Zweites Kapitel

Zander war blutig und zerschunden. Ein Hieb in die Nieren zwang ihn beinahe in die Knie zu gehen, doch er fiel nicht. Wenn überhaupt, stählte die Wunde nur seine Entschlossenheit. Schwungvoll drehte er sich zu dem Dämon um und versenkte sein Parazonium tief in der Brust des Gottlosen. »Nimm dies, du elendes Stück Dreck!«

Die Bestie brüllte und kippte nach hinten. Mit einem schmatzenden Geräusch glitt die Klinge aus seiner Brust. Doch ehe Zander seitlich ausholen und das Monster enthaupten konnte, auf dass seine Seele für immer gen Hades fuhr, stürzte sich von hinten ein anderer Dämon auf ihn und versenkte seine Zähne tief in Zanders Schulter.

Er schrie auf, als ihm der Schmerz bis in den Schädel fuhr, schaffte es jedoch, das Ungeheuer abzuwerfen. Alles färbte sich rot, als er um sich trat, ausschlug und seinen Dolch nach links und rechts hieb. Blut spritzte, traf ihn in die Augen, lief ihm über die Wangen. Sein Rücken tat weh, seine Lunge brannte, und seine Schulter stand nachgerade in Flammen, wo die Bestie ihm durch die Jacke die Haut zerbissen und Muskeln zerrissen hatte. Trotzdem gab er weder auf, noch rief er nach Hilfe. Dies hier war genau, was er wollte. Adrenalin pumpte durch seine Adern, befeuert von Jahren aufgestauter Wut, und verlieh ihm die Kraft, immer wieder zum Schlag auszuholen, bis ein weiterer Dämon erledigt war. »Kommt schon!«, schrie er. »Ist das alles, was ihr zu bieten habt?«

Die zwei, die er Sekunden zuvor niedergeschlagen hatte, griffen aus einem anderen Winkel erneut an. Pfeifend schwang er seine Klinge, um die beiden abzuwehren. Dabei entging ihm nicht, dass die anderen sich für die nächste Runde bereitmachten. Er hielt sich gut, doch diesen Kampf konnte er nicht gewinnen; nicht allein gegen sechs.

»Zander! Wir müssen gehen. Sofort!« Titus sprang mitten ins Getümmel, sein Schwert durch Fleisch und Knochen treibend, und dezimierte die Angreifer. Zander hörte Schreie und Kreischen, Ächzen und klatschende Fausthiebe auf Haut. Verdammt, ihm blieben nur Sekunden, bis Titus diese Schlacht für sie entschied, und noch war er nicht ausreichend verwundet.

Zorn regte sich tief in seiner Brust – wie so oft. Und dann fiel es ihm ein, als er gerade zwei weitere hässliche Kreaturen niedermetzelte. Die Lösung war so einfach.

Hör auf zu kämpfen.

Titus konnte sich selbst schützen. Auf diesem Berg gab es keine Halbblute zu schützen, niemanden, den sie in Sicherheit bringen mussten. Falls es brenzlig wurde, konnte Titus ein Portal öffnen und sich zurück nach Argolea retten. warum also kämpfte Zander hier, wenn er doch die Chance hatte, es ein für alle Mal zu beenden?

Ehe er es sich anders überlegen konnte, ließ er seine Waffe fallen, stellte sich gerade hin und sah die drei Dämonen an, die ihn umringten. Sie wirkten genauso benommen und blutig vom Kampf, wie Zander sich fühlte, waren indes noch lange nicht fertig. Jeder von ihnen verfügte über die Kraft von zehn Männern, und sie strahlten eine Bösartigkeit aus, die keinerlei Zweifel daran zuließ, dass sie ihn töten würden.

Ja, genau wie er es wollte.

Zander breitete die Arme aus und schloss die Augen. Schweiß lief ihm über die Stirn, vermischte sich mit dem Blut und anderem auf seinem Gesicht, über das er lieber nicht nachdenken wollte. Stattdessen klärte er seinen Geist und dachte an … nichts. Köstliche Leere war alles, was er sich noch wünschte.

»Du verfluchter Scheißkerl!«

Jemand rammte in ihn hinein und warf ihn um, wobei er mit dem Kopf gegen Fels schlug. Als er jedoch seine Augen öffnete, erkannte er, dass nicht etwa ein Dämon auf ihm lag, sondern Titus.

Die Augen des Argonauten sprühten Funken. Hinter ihm knurrten die Dämonen.

»Du Arsch, runter von mir!«, schimpfte Zander und wehrte sich gegen ihn, während ein vertrauter, unkontrollierbarer Drang in ihm wütete. Was hatte Titus denn vor?

»Dich retten, du Hurensohn.«

Bevor Zander begriff, dass Titus wieder einmal seine Gedanken gelesen hatte, legte der Argonaut seine Unterarme zwischen ihnen beiden zusammen. Nun drückten Titus’ Ellbogen in Zanders Rippen, doch was machte das schon? Wichtig war einzig, dass Titus seinen Plan durchkreuzte.

»Nein!«

Titus hatte die Hände zusammengelegt, und jene Zeichnungen, die von seinen Unterarmen bis hinunter zu den Fingern verliefen, begannen zu leuchten. Ein Blitz zuckte, als sich das Portal öffnete. Dann fühlte Zander nur noch Luft, als sie beide durch den Raum gewirbelt wurden.

Er landete rücklings auf hartem, kaltem Stein und wusste auch ohne hinzusehen, dass sie im Torhaus waren, dem Eingang von Argolea. Seine unsanfte Landung allerdings bescherte ihm keine Sterne vor den Augen; die verdankte er dem mächtigen rechten Haken, den er kassierte.

»Du gottverdammter Hurensohn!« Titus schlug ihn abermals, fest genug, dass es ihm vorkam, als klapperte seine Schädeldecke.

»Titus! Das reicht!«

Titus wurde mit einem Knurren von ihm weggerissen. Wie aus der Ferne nahm Zander Stimmen wahr, Therons und Demetrius’, sowie noch weitere Flüche, meistenteils von Titus. Dann lachte Gryphon ihm ins Ohr. »Gut gemacht, Z. Was hast du getan, das ihn derart in Rage bringt?«

Ach, egal! War es nicht wieder typisch, dass ausgerechnet jetzt alle Argonauten im Torhaus versammelt waren?

Starke Arme hakten ihn unter, und ein schneidender Schmerz jagte durch seinen linken Arm, als Gryphon ihn aufsetzte, doch Zander schüttelte ihn einfach ab. Als er die Lider hob und sich in der großen Halle mit dem hohen Deckengewölbe umschaute, sah er Demetrius, der Titus mit eisernem Griff zurückhielt, und Theron, der auf den aufgebrachten Argonauten einredete.

Das Portal glühte und schloss sich hinter ihnen. Titus blickte an Therons massigen Schultern vorbei zu Zander und versuchte, sich Demetrius zu entwinden.

Zander wies Gryphons Hilfe ab und stand auf. Wut brodelte in ihm, zerrte an seiner Selbstbeherrschung. Zum Hades mit allem. Zum Hades mit Titus, mit diesem verdammten Krieg und seinem unendlichen Leben. Zum Hades mit all den Argonauten und ihren ewigen Einmischungen.

»Wegen deiner beknackten Todessehnsucht wäre ich um ein Haar aufgefressen worden!«, brüllte Titus.

»Sei nicht so eine Memme«, konterte Zander, der das Gefühl hatte, seine Schulter wäre gebrochen; ein oder zwei Rippen ebenfalls; und er hatte recht viel Blut verloren, aber leider spürte er gleichzeitig, dass sein Körper bereits zu heilen begann. »Du kannst deinen erbärmlichen Hals doch jederzeit mit diesem Lichterspektakel retten, das du eben veranstaltet hast.«

»Genug!« Zorn loderte in Titus’ Augen auf, dann riss er sich von Demetrius los. »Dafür fordere ich deinen Kopf, du kranker Vollidiot.«

Zanders Adrenalin pulsierte in freudiger Erwartung eines neuerlichen Kampfes. Und die Wut, die er so sorgsam einzudämmen bemüht war, kochte über. Er streckte beide Arme zur Seite. »Nur zu, Arschloch.«

Titus bewegte sich blitzschnell und war fast auf Zander, ehe Theron ihn von hinten packen konnte. »Ich sagte, es reicht!«

Der Anführer der Argonauten schleuderte Titus durch den Saal, als wöge er nichts. Titus krachte mit einem unschönen Knacken von Stein und Knochen gegen eine Säule ein Stück entfernt, rutschte an dem glatten Marmor hinunter und blieb liegen.

»Memme«, murmelte Zander. »Mehr kannst du nicht bieten?«

»Du!« Theron drehte sich zu Zander. »Nach dem, was du getan hast, sollte ich dich von ihm in Grund und Boden prügeln lassen.«

Oh ja, der großmäulige Titus hatte längst alles ausgeplaudert. »Dann lass ihn doch«, sagte Zander bissig.

Theron stellte sich dicht vor Zander, und obgleich Zander nichts abhalten konnte, Titus in Rage zu bringen, war er doch hinreichend bei Verstand, es bei Theron lieber nicht zu tun. Als direkter Nachfahre von Herakles, dem größten aller Helden, war Theron stark genug, Zander sämtliche Gliedmaßen einzeln auszureißen und ihm Pein zu bereiten, wie er sie nie gelitten hatte – mit einer einzigen Ausnahme.

»Reiß dich besser am Riemen«, warnte Theron ihn so leise, dass Zander ihn kaum hören konnte. Was beabsichtigt war. »Finde jemanden, für den es sich zu leben lohnt, oder trenn dich für immer von den Argonauten. Denn ich erlaube nicht, dass einer meiner Wächter in Gefahr gebracht wird. Haben wir uns verstanden?«

In Zanders Brust herrschte plötzlich Eiseskälte. Die Argonauten verlassen? Ausgeschlossen. »Ja, haben wir.«

Theron blickte auf. Hinter ihm öffnete sich das Portal sirrend ein weiteres Mal. Cerek und Phineaus kamen hindurch, Schneeflocken hafteten ihnen im Haar und an den Schultern. Die beiden blickten verwundert in die Runde.

»Das hoffe ich«, sagte Theron. »Es ist mir ernst, Zander. Jede Loyalität hat ihre Grenzen, und wenn ich muss, werde ich deinen Ausschluss durchfechten.«

Einen Argonauten aus der Truppe auszuschließen war kein einfacher Vorgang. Er bedurfte der Zustimmung des Königs, des Rates und bedeutete gewaltige Mengen Papierkram, an den Zander nicht einmal denken wollte. Vor allem aber kam ein Ausschluss einem Todesurteil gleich, verlor der Betreffende doch nicht bloß seine Arbeit, sondern seine Identität.

Was nicht einmal das Schlimmste wäre, wie Zander erst jetzt aufging, als er seinen Anführer ansah. War er kein Argonaut mehr, durfte er auch nicht mehr durch das Portal in die Menschenwelt und verlor damit den einzigen Lichtblick in seinem gottverdammten Leben.

»So weit wird es nicht kommen.«

Theron bedachte ihn mit einem strengen Blick, bevor er sich an die übrigen Argonauten wandte. »Der König hat eine Versammlung einberufen.« Er sah zu Titus, der sich wieder aufgerappelt hatte und den Putz und Staub von seinen Kleidern klopfte. »Ihr habt fünfzehn Minuten, euch frischzumachen und zur Burg zu kommen.« Wieder zu Zander gewandt, fügte er hinzu: »Und die Zeitvorgabe ist nicht verhandelbar.« Mit diesen Worten stampfte aus dem Torhaus – 280 Pfund äußerst gereizter Argonaut.

Angespannte Stille trat ein. Der Erste, der nach ihm ging, war Demetrius; ihn hatten die anderen noch nie gekümmert. Als Nächstes folgten Cerek, Gryphon und Phineus, so dass am Ende wieder Zander mit Titus allein blieb.

Und nun, da sich sein Zorn gelegt hatte, war es wohl oder übel an ihm, das Eis zu brechen, nur wusste er nicht, was er sagen sollte. Entschuldigungen waren noch nie seine Stärke gewesen, nicht einmal wenn er einsah, dass er sich wie ein totaler Idiot aufgeführt hatte.

Mit polternden Schritten durchquerte Titus den Saal Richtung Ausgang.

»Warte, T.«

»Lass es gut sein, Zander. Ich bin nicht in der Stimmung für deinen Blödsinn. Wir alle, auch ich, tragen unsere eigene Hölle in uns, mit der wir fertig werden müssen. Aber das ist dir bislang nicht in den Sinn gekommen, nicht wahr? Du denkst nur an dich selbst.«

Als er allein war, stieß Zander einen langen Seufzer aus. Die Portalwachen hatten ihm den Rücken zugekehrt und bemühten sich, nicht auf ihn zu achten. Was nicht weiter verwunderlich war. Inzwischen dürfte sich der kleine Tumult bis zum Rat herumgesprochen haben, was Zander indes einen feuchten Dreck scherte. Letztlich entschied der König, was mit den Argonauten geschah, nicht der Rat. So war es immer gewesen, und so würde es immer sein.

Nach wie vor nicht willens, sich zu den anderen zu gesellen, lungerte Zander im Torhaus herum, dessen klobige Marmorarchitektur mit den hohen Säulen zu beiden Seiten dem Hermestempel von Arkadien nachempfunden war. In der Mitte befand sich das Portal, jene Schwelle zwischen zwei Welten, umrahmt von festem Stein. Zanders Blick fiel auf die Worte, die in den Stein gemeißelt waren und die er Tausende Male gelesen hatte, ohne sie je wirklich aufzunehmen.

Dies ist die Grenze zwischen den Welten, bewacht von dieser Seite, durch heiliges Land geschützt von der anderen. Wer sie überschreitet, tut dies auf eigene Gefahr. Doch seid gewarnt vor der Passage, lädt sie doch die Überbringer von Albträumen, die Hüter des Wahns im steten Fluss von Licht und Schatten ein. Und immerfort lauert euch der Dieb an der Pforte auf, der den unsterblichen Göttern dient.

Lief nicht alles auf sie hinaus: die verdammten Götter und deren Unsterblichkeit? Auf das, was Zander besaß, aber gar nicht wollte? Der Gang durchs Portal bereitete ihm nie Sorge, weil er wusste, dass er immer wieder zurückkam. Andere hingegen nicht. Solche wie Titus. Jedes Mal, wenn seine Gefährten die Schwelle übertraten, setzten sie ihr Leben aufs Spiel, und dennoch taten sie es ohne zu zögern, um ihrer Art willen.

Ein bleiernes Gewicht drückte ihm auf die Brust. Ja, Theron mochte recht haben. Vielleicht sollte Zander sich zusammennehmen und aufhören, die anderen mit seiner finsteren Dauerstimmung zu bedrücken. Dann war er eben alt und sein Leben die Pest, na und? Schließlich ging es ihm nicht erst seit gestern so. Wie es aussah, war der Tod jedenfalls keine Option, und von den Argonauten ausgeschlossen zu werden, war das Letzte, was er wollte. Folglich musste er etwas finden, wofür es sich zu leben lohnte, und das schnell – bevor Theron seine Warnung wahrmachte und ihn für alle Zeiten rauswarf.

Das Problem war nur, dass ihm beim besten Willen nicht einfiel, was das sein könnte.

Callia blickte sich im königlichen Studierzimmer um. Sämtliche Wände waren von Bücherregalen eingenommen, die vergoldete Decke mindestens drei normale Stockwerke hoch. Hinter dem antiken Schreibtisch, der bis auf eine Lampe in der rechten vorderen Ecke leer war, gewährten große Erkerfenster freie Sicht auf weiche grüne Hügel und einen schimmernden See in weiter Ferne.

Der Raum roch nach Tabak und Leder, war angenehm gewärmt und verfügte über eine hübsche Sitzgruppe aus drei Ledersofas vor dem großen Kamin, die einluden, in ihnen zu versinken. Callia wusste, wie herrlich sie waren, seit sie einmal nachts in einem von ihnen versunken war. Damals hatte die ganze Burg geschlafen, und Callia war nicht allein gewesen. Heute trübte nichts ihre Stimmung so verlässlich wie die Erinnerung an jene Stunden.

»Brauchst du sonst noch etwas?«, fragte Isadora, auf deren Frage hin Callia sich erschrocken umdrehte. Die Prinzessin stand in der Tür. Ein seltsamer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, als fürchtete sie sich, den Boden mit dem königlichen Siegel zu betreten.

Es ist reine Routine. Du bist schon Tausende Male hier gewesen, und es macht keinen Unterschied, dass du diesmal einen Argonauten vor dir haben wirst. »Nein, es müsste alles bestens sein.«

»Na schön, dann sollten wir zurückgehen.« Doch Isadora machte keinerlei Anstalten, sich zu rühren, und ihre Augen wirkten beinahe gefühllos, als widerstrebte ihr nichts so sehr wie zurückzugehen.

Schwankend zwischen dem Wissen, dass es sie nichts anging, und der Gewissheit, dass sie es bereuen würde, sollte sie den Mund halten, platzte Callia heraus: »Weigere dich, Isadora.«

Langsam blickten Isadoras braune Augen zu ihr auf, und Callia stockte der Atem. Nein, sie wirkten keineswegs emotionslos. Vielmehr sahen sie tot aus, als hätte Isadora jedwede Hoffnung aufgegeben.

»Es würde nichts nützen.«

»Doch, würde es«, widersprach Callia, die nicht sicher war, warum sie der Prinzessin so dringend helfen wollte. »Wehr dich. Beweise ihm, dass er im Unrecht ist, dass sie es alle sind.«

Isadora verzog keine Miene, und in Callia regte sich ein ungutes Gefühl. Was war mit der Prinzessin passiert? So dürfte sie nicht sein, nur weil ihr Vater sie bevormundete.

»Halte dich aus Dingen heraus, die dich nichts angehen.«

Ohne eine Antwort von Callia abzuwarten, drehte sie sich um und ging. Callia war für einen Moment sprachlos. Aber wahrscheinlich hatte die Prinzessin recht. Es ging sie nichts an. Ja, sie hatte Mitleid mit der Gynaíka, aber im Grunde war es närrisch, sich um jemand anderen zu Sorgen, hatte Callia doch sehr viel größere Probleme.

Also stellte sie ihre Tasche ab und folgte Isadora zurück in die Gemächer des Königs, dankbar, dass wenigstens vorübergehend das Summen in ihrem Kopf nachließ. Sie schafften es bis zur großen Treppe, dann wurde Callia von Stimmen gestoppt, die von unten heraufdrangen.

Männliche Stimmen. Alle von ihnen, wie der König befohlen hatte. Callias Magen machte eine Umdrehung, und Schweiß brach ihr aus, obwohl sie sich auf diesen Moment vorbereitet hatte, seit der König seinen Befehl erließ.

Theron führte die Gruppe an und verneigte sich rasch, als er die beiden oben an der Treppe im dritten Stock sah. »Isadora, Callia.« Seine dunklen Augen hielten bei Callia inne. »Wie geht es dem König heute?«

»Er hält sich.« Sie versuchte, sich auf seine Gesichtszüge zu konzentrieren, aber der Argonaut war riesig: über zwei Meter pure Muskelmasse, breite Schultern und Beine wie Baumstämme. Allein war er schon furchteinflößend, doch in Begleitung fünf weiterer Argonauten, die allesamt so groß und imposant waren wie er? Es war wie die Vorhut einer Flutwelle, die Callia zu ertränken drohte.

»Das ist gut«, sagte Theron. »Ich nehme an, er ist bereit, uns zu empfangen?«

Sie hätte geantwortet, wirklich, das hätte sie. Nur leider wanderten ihre Augen von selbst suchend die Gruppe hinter ihm ab, huschten über Demetrius und die anderen hinweg, bis sie am Ende Zander fanden. Er bildete den Schluss der Gruppe, drehte sich unten an der Treppe um und kam auf sie zu.

Okay, sich geistig auf die Situation vorzubereiten und tatsächlich im selben Raum mit ihm zu sein, waren definitiv zwei verschiedene Dinge. Sie holte erschrocken Luft, obwohl sie sich so fest vorgenommen hatte, genau so nicht zu reagieren. Aber es war nicht bloß er, der diese Reaktion hervorrief – zumindest redete sie sich das ein – es war das, was mit ihm geschehen war.

Sein Gesicht war auf der einen Seite von den Schläfen bis zum Kinn grün und blau geschlagen, und unzählige Schnitte und Schürfungen verunstalteten seine sonnengebräunte Haut. Während sein blondes Haar feucht und zurückgestrichen war, als hätte er sich eben erst Wasser ins Gesicht gespritzt, und sein weißes Hemd sauber und frisch gebügelt war, ließ sich nicht verkennen, welche Schmerzen er litt. Zudem hing sein linker Arm in einem merkwürdigen Winkel an ihm herunter.

Offenbar war er in der Menschenwelt gewesen, hatte gegen Dämonen gekämpft, wie es ihm von klein auf beigebracht worden war. Trotzdem schlug Callias Herz schneller vor Angst um ihn, wie immer, wenn sie daran dachte, was ihm alles widerfahren könnte.

Was natürlich komplett idiotisch war, denn ihn kümmerte nichts so wenig wie der Gedanke, was ihm zustoßen mochte.

»Callia?«

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Theron sie ansprach, und rasch sah sie wieder den Anführer der Argonauten an, der sie interessiert beäugte. Auf einmal bemerkte sie, dass auch die anderen sie komisch anguckten und sogar Isadora ihre Hände rang, verwundert ob der Szene.

»J-ja?«

»Der König?«, fragte Theron mit hochgezogenen Brauen.

»Oh, ja, stimmt.« Sie verdrängte die Flut von Gefühlen, welche Begegnungen mit Zander immer wieder lostraten, denn darin war sie im Laufe der Jahre richtig gut geworden, und wandte sich zu den Gemächern des Königs. »Er erwartet euch.«

Ihre Anspannung ließ nach, als die Männer ins Zimmer gingen, nur das verdammte Summen in ihrem Kopf nahm wieder zu.

Althea, die dem König geholfen hatte, sich mit Hilfe eines Kissenbergs halb aufzusetzen, huschte aus dem Raum, sowie sie die Argonauten sah, während sich Casey, die am Fenster stand, zu ihnen umdrehte. Callia bedauerte, kein Lavendel gegen ihren pochenden Kopf dabeizuhaben, und nahm ihren Platz in der hinteren Ecke ein, nahe genug beim König, falls er sie brauchte, und zugleich in angemessenem Abstand zu den anderen. Ihr entging Caseys warmes Lächeln beim Anblick ihres frisch angetrauten Ehemannes ebenso wenig wie das Aufleuchten in Therons Augen.

»Meli.« Theron schritt auf die Halbbluttochter des Königs zu, küsste sie auf Wange und Schläfe und wechselte leise einige Worte mit ihr. Während mehr und mehr Leute in den Raum kamen, verwandelte sich der furchteinflößende, finstere Theron in einen wirklich gut aussehenden Mann – eine Wandlung, die allein durch den Umstand bewirkt wurde, dass er Casey anlächelte und sie in seine Arme nahm.

Beim Anblick der beiden tat sich eine schmerzliche Leere in Callias Brust auf. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, gar nicht lange her, da war sie von derselben überwältigenden, elektrisierenden Emotion beherrscht gewesen. Ihr Blick wanderte über die Gruppe hinweg zu Isadora, die an der Wand lehnte, gleichfalls in einigem Abstand zu den anderen und weit entfernt von jenem Glück, das ihre Schwester gefunden hatte. Dann sah sie wieder zu Zander, der sich dicht an der Tür postiert hatte, auf dass er bei der erstbesten Gelegenheit die Flucht ergreifen konnte.

Ja, dieses Gefühl kannte Callia nur zu gut. Ihr ging es nicht anders, wann immer sie ihm begegnete. Wut regte sich in ihr, weil er seinen Blick auf alles andere richtete, bloß nicht auf sie. Einiges von dem Bart, den er letztes Mal noch trug, hatte er mittlerweile abrasiert, und selbst grün und blau geprügelt, hatte er größere Ähnlichkeit mit Adonis als sein Vorfahr Achilles: bronzefarbener Teint, blondes Haar, muskulös und wunderschön. Er war der Älteste der Argonauten, der einzige, von dem das Gerücht ging, er wäre unsterblich. Und der einzige, von dem Callia einmal dummerweise geglaubt hatte, sie würde ihr Leben mit ihm verbringen.

»Ich will keine Umschweife machen«, begann der König und riss Callia aus ihren düsteren Gedanken. Seine Stimme war von der Krankheit geschwächt, aber fest. »Eine Einigung mit dem Rat scheint zusehends unmöglicher. Zwar haben sie bislang noch nicht offen gedroht, aber es ist durchgesickert, dass sie sich bereitmachen, in dem Moment zuzuschlagen, in dem ich hinscheide. Theron und ich mögen in jüngster Zeit manche Meinungsverschiedenheit gehabt haben.« Er neigte den Kopf in die Richtung, aus der er zuletzt Therons Stimme gehört hatte. »Doch wir beide stimmen überein, dass die Zukunft der Argonauten nicht in den Händen des Rats liegen darf. Lucian macht keinen Hehl daraus, dass er die Argonauten durch die Portalwachen ersetzen will. Ich muss euch gewiss nicht erklären, dass dies unseren Untergang bedeuten würde.«

Er musste pausieren, um zu verschnaufen. Theron senkte den Kopf und konzentrierte sich auf Caseys Hand in seiner, als wüsste er, was nun käme, und wollte es lieber nicht hören.

»So glücklich ich bin, dass Theron eine meiner Töchter geheiratet hat, macht diese Verbindung unsere Monarchie nicht weniger angreifbar für den intriganten Rat. Ich sehe keine andere Möglichkeit, als bei dem ursprünglichen Plan zu bleiben. Theron und ich sind uns einig, dass Isadora sich vermählen muss …«

»Du wusstest das?« Casey sah ihren Ehemann empört an.

»Schh, Meli«, sagte Theron und tätschelte ihre Hand.

»… und zwar mit einem der Argonauten«, fuhr der König fort, was Casey nicht zu beschwichtigen schien. Wütend sah sie zu ihrem Vater. Zum Glück bemerkte der König ihre Reaktion nicht. Genauso wenig wie er mitbekam, dass sich sämtliche Argonautenschultern anspannten. »Wir konnten uns leider nicht einigen, welcher von ihnen es sein soll. Doch als König fällt mir diese Entscheidung zu.«

Er holte Luft und schien einige Zentimeter zu wachsen, so dass er auf einmal wieder die majestätische Ausstrahlung bekam, die er ehedem besaß. Selbst auf dem Totenbett verkörperte dieser Mann Autorität. »Da Jasons Linie die zweitstärkste unter den Argonauten ist, fällt die Verantwortung an dich, Demetrius.«

Es wurde sehr still, und sämtliche Augen richteten sich auf Demetrius, der recht weit hinten in der Gruppe stand, eine Schulter an die Wand gelehnt, und dem Geschehen nur begrenzte Aufmerksamkeit schenkte.

Offenbar begriff er erst, was der König gesagt hatte, als ihm bewusst wurde, dass alle ihn ansahen. Blankes Entsetzen spiegelte sich in seiner Miene, bevor er die verschränkten Arme löste und sich von der Wand abstemmte. Mit zwei Metern zehn war er der Größte unter den Argonauten, und seine tiefliegenden Augen, die Callia oft seelenlos vorkamen, verfinsterten sich, als er den König anblickte. »Kommt nicht infrage.«

»Demetrius«, warnte Theron ihn leise, ließ Caseys Hand los und richtete sich ebenfalls zu voller Größe auf.

»Ich werde es nicht tun«, sagte Demetrius kopfschüttelnd, »und ihr könnte mich nicht zwingen. Keiner kann das.«

Festen Schrittes durchquerte Theron den Raum und baute sich vor dem riesigen Argonauten auf, der nun vor Verachtung und Zorn bebte. Callia schluckte und fragte sich, ob die anderen Frauen dasselbe dachten wie sie, nämlich dass jeden Moment eine Prügelei ausbrechen würde, wenn nicht rasch etwas unternommen wurde.

»Demetrius, weggetreten.«

»Ich binde mich nicht an das«, knurrte Demetrius, wobei er über Therons Schulter hinweg zum König sah und mit dem Finger auf Isadora wies. »Und Ihr bringt mich nicht dazu.«

Theron sagte etwas, das Callia nicht hören konnte – im Gegensatz zu Demetrius’ Reaktion, die alle deutlich hörten. Vor allem Isadora, die in der Zimmerecke stand und noch mehr in sich zusammenschrumpfte.

»Werft mich aus der Argonautentruppe, wenn ihr wollt. Verbannt mich in die Menschenwelt, es ist mir gleich. Aber eines sage ich dir, Theron, ich werde das nicht heiraten! Eher sterbe ich.«

Theron klatschte eine Hand auf die Brust des Argonauten und stieß ihn nach hinten.

Oh nein, das war nicht gut, gar nicht gut.

Auf einmal redeten alle gleichzeitig: Casey, die auf die unübersehbar erschütterte Isadora zulief; Theron, der Demetrius für dessen verletzende Bemerkungen schalt; die anderen Argonauten, die sich gegenseitig Kommentare zu dem zuraunten, was hier geschah.

Der König hingegen blieb erstaunlicherweise stumm, bis eine Stimme hinten aus dem Raum rief: »Ich werde es tun.«

Und diese Stimme war Callia leider allzu vertraut.

»Wer hat das gesagt?«, fragte der König, der sich zu den Argonauten drehte, obwohl er sie nicht sehen konnte.

Abermals trat Stille ein, und alle wandten sich zur Tür um. Sogar Theron und Demetrius unterbrachen ihr Wortgefecht.

Ein Knoten bildete sich in Callias Bauch, als sich die Menge vor ihr teilte und sie Zander dort stehen sah, der den König mit einem Ausdruck vollendeter Resignation anstarrte.

Nein, er konnte unmöglich …

»Ich tue es«, wiederholte Zander ruhig. »Ich heirate Isadora.«