Ich habe nie …«

»Ja, das weiß ich jetzt. Ich hätte mir damals denken müssen, dass du so etwas nicht tun würdest, ohne vorher mit mir zu sprechen, aber ich war so wütend.« Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Manchmal beherrscht mich mein Zorn. Und als du nicht zurückkamst, als Wochen vergingen, Monate, Jahre, glaubte ich es doch irgendwann. Ich dachte mir, dass du vielleicht etwas ganz anderes wolltest.«

All die Jahre hatte er gedacht, sie wäre einfach weggegangen; dabei war nichts weiter von der Wahrheit entfernt.

Tränen brannten in ihren Augen, von denen sie meinte, sie längst ausgeweint zu haben. »Ich bin ins Menschenreich gegangen, weil ich unser Baby retten wollte, Zander. Ich hätte nie …«

Er drückte ihre Hand. »Ich weiß.«

Eine Flut von Gefühlen überrollte sie, machten ihr das Atmen schwer. Sie löste ihre Hand aus seiner und stand auf, weil sie sich bewegen musste, ehe sie in ihrem Schmerz und ihrer Fassungslosigkeit ertrank. Am Fenster angekommen, legte sie eine Hand an die kühle Felswand. »Mein Vater erzählte mir von der Begegnung mit dir, nur sagte er, du hättest es dir anders überlegt und beschlossen, dass du die Argonauten nicht verlassen willst.«

Gütige Götter, sie hatte ihrem Vater geglaubt! Ihn sogar gebeten, Zander zu sagen, wo in Griechenland er sie fände, falls er seinen Fehler einsah und sie und das Kind doch noch wollte. Kein Wunder, dass er nie zu ihr gekommen war.

»Er hat nie gewollt, dass wir zusammen sind«, sagte Zander leise hinter ihr.

Nein, hatte er nicht. Simon hasste die Argonauten inbrünstig; so sehr, dass Callia sich oft fragte, woher seine tiefe Abneigung rührte. Es war nicht bloß Zanders Person, die er ablehnte, sondern dessen Verbundenheit mit den Argonauten und wofür sie standen.

»Er …« Zorn loderte in ihr auf ob des Verrats, den ihr Vater an ihr und an Zander begangen hatte.

Sie fühlte, dass Zander hinter ihr war, noch ehe seine Hände ihre Arme berührten und er sie zu sich umdrehte. Aber sie blickte nicht zu ihm auf, konnte sich dem nicht stellen, was sie zweifelsohne in seinen Augen sehen würde. Als er sie näher zog, lehnte sie ihren Kopf an seine Brust und wehrte sich nicht gegen seine sanfte Umarmung.

»Hätte ich es gewusst«, raunte er mit belegter Stimme, »wäre ich bei dir gewesen. In jeder Sekunde. Nichts hätte mich von dir fernhalten können. Und niemand …« Seine Muskeln spannten sich merklich an. »Niemand hätte dir wehgetan.«

Ihr fiel nichts ein, was sie sagen könnte. Sie war nicht einmal sicher, ob sie diesem Gespräch jetzt gewachsen war, ihm jemals gewachsen wäre.

»Callia.« Seine Finger tauchten in ihr Haar und neigten sacht ihren Kopf nach hinten. Doch da war keine Wut in seinen Zügen, sondern Bedauern. Und Trauer. Ein Kummer, den nur sie verstehen konnte. »Thea.«

Seine Benutzung des Kosenamens, den er ihr vor vielen Jahren gab, traf sie mitten ins Herz. Göttin. Er hatte einmal gesagt, für ihn wäre sie seine persönliche Göttin. Und sie glaubte ihm. Dann hasste sie ihn. Und heute wusste sie nicht, was sie denken sollte.

Als seine Lippen ihre streiften, erstarrte sie. Sie wich nicht zurück, könnte es wohl nicht. Dies hier, verrückt wie es war, fühlte sich richtig an. Sie beide hatten so vieles verloren, und Callia hatte jahrelang getrauert, nicht ahnend, dass sie in ihrem Schmerz nicht hätte allein sein müssen. Die ganze Zeit hätte sie ihn mit Zander teilen können.

Seine Hände glitten von ihrem Haar auf ihre Schultern, auf den Rücken und drückten sie an ihn. Die leichte Reibung von Haut auf Stoff vibrierte durch ihren ganzen Leib. Sie seufzte, neigte den Kopf weiter nach hinten und öffnete sich ihm.

Der Kuss war sanft und zaghaft. Behutsam drang seine Zunge in ihren Mund, streichelte ihre, als hätten sie alle Zeit der Welt, als kostete er sie zum ersten Mal und genoss jeden Moment. Und sie erwiderte seine Liebkosungen, legte die Arme um ihn und gab ihm, worum er wortlos bat. Dabei sagte sie sich, dass sie beide hier nichts nachholten, was nie hätte sein dürfen. Vielmehr war dies ein Abschluss, ein gegenseitiges Trösten, mit dem sie die Vergangenheit für immer verabschiedeten.

Seine Lippen bewegten sich über ihr Kinn zu ihrem Ohr, und sie erschauerte, als sein warmer Atem über ihre Haut wehte, ihren Hals hinab. »Du bist so stark, Thea«, flüsterte er. »Solch eine Kämpferin. Wenn ich daran denke, was dir hätte passieren können …«

Seine Worte schwebten durch ihre Gedanken, während sie seinen Duft inhalierte. Und dann, als hätten sie ihr Ziel gefunden, leuchtete eine Erinnerung auf. Eine Erinnerung aus der Jagdhütte mit dem Dämon, der sie beinahe umgebracht hatte.

Sieh an, eine Kämpferin.

Gefolgt von Atalantas Stimme.

Sie ist die Mutter des Jungen. Nimm sie mit. Falls der Junge nicht gehorcht, kann sie uns nützlich sein.

Abermals wurde ihr die Brust eng, nur diesmal nicht vor Kummer und Schmerz, sondern vor Schreck und Angst. Es konnte unmöglich sein …

»Was?«, fragte Zander, wich zurück und sah sie stirnrunzelnd an.

Die Erklärung, die ihr Vater ihr nach der Geburt gegeben hatte, vermengte sich mit ihren bereits chaotischen Gedanken. Ein Erdbeben auf der Peloponnes; der Arzt, der wegen der Verwüstungen nicht rechtzeitig zu ihrem kleinen Haus kommen konnte; Komplikationen bei der Entbindung; ihre Ohnmacht; das totgeborene Kind; Nachbeben, die ihr Haus zerstörten.

Ihr Vater hatte ihr erzählt, er hätte nur gerade genug Zeit gehabt, sie und sich selbst in Sicherheit zu bringen, konnte jedoch den toten Säugling nicht mehr aus den Trümmern holen. Das Gesicht ihres Sohnes hatte sie nie gesehen.

»Nein«, hauchte sie, hielt sich eine Hand vor den Mund und starrte Zander an, als sich alle Teile zusammenfügten.

»Callia?« Er packte ihre Schultern und beäugte sie sorgenvoll. »Was ist?«

»Ich«, begann sie, schluckte und ließ ihre Hände heruntersinken. Sie wollte selbst kaum glauben, was sie sagen musste, auch wenn sie überzeugt war, dass es die Wahrheit war. »Ich glaube, mein Vater log uns in allem an. Zander, ich glaube, unser Sohn lebt noch.«

Max wusste, dass Fort Nelson der erste Ort war, an den Atalanta ihre Monster schicken würde, um nach ihm zu suchen. Deshalb blieb er im Wald und überquerte den Fluss ein ganzes Stück stromabwärts. Es hatte kürzlich geschneit, aber die Fort-Nelson-Gabelung war noch nicht überfroren, obwohl das Wasser kälter war als Atalantas Ödland.

Bei seinen Bewegungen wärmte die Metallscheibe seine Brust, und ihm schien es, als würde die Wärme in seinen Leib ausströmen.

Das ist so cool!

Er stieg auf der anderen Seite aus dem Fluss, schüttelte sich und duckte sich unter die Bäume. Zu lange durfte er nicht warten, musste in Bewegung bleiben, aber vorher brauchte er eine Minute, um zu verschnaufen. Er hockte sich an einen Baumstamm, schlang die Arme um seine Knie und wärmte sich. Ein Wassertropfen fiel ihm aus dem Haar, zerplatzte auf seinem Unterarm und verdampfte sofort.

Er sah genauer hin, als der nächste Tropfen fiel und ebenfalls verschwand.

Irre.

Staunend lehnte er den Oberkörper zurück und betrachtete seine Arme. Sie waren schon trocken. Dasselbe galt für seine Beine in der Jeans, die sich nur noch ein bisschen klamm anfühlte. Der Anhänger an seiner Brust brannte heiß, versengte ihm jedoch nicht die Haut. Auch sein Sweatshirt war so gut wie getrocknet, und seine Jacke lediglich an den Ärmelenden noch nass. Er griff nach oben, berührte das Metall mit den Fingern und lächelte, weil es wirklich magisch zu sein schien.

Mit einer Energie, wie er sie vorher nicht gefühlt hatte, sprang er auf. Dann lief er eine Meile in Richtung Alaska-Highway, wo er sich im Unterholz versteckte, bis er die Scheinwerfer eines Sattelzugs in der Ferne sah.

Seine Zuversicht erfüllte ihn mit völlig neuem Elan. Er trat an den Straßenrand und schwenkte beide Arme.

Die Lichter rumpelten näher. Bei der dicken Eisschicht auf der Straße war nicht mal sicher, dass der Truck anhalten konnte. Aber dann hörte er das Puffen und Heulen der Gangschaltung, der riesige Wagen wurde langsamer, und schließlich blieb er zwanzig Schritt von ihm entfernt stehen.

Er lief auf das Führerhaus zu und zur Fahrerseite. Langsam rollte die Fensterscheibe herunter, und Max blinzelte zu dem Menschen auf.

»Hast du dich verlaufen, Junge?«

»Ähm …« Was nun? »Nein, eigentlich nicht.«

Der Mann lehnte einen Arm ins offene Fenster und streckte den Kopf weiter raus, um Max besser sehen zu können. »Die Jacke da bringt dir hier draußen nicht viel. Die Temperatur fällt wie die Zwanziger im Stripclub. Wo kommst du her, Junge?«

Er konnte schlecht sagen, dass er von Fort Nelson kam, und überlegte, was er über die Gegend wusste. »Alaska.«

Der Mann wirkte ungläubig. »Alaska, ja? Und wie bist du hierhin gekommen?«

»Gewandert.«

Wieder musterte der Mann ihn, besonders sein Gesicht, so dass sich Max’ Nackenhaare aufstellten. »Bist du vor irgendwas weggelaufen?«

Max merkte, wie ihm Schweiß ausbrach. »Nein.«

»Mhm«, machte der Mann. »Woher hast du das Veilchen?«

Max befühlte unwillkürlich seine linke Wange. Das Einzige, was ihm einfiel, war, dass er vorhin Zelus angegriffen hatte. »Ich … weiß nicht.«

Der Mann schnaubte kurz, dann nickte er zur Beifahrerseite. »Steig ein.«

Max zog die Brauen hoch. Einen kurzen Augenblick stand er verwundert da, ehe er um das Führerhaus herum zur anderen Seite lief und die hohen Stufen hinaufkletterte. Sobald er drinnen war, wärmte die Kabine die letzten kalten Stellen an seinem Körper.

Der Fahrer musterte ihn noch einmal. Er musste in den Fünfzigern sein, hatte schütteres Haar, einen runden Bauch und rissige Hände. Wahrscheinlich hatte er schon viel hart gearbeitet. »Ich bin übrigens Jeb. Ich fahr die Westküstenroute für eine kleine Firma in Vancouver. Wo willst du hin, Junge?«

Max rang die Hände im Schoß. Besonders weit voraus hatte er nicht geplant. Wo konnte er denn hin? Ihm fiel ein, dass Atalanta mit Thanatos über eine Halbblutkolonie weiter südlich geredet hatte. »Oregon.«

»Und was ist in Oregon?«

»Da hab ich Verwandte«, sagte Max, der ahnte, dass er nicht zu geheimnisvoll tun durfte. Verraten sollte er allerdings auch nichts.

Jeb sah ihn aufmerksam an und sagte: »Ich bin unterwegs nach Vancouver, muss neue Ladung holen und dann nach Las Vegas. Wenn du keinen Ärger machst, kannst du mitkommen.«

»D-danke.« Max lehnte sich zurück, entspannte aber nicht. Ihm war klar, dass er auf der Hut bleiben musste. Dieser Kerl mochte nur ein Mensch sein, aber Max hatte längst gelernt, niemandem zu trauen.

Jeb setzte sich auf, ließ die Gangschaltung schnaufen und ächzen, und der gigantische Sattelzug setzte sich in Bewegung. »Tja, ich konnte meinen Alten auch nicht ausstehen. Mieser Dreckskerl. Hoffentlich findest du jetzt eine bessere Bleibe.«

Das hoffte Max auch.

Callia rannte los, sobald sie durch das Portal im Torhaus kamen.

Natürlich holte Zander sie blitzschnell ein, doch sie wich seinen Händen aus und sprintete zur Tür. »Verdammt, Callia, warte!«

Die beiden Wachen am Portal warfen sich verdutzte Blicke zu. Zander machte sich auf die Suche nach den Argonauten, die das Training der neuen Rekruten beaufsichtigten. Keiner der Argonauten riss sich darum, dass sie auf Befehl des Rates reihum die Portalbewachung beaufsichtigen mussten, aber das Babysitten bei den Anfängern verdross sie noch mehr. Entsprechend sah Gryphon, der gerade mit diesem Dienst gestraft war, so aus, als wollte er jeden Moment mit dem Kopf vor die Wand rennen.

»Zander, was ist denn mit dir?«

Die Frage ignorierte er und wies stattdessen zur Tür. »Hol Theron und die anderen und bring sie zum Argolion«, rief er.

Gryphons helle Brauen zogen sich zusammen, als er von seinem Stuhl aufstand. »Wieso zum Hades willst du den Rat sehen?«

»Tu’s einfach!«

Er rannte zur Torhaustür hinaus und blieb auf dem Gehweg vor dem Gebäude stehen. Tiyrns funkelte im herbstlichen Sonnenlicht, und eine frische Brise strich ihm übers Gesicht, während er die belebte Straße nach Callia absuchte, sie aber nicht entdecken konnte. Also schloss er die Augen, stellte sich das Argolion vor – den antiken Bau, in dem die Ratsversammlungen abgehalten wurden und die Ratsmitglieder ihre Büros hatten. Binnen Sekunden war er auf den Stufen vor dem Gebäude und preschte hinein.

Die Halle drinnen war von zahllosen Säulen durchzogen. Da er Callia auch hier nirgends entdecken konnte, lief er auf den Ratssaal zu und betete, dass sie gerade keine Sitzung hatten. Der Marmorboden blitzte unter seinen Füßen, und er wollte sich verfluchen, weil er sich diesen Auftritt nicht gründlicher überlegt hatte.

Als er um eine Ecke bog, erblickte er sie, direkt vor der Tür der Ratskammer und im Begriff, sie zu öffnen. »Callia, warte!«

Sie drehte sich um und sah ihn mit einem derart gequälten Blick an, dass es ihn fast umbrachte. »Ich muss mit meinem Vater sprechen.«

Er umfasste ihren Arm und drehte sie sanft zu sich. »Vielleicht haben sie gerade eine Sitzung. Warte bis Theron hier ist, dann befragen wir ihn. Er …«

»Das ist mir egal, Zander. Zehn Jahre! Es sind zehn Jahre vergangen.«

Sie stieß die Tür auf, duckte sich unter seinem Arm durch und verschwand drinnen. Er wollte sie zurückhalten, erstarrte jedoch sogleich, als er einen Schritt in die Kammer hinein tat und alles verstummte.

Zwölf Ratsmitglieder saßen auf hochlehnigen Stühlen im Kreis um das Große Alphasiegel herum, das in der Raummitte in den Marmor eingelassen war. Hinter dem Kreis, auf einem erhobenen Podium, saß Isadora, die das Geschehen als Repräsentantin des Königshauses beobachtete. Rechts von ihr stand Casey, und zu beiden Seiten von ihnen waren bewaffnete Wachen postiert.

Sämtliche Augen richteten sich auf Callia und Zander, und die Spannung war fast zum Greifen. Zander blickte sich kurz um und fand zwei, drei … fünf weitere Wachen an den Ausgängen des runden Saals.

Skata, sie hätten auf Theron und die anderen warten sollen!

»Was hat diese Störung zu bedeuten?«, fragte Lucian, der Ratsvorsitzende, und stand von seinem Stuhl auf. Die Rompa, jene antike rote Robe, die alle Ratsmitglieder bei offiziellen Anlässen trugen, bauschte sich zu seinen Füßen.

»Ich muss mit meinem Vater sprechen«, sagte Callia, deren Augen ihren Vater rechts von Lucian fixierten.

»Callia«, fuhr ihr Vater sie barsch an und stand ebenfalls auf. »Das ist überaus unpassend.«

»Du hast mich belogen«, sagte sie.

Ihr Vater spannte merklich die Schultern an, und Zander beobachtete, wie Lucian Simon einen fragenden Blick zuwarf. Aus dem Augenwinkel sah er auch Loukas, Lucians Sohn und der Mann, dem Callia schon als Kind versprochen wurde. Er erhob sich ebenfalls von seinem Platz an der hinteren Wand.

Oh ja, hier kündigte sich ein theaterreifes Desaster an. Ausnahmslose alle miesen Beteiligten waren versammelt, und Zander hatte das untrügliche Gefühl, dass sich die Dinge fortan nur noch bergab bewegen konnten. Drei Wachen konnte er ausschalten und Callia beschützen. Sieben nicht. Und schon gar nicht, wenn ihnen noch zwölf Leute beisprangen, die ihn jetzt schon ziemlich feindselig beäugten.

»Callia«, sagte er leise, machte einen Schritt auf sie zu und griff nach ihrem Arm.

Sie schüttelte ihn ab und begab sich mitten in den Kreis, so dass sie direkt über dem großen Alpha stand. »Du hast behauptet, dass Zander mich verlassen hat, aber das hat er nicht.«

»Callia!«, herrschte ihr Vater sie an, sah von ihr zu Zander und wieder zurück zu ihr. »Das ist höchst unangemessen.«

Sie hörte ihm nicht zu, sondern ging weiter, bis sie nur noch wenige Schritte trennten, und obwohl Zander ärgerte, dass sie seine Warnungen verwarf, konnte er nicht umhin, von ihrer Stärke und ihrem Mut beeindruckt zu sein. Sie war umgeben von zwanzig Ándres, den zwölf mächtigsten Politikern in ihrem Reich und deren Wachen. Dieselben, die sie mit ihrem perversen Reinigungsritual für immer gezeichnet hatten und die Macht besaßen, ihre Karriere und alles zu vernichten, was sie sich über die Jahre aufgebaut hatte. Doch sie knickte nicht ein.

»Du hast mir gesagt, er würde mich nicht wiedersehen wollen«, sagte sie zu ihrem Vater, »aber das war auch gelogen. Du weißt, dass ich für immer von ihm fortgegangen wäre, wenn ich es gekonnt hätte.«

Sosehr Zander auch bei ihren Worten die Brust schmerzte, wurde seine Aufmerksamkeit auf Loukas hinten im Raum gelenkt. Niemand sonst schien es zu bemerken, da alle nur Callia ansahen.

»Was war sonst noch gelogen?«, fragte sie. »Was sonst hast du mir all die Jahre verheimlicht?«

»Callia«, sagte ihr Vater sanft und streckte einen Arm nach ihr aus. Zander war sogleich sprungbereit, sie zu verteidigen, doch sie bewegte sich schon selbst außer Reichweite ihres Vaters, und Simon nahm verlegen seinen Arm herunter. »Du kannst offenbar nicht klar denken, hierherzukommen und mir solche Dinge vorzuwerfen. Ich denke, du solltest in deine Klinik gehen und …«

»Lasst sie sprechen«, verkündete Theron von der Tür aus.

Wie auf Kommando sah der gesamte Rat zu ihm. Theron stand an der Tür, umgeben von den übrigen Argonauten, mit Ausnahme von Demetrius.

Zander atmete erleichtert auf und drehte sich wieder zum Kreis, wo er nun hinter Callia trat.

Simon blickte von ihr zu ihm, dann wieder zu ihr und schließlich zu Lucian. Ihm war deutlich anzusehen, dass ihn die Situation überforderte. »Lord Lucian, ich entschuldige mich für die Störung meiner Tochter. Darf ich den Rat bitten, sich zu vertagen, bis ich … mich dieser Unterbrechung angenommen habe?«

Dass Lucian sehr verärgert war, konnte man an seinen grünen Augen ablesen. »Sei es drum. Der Rat vertagt sich bis morgen.«

Unter den übrigen zehn Ratsmitgliedern hob Raunen und Tuscheln an, als sie den Raum verließen, wobei sie immer wieder zu Callia, Zander und den Argonauten sahen. Lucian indes rührte sich nicht vom Fleck, ebenso wenig wie Casey und Isadora, die sich zu ihrer Schwester hinter den Kreis gestellt hatte. Zander bemerkte, dass Loukas sich an die Seite seines Vaters drängte.

Blödmann. Der Idiot sollte sich dringendst verziehen, weit, weit weg.

»Callia«, begann ihr Vater streng, sobald die anderen gegangen waren, »das war deplatziert und ich dulde nicht …«

»Ich will wissen, was auf diesem Berg in Griechenland passiert ist«, fuhr sie ihm über den Mund. »Ich will wissen, was noch gelogen war. Und vor allem will ich wissen, was du mit meinem Baby gemacht hast.«

Isadora stieß einen stummen Schrei aus und hielt sich eine Hand vor den Mund, aber der Schock der Prinzessin war Zanders geringste Sorge. Simons plötzlich große Augen und sein blasses Gesicht riefen Zander eine Unterhaltung ins Gedächtnis.

Die Dinge sind nicht immer, was sie scheinen, Wächter. Ein Netz von Täuschungen spinnen diejenigen am besten, denen wir am meisten vertrauen.

»Was ist mit ihm passiert?«, fragte Callia. »Was ist mit meinem Sohn geschehen?«

Simons entsetzter Blick huschte von Callia zu den Argonauten an der Tür und schließlich zu Zander, wo er verharrte. Er ignorierte Lucians gemurmelte Frage, und Schweißperlen traten auf seine Stirn. Der Ándras begann zu zittern.

»Schick sie raus«, sagte Simon zu Zander.

»Was?« Callia drehte sich zu ihm, dann wieder zu ihrem Vater. »Ich gehe nirgends hin. Falls du denkst, dass ich nach all der Zeit …«

»Ich erzähle es dir«, sagte Simon zu Zander, »aber nicht ihr. Das kann ich nicht.«

»Simon«, zischte Lucian. »Ich verbiete dir zu sprechen!«

Ein vertrautes Summen setzte in Zanders Leib an, eine Warnung, dass das, was er erfahren sollte, alles andere als gut war. Doch er verdrängte es und stellte sich zwischen Callia und ihren Vater, bevor sie auf ihn losgehen konnte.

»Zander, geh mir aus dem Weg!«

Er umfasste ihre Arme. »Warte draußen.«

»Kommt nicht infrage.«

»Ich schließe dich nicht aus«, flüsterte er. »Versprochen. Doch aus irgendwelchen Gründen will er es nicht sagen, solange du dabei bist. Du musst rausgehen.«

Sie sah ihn stumm an, und in der Stille, die nun eintrat, spürte er die Verbundenheit mit ihr bis in die Tiefen seiner Seele. Zwischen ihnen gab es so viel Schmerz und Lügen, aber in dieser Sache mussten sie eins sein und Callia musste ihm vertrauen.

Zwar biss sie die Zähne zusammen, allerdings merkte Zander, wie sich ihre Armmuskeln lockerten. »Falls du mich auch belügst …«

»Das werde ich nicht«, sagte er leise und hoffte, dass sie ihm glaubte.

Als sie nickte, blickte er über seine Schulter zu Casey. Sofort stieg die Halbbluttochter des Königs vom Podium und kam zu Callia. »Wir warten draußen«, sagte sie und machte einen Schritt auf die Tür zu. »Callia?«

Callia sah immer noch Zander an, und zum ersten Mal seit Jahren erkannte er in ihren violetten Augen alles, was sie ihm bedeutete. Er erkannte alles, was er in ihrer gemeinsamen Zeit getan hatte und vieles, was er wieder tun wollte. Und er sah sein Leben, so klar, als würde er in sich selbst hineinsehen. Es endete nicht auf die Weise, die er sich vorgestellt hatte, als er auf jener Bergklippe mit Lachesis sprach, sondern ging weiter, durch Callia, wegen ihr und mit ihr.

»Versprochen«, wiederholte er.

Sie atmete langsam ein, drehte sich um und folgte Casey zur Tür.

Zander fühlte ein Stechen in der Brust, als er ihr hinterhersah. Schmerz und Wut, weil selbst jetzt noch die Wahrheit verborgen werden sollte. Aber das bliebe sie nicht für lange.

Nachdem die äußere Tür ins Schloss gefallen war, wandte er sich wieder zu Callias Vater um. Obwohl er es nicht wollte, bändigte er seinen Zorn. Jetzt die Beherrschung zu verlieren, wäre nicht gut. Hinter sich hörte er Theron und die anderen Argonauten näher kommen. »Keine Lügen mehr«, sagte er zu Simon. »Diesmal sagst du die Wahrheit. Was hast du mit meinem Sohn gemacht?«

Simon blickte schuldbewusst zu Lucian, dann fing er an zu reden. Mit dem, was ihm über die Lippen kam, hätte Zander nie im Leben gerechnet. Und so platzte ihm der Kragen, noch ehe Simon seine erste Atempause einlegte.