Drittes Kapitel

Okay, das war nicht die Reaktion, auf die Zander gehofft hatte.

Keiner sprach ein einziges Wort. Und, oh ja, er hätte sich wahrlich von jener Klippe stürzen sollen. Wenigstens wäre ihm dann diese nervenzerfetzende Stille erspart geblieben, von den entgeisterten Mienen seiner Gefährten ganz zu schweigen.

Er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, stemmte die Hände in die Hüften und wartete. Mit jeder Sekunde, die in angespannter Stille verging, wuchs sein Unbehagen. Schließlich brach er das Schweigen. »Na gut, ihr müsst mir nicht alle auf einmal danken.«

Theron blickte über seine Schulter hinweg zum König. »Wir brauchen einen Moment.«

Ehe Zander etwas entgegnen konnte, schob Theron ihn mit einer Wucht hinaus auf den Korridor, dass Zander beinahe umkippte. Der Anführer der Argonauten sprach erst wieder, als sie außer Hörweite waren; dann allerdings kannte er keine Zurückhaltung mehr.

»Was zum Henker machst du denn?«

Zander bereute sein Vorgehen schon, als er mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Nicht dass er von Theron überschäumende Euphorie erwartet hätte, weil er sich wie ein ganzer Mann verhielt. Theron hatte allen Grund, misstrauisch zu sein. Dennoch wäre ein kleiner Dank wohl nicht zu viel verlangt.

»Ich helfe.«

»Das ist kein Witz, Zander.«

»Ich sehe auch niemanden lachen.«

»Warum zum Hades machst du dich über die Situation lustig?«

»Ich mache mich nicht …«

»Skata!« Theron fuhr sich mit der Hand durch sein schulterlanges Haar. »Ich bin schon so wütend auf Demetrius, dass ich nicht mehr klar denken kann. Es ist mir unerträglich mitanzusehen, wie Isadora genötigt wird, jemanden zu heiraten, doch es gibt keinen anderen Weg. Nicht, wenn wir den Rat aus den Argonautenangelegenheiten heraushalten und verhindern wollen, dass Atalanta nach Argolea kommt. Und da brauche ich nicht noch dich, der Öl ins Feuer kippt und alles verdirbt, wenn ich …«

»Ich gieße kein Öl ins Feuer, Theron. Es ist mir ernst. Ich heirate sie.«

»Ernst? Dir?«, fragte Theron ungläubig. »Das bezweifle ich. Dies hier ist keine Übung, bei der du dich freiwillig meldest, um wiedergutzumachen, was vorhin passiert ist. Oder um das Wohlwollen des Königs zurückzugewinnen. Eine Ehe mit Isadora würde nicht enden, sowie dir langweilig wird und du zu deinen menschlichen Frauen zurückkehrst. Sie wäre für immer. Die Zeremonie bindet beide …«

»Ein Leben lang, ja, das habe ich schon kapiert. Aber seien wir ehrlich, wir reden hier über ihre Lebensdauer, nicht meine.«

Theron war sprachlos, und Zander holte tief Luft. Ja, er konnte nicht mehr zurück, nicht nachdem er sich einmal angeboten hatte. Und ein Teil von ihm wollte es auch gar nicht. »Isadora hat wie lange, fünfhundert Jahre? Das ist eine lange Zeit, aber gemessen an meinem Leben? Wahrscheinlich nichts, und das weißt du auch.«

»Zander, du bist nicht …«

»Unsterblich? Lassen wir das. Uns beiden ist klar, dass du unrecht hast.« Er hatte nicht vor, sich von Theron umstimmen zu lassen. »Demetrius will es offenbar nicht, und du kannst ihn nicht zur Heirat zwingen, wenn er so vehement dagegen ist. Außerdem ist er unberechenbar. Der Mann würde ihr selbst an guten Tagen eine Todesangst einjagen. Was denkst du, das er mit ihr macht, wenn die zwei allein sind? Willst du, dass ihr für den Rest ihres Lebens elend ist, oder, schlimmer noch, dass sie sich dauernd vor dem fürchtet, was er ihr hinter verschlossenen Türen antun könnte?«

»Nein.« Theron verzog das Gesicht und blickte hinab auf seine Stiefel. Ihm widerstrebte die Vorstellung anscheinend ebenso wie Zander. »Selbstverständlich will ich das nicht. Demetrius ist der letzte Wächter, den ich für sie aussuchen würde, doch der König hört nicht auf mich.«

»Auch keiner der anderen will sie«, sagte Zander ruhig. »Das war ihnen deutlich anzusehen. Lass mich es übernehmen. Ich möchte es, und ich bin der Einzige, der nichts zu verlieren hat.«

»Zander«, begann Theron vorsichtig und sah Zander in die Augen, »falls du Isadora heiratest, opferst du eine große Chance.«

»Welche? Meine Seelenverwandte zu finden?«, höhnte Zander. »Die hatte ich bereits gefunden, Theron, vor Jahren. Nur wollte sie mich nicht.« Therons mitleidiger Ausdruck brachte Zander beinahe zum Lachen. Schließlich hatte er gelernt, den Schmerz tief in seiner Brust zu ignorieren. »Weißt du noch, Heras Fluch über den Argonauten, der seine Seelenverwandte findet und sie verliert, um fortan nichts als eine leere Hülle zu sein? Der ist kein Mythos, denn ich erlebe ihn am eigenen Leib. Vor ihr wusste ich gar nicht, dass mir etwas fehlte; seither aber ist es, als würde sich derselbe endlose Tag immerzu wiederholen, und ich bringe ihn einfach nicht hinter mich. Und weißt du noch was? Ich bin es gründlich leid.«

»Zander …«

Das Mitgefühl, das in Therons Stimme mitschwang, war zu viel des Guten. Ungeduldig wischte sich Zander über die Stirn. Wenn er das Gespräch nicht bald in andere Bahnen lenkte, würde er Theron am Ende den wirklich hässlichen Mist erzählen, der geschehen war, und das wollte er ganz gewiss nicht. Diese Dinge sollte er für sich behalten. Sie waren seine Sache.

»Hör zu, du hast mir gesagt, ich soll mir etwas suchen, für das es sich zu leben lohnt. Das versuche ich gerade.« Er nahm seine Hand herunter. »Das Einzige, was mir dieser Tage etwas bedeutet, ist das Kämpfen, was mir, falls ich so weitermache wie bisher, nicht lange bleiben wird. Keiner sonst will sich auf diese Heirat einlassen, und ich kann es. Also, sag Ja. Bewahre die anderen davor, ein Opfer zu bringen, dem sie, wie dir wohl bewusst ist, nicht gewachsen sind, und sag dem König, du würdest meine Vermählung mit Isadora unterstützen. Damit wäre die Geschichte vom Tisch.«

Theron betrachtete ihn so lange, dass Zander unsicher wurde, ob der Argonaut ihn gehört hatte. Sein Herz pochte schnell und hart, während er wartete. Sollte Theron ablehnen … Zander wusste nicht, was er dann tat. Ihm war, als hätte man ihm soeben eine Rettungsleine hingeworfen, etwas, das ihm Halt, einen Grund zum Leben gab und ihn aus dem ewig gleichen Einerlei erlöste. Und Theron allein hatte die Macht, diesen einen Funken Hoffnung, den Zander seit Jahren erblickte, zu zertrampeln.

Endlich sagte Theron: »Der König will Erben. Nur deshalb zwingt er Isadora diese Heirat auf.«

»Ist mir klar.«

»Und dazu bist du bereit?«

War er es? Das hieße, Sex mit einer Argoleanerin haben, nicht mit einer menschlichen Frau. »Muss ich wohl sein, oder?«

»Er würde dir untersagen, zu kämpfen. Der König nähme dich aus dem Dienst und würde dich verpflichten, Argolea nicht zu verlassen, ehe sie guter Hoffnung oder ein Erbe geboren ist.«

Das hatte Zander nicht bedacht. »Okay, ja, ich schätze, das ist nachvollziehbar.«

»Und dann wäre da die Frage deiner … Manneskraft. Du hast im Laufe der Jahre einiges an Prügel eingesteckt.«

Dies war Therons höfliche Art, Zander zu sagen, er könnte einen Tritt zu viel in die Eier abbekommen haben. Doch zumindest in diesem Punkt war Zander sich absolut sicher. Er lachte schnaubend. »Ich bin durchaus zeugungsfähig, keine Sorge.«

»Woher weißt du das?«

»Weil ich diese besondere Magie schon einmal gewirkt habe.«

Theron zog die Brauen zusammen. »Du hast ein Kind?«

Hatte wäre korrekter – oder hatte beinahe. Es versetzte ihm einen Stich. »Nicht mehr.«

»Skata. Zander …«

Nein, nur wurde dieses Gespräch entschieden zu vertraut für Zanders Geschmack. »Die warten auf uns. Sag Ja, Theron.«

Der Argonautenführer seufzte. Man sah ihm deutlich an, wie er mit sich rang. Er wusste besser als alle anderen, welches Opfer Zander brachte, war er doch der einzige andere, der seine Seelenverwandte gefunden hatte. Und offensichtlich genügte der Gedanke, er könnte Casey verlieren, ihn um den Verstand zu bringen. »Du kannst nicht mehr zurück. Sowie die Zeremonie stattgefunden hat, ist es endgültig, darf es keine andere außer ihr geben.«

»Ich weiß.«

»Bist du bereit, diese Verpflichtung Isadora gegenüber einzugehen? Obwohl sie noch … da ist?«

Zander dachte an die »Sie«, die Theron meinte, und fragte sich, wie der Argonaut reagieren würde, sollte er erfahren, dass die Betreffende sogar im Raum nebenan war. Dann dachte er an all die Jahre, die er sich gewünscht hatte, alles könnte anders sein, sie könnte sich anders entscheiden – für ihn und gegen ihren dominanten Vater. Oder dass er über ihren Verrat hinwegkommen und ihr verzeihen könnte. Aber er konnte es nicht. Jedes Mal, wenn er Callia ansah, nahm er weder ihre Schönheit noch die Macht wahr, die sie besaß, sondern sah nur, was sie getan hatte. Und die Erinnerung daran war heute so schmerzhaft wie am ersten Tag.

»Bin ich«, sagte er voller Überzeugung; wahrscheinlich sogar überzeugter, als es Theron verlangen würde. Andererseits galt seine Überzeugung auch weniger Theron. Vielmehr überzeugte er sich selbst von dem, was er vorhatte.

»Isadora wird niemals deine Seelenverwandte sein, Zander.«

»Und deshalb möchte ich die Bindung zu ihr eingehen.«

Theron wandte sich zur Tür um und rieb sich übers Gesicht, als wäre er erschöpft. Dann atmete er sehr langsam aus. »Na gut, meine Unterstützung hast du. Die Entscheidung liegt natürlich beim König.« Er sah zu Zander zurück, halb mitleidig, halb respektvoll, und es hatte etwas seltsam Beruhigendes. Dann legte er Zander eine Hand auf die Schulter. Die Argonautenzeichnungen, die uralten griechischen Zeichen, die sich über seine Arme bis zu den Fingern hinunter zogen, exakt wie bei Zander und den übrigen Argonauten. »Meine Hochachtung und mein Dank. Was du tust, tust du für uns alle. Ich werde es nicht vergessen. Keiner von uns.«

Das Gefühl, das sich in Zanders Brust regte, war ihm fremd. Es war keine Freude oder gar Glück, denn er war weder erfreut noch glücklich. Nein, dies war anders. Es war warm und wohltuend, und es breitete sich aus seinem Innern in seinen ganzen Körper aus.

Es war … Stolz, jetzt erkannte er es. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit war er stolz, weil er etwas für andere tat, für seine Leute, zum Schutz ihres Lebens. Und es fühlte sich gut an. Verdammt gut, denn es bedeutete, dass er nicht mehr wie betäubt war.

Leider hatte er auf einmal einen peinlichen Kloß im Hals, so dass er nur nicken und Theron zurück in die königlichen Gemächer folgen konnte.

Drinnen verstummten erneut alle, sowie sie eintraten, und Zander beantwortete die erwartungsvollen Blicke seiner Gefährten mit einem angedeuteten Kopfnicken. Er sah jedoch nicht zu Callia, die unweit vom Bett des Königs stand. Das konnte er nicht; und er redete sich ein, dass es gut so war. Denn seine Vergangenheit mit ihr endete hier und jetzt. Seine Zukunft – für die nächsten fünfhundert Jahre mindestens – war der Gynaíka auf der anderen Seite des Raumes bestimmt. Der Frau, die er heiraten, mit der er das Bett teilen und die er schwängern würde, und zwar alles binnen der nächsten Woche.

Bei diesem Gedanken zog sich ihm der Magen zusammen, doch er hob den Kopf und ließ Theron das Notwendige übernehmen.

»Eure Hoheit«, sagte Theron, dessen tiefe, kräftige Stimme Zanders Schicksal besiegeln sollte, »ich empfehle Euch, Eure Wahl zu bedenken. Zander hat meine volle Unterstützung als der Wächter, der am besten geeignet ist, Isadora zu ehelichen.«

Keiner sprach ein Wort. Hinter sich konnte Zander Demetrius hören, der Atem holte und ihn anhielt. Ihm gegenüber waren Isadora und Callia, die ihn anstarrten. Der König runzelte die Stirn, überlegte offensichtlich, welche Möglichkeiten ihm blieben. Und er wirkte alles andere als ekstatisch.

Sag einfach Ja. Schweißperlen traten auf Zanders Stirn, als er abwartete. Ihm fiel die Unterhaltung wieder ein, die er vor Wochen mit dem König geführt hatte, als Theron im Begriff gewesen war, sich von den Argonauten zu verabschieden. Der König war sehr unerfreut darüber gewesen, dass Zander sich auf Therons Seite schlug. Und nun schien er noch viel unglücklicher. Sollte er Zander vorwerfen, was er an jenem Tag sagte …

Sag einfach Ja.

Die Spannung war schon unerträglich, da sprach der König endlich: »So sei es.«

Erst jetzt bemerkte Zander, dass auch er die Luft angehalten hatte, und er atmete aus, fast zeitgleich mit Demetrius, der hinter ihm stand.

»Die Bindungszeremonie von Zander und Prinzessin Isadora wird in sieben Tagen stattfinden«, verkündete der König. »Am Vorabend des Vollmonds. Ihr dürft gehen.«

Geschlossen wandten sich alle Argonauten zum Gehen. Um Zander herum waren lauter murmelnde Stimmen zu hören, von denen nur eine laut genug wurde, dass Zander sie verstand, und das war die von Demetrius: »Ich stehe in deiner Schuld, Z.«

Abermals empfand Zander diesen wohltuenden Stolz, obgleich ihm der Gedanke an das, was ihm bevorstand, wie ein Eisklotz auf sein Herz drückte.

Er tat das Richtige, das Einzige, was er konnte. Er bewahrte die anderen vor etwas, das sie nicht wollten, und rettete dabei hoffentlich auch einen kleinen Teil von sich.

Als er sich mit den anderen umwandte, rief der König nach ihm. »Zander!« Er drehte den Kopf zum Bett. »Enttäusche mich nicht, denn die Folgen wären fürchterlich.«

Und wieder jemand, der sich mit schlichter Dankbarkeit schwertat. Zander verneigte sich, um zu bedeuten, dass er den König gehört hatte, doch sein Stolz geriet ins Wanken.

»Ehe du wieder deinen Pflichten nachgehst«, fuhr der König fort, »findest du dich in meinem Studierzimmer ein, wo du einer gründlichen Untersuchung durch meine persönliche Heilerin unterzogen wirst. Solltest du die Überprüfung bestehen, wird die Bindungszeremonie wie geplant stattfinden. Falls nicht, wähle ich einen anderen Argonauten. Du kannst wegtreten.«

Zanders Blick fiel sogleich auf Callia, die den Boden anstarrte, als könnte er sie jeden Moment anspringen und beißen.

Bei allen Göttern des Olymp! Hatte er dieses Joch nicht auf sich genommen, um sie endgültig hinter sich zu lassen? Jedenfalls nicht, damit sie eine Gelegenheit bekam, seinen nackten Leib zu betatschen. Und, heiliger Hades, sein Blut wurde bei dieser Vorstellung nicht bloß warm. Noch viel weniger bei dem Gedanken, dass es ihre letzte Begegnung unter vier Augen sein könnte.

Callia wartete, solange sie konnte. Die Argonauten verließen den Raum, und auch Casey und Isadora gingen. Danach ließ Callia sich Zeit, den König richtig zu betten, schob den Moment auf, in dem sie mit Zander nach unten gehen musste.

Als er sich schließlich zur Tür wandte, schluckte sie. Oh, Götter! Er band sich an Isadora. In ihren wildesten Träumen hätte sie nicht damit gerechnet.

»Solltest du bei deiner Untersuchung etwas auch nur entfernt Bedenkliches entdecken, Callia«, sagte der König, »will ich es umgehend wissen. Hast du mich verstanden?«

Sie bejahte stumm, obwohl ihr nach Schreien zumute war. Zander band sich an eine andere; und nun musste sie mit ihm in jenes Zimmer gehen, ihn nackt sehen, ihn berühren, sich an alles erinnern, was sie miteinander getan hatten – und daran, was danach geschah.

Sie war so tief in Gedanken, dass sie gar nicht bemerkte, wie der König ihr Handgelenk umfasste. Erst als sie sich abwenden wollte und es nicht konnte, wurde ihr bewusst, dass sie festgehalten wurde. Sie sah den König an, dessen veilchenblaue Augen auf sie fixiert waren. Violette Augen, die sie unmöglich sehen konnten und sich dennoch auf sie richteten.

Er sagte nichts, blickte sie einfach nur an, als suchte er nach … etwas. Schließlich sagte er: »Deine Mutter war eine große Heilerin, Callia, feurig im Denken wie im Leben. Lange Zeit diente sie als königliche Heilerin, und zum Verdruss deines Vaters war sie sehr gut. Ich erkenne vieles von ihr in dir wieder, und es freut mich, dass du ihre Arbeit fortführst, auch wenn dein Vater sich anderes für dich gewünscht hätte. Aber deine Kräfte sind denen deiner Mutter noch weit überlegen, und du hast eine strahlendere Zukunft vor dir, als sie jemals hatte.« Als Callia etwas erwidern wollte, winkte er ab. »Nein, es ist wahr, und im Grunde deines Herzens weißt du es.«

Sie sah ihn nur stumm an, weil sie nicht sicher war, was sie sagen oder tun sollte.

»Callia, meine Liebe, mir ist durchaus vertraut, wie es ist, wenn man sich etwas wünscht, das man nicht haben kann, aber auf dieser Welt zählt einzig, was wir zurücklassen. Das war auch deiner Mutter bewusst. Verhindere nicht, was sein könnte, indem du nach etwas verlangst, das nie sein kann. Ein wahrer Anführer stellt seine persönlichen Bedürfnisse zugunsten des Gemeinwohls zurück. Und er bringt Opfer, die am Ende alles rechtfertigen, was vorher kam.«

Ihr Puls pochte stärker, und sie spürte ein seltsames Kribbeln an ihrem Haaransatz, während sie den König betrachtete und sich fragte, wie er wissen konnte, was sie empfand. Wusste er von ihrer Vergangenheit mit Zander? Hatte ihm jemand erzählt, was zwischen ihnen gewesen war? Oder sprach er von Loukas, Lucians Sohn, jenem Ándras, der eines Tages den Rat der Zwölf leiten sollte und dem Callia schon als Kind versprochen wurde?

»Ich … bin keine Anführerin, Majestät.«

Der Ausdruck in seinen Augen wurde eine Nuance weicher, gerade genug, um Callia zu verraten, dass er mehr wusste, als sie erwartet hätte. »Noch nicht. Aber eines Tages vielleicht.«

Dann ließ er sie ebenso unvermittelt los, wie er ihre Hand vorher ergriffen hatte, lehnte sich in die Kissen zurück und schloss die Augen. Offenbar hatte ihn die letzte Stunde sehr viel Kraft gekostet. Fort war alle Sanftmut und Weisheit, als er sagte: »Berichte mir, nachdem du bei Zander warst. Ich will dringend wissen, ob er Erben zeugen kann. Bevor ich dieser Verbindung zustimme, muss ich mir seiner Manneskraft sicher sein. Nach der Zeremonie gibt es kein Zurück mehr. Und gib der nutzlosen Althea Bescheid, dass ich nicht gestört werden will.«

Callia wurde flau, als sie den alten Ándras ansah, der ruhig einschlummerte, scheinbar sorglos. Der König erwartete von ihr …

Skata.

Sie hob eine zitternde Hand an ihre Stirn, wischte sich die Schweißperlen ab, die sich dort gebildet hatten, und wandte sich zur Tür. Diese Untersuchung nahm plötzlich die Züge einer persönlichen Folter an.

Beim Hinausgehen brodelten Angst und Wut in ihr. Nachdem sie Althea ausgerichtet hatte, was der König sagte, begab sie sich widerwillig zur großen Marmortreppe und hinunter in das Studierzimmer des Königs im ersten Stock.

Zum Teufel mit dem König! Callias schlechte Laune wuchs, als sie die unterste Stufe erreichte und um die Ecke zum Studierzimmer bog. Zum Teufel mit diesen politischen Winkelzügen! Und zum Teufel mit den Argonauten und ganz besonders Zander, der Gefühle in ihr weckte, die sie zehn Jahre lang mühsam verdrängt hatte. Sie wollte kein Opfer bringen, wollte nicht an Heirat oder Bindungen denken oder daran, das Richtige zu tun. Und vor allem wollte sie nicht allein mit dem einen Argonauten sein, der ihr Leben zerstört hatte.

Sie drückte die schwere Tür auf und sah Zander, der drinnen vorm Erkerfenster stand und sich zu ihr umdrehte. Die Nachmittagssonne ließ sein kurzes blondes Haar leuchten und umrahmte seinen muskulösen Körper, der Callia vertrauter war als jeder andere. Zander begrüßte sie nicht, wie er es überhaupt nie tat, und seine Miene zeigte keinerlei Reaktion auf sie – wie immer.

Wortlos wandte er sich wieder zum Fenster um.

Hinter Callia fiel die Tür ins Schloss, während sie bereits auf den Schreibtisch zuging. Ihre Schuhe klackerten auf dem Königssiegel, als sie den Marmorboden überquerte. Sie musste ruhig, kühl, professionell sein. So verhielt sie sich stets ihm gegenüber, egal wie gern sie etwas nach ihm werfen würde. Wenn er so tun wollte, als wären sie Fremde, konnte sie es auch.

»Zieh dich aus«, sagte sie und räumte die Lampe vom Mahagonischreibtisch, damit sie ihn als Untersuchungstisch benutzen konnte. »Vollständig.«

Blaugraue Augen richteten sich auf sie, deren Blick alles andere als Freude ob der Tatsache spiegelte, allein mit ihr zu sein. Als würde sie das interessieren!

»Ich entblöße mich nicht vor dir.«

Callia ignorierte das kleine Pochen, das seine tiefe Stimme in ihrem Herzen verursachte. »Dann dürfte es schwierig werden, dich mit der Prinzessin zu vermählen«, erwiderte sie und sah verächtlich zu seinen Hüften. Am liebsten würde sie ihm eine Wunde in die Brust reißen und eine ganze Wagenladung Salz hineinschütten. »Oder eben nicht, je nach Lage der Dinge. Es gehen Gerüchte, du könntest es nur mit menschlichen Frauen. Ob es dir gefällt oder nicht, der König möchte sichergehen, dass du deiner Aufgabe gewachsen bist, ehe er dich seine Tochter heiraten lässt.«

Ihr war bewusst, dass sie ihn wütend machte, doch sie konnte nicht anders. Zu vieles hatte sich angestaut, seit er ihr vor Jahren den Rücken zukehrte. Sie wollte, dass er genauso litt wie sie, dass dieser eiskalte Mistkerl etwas empfand, irgendetwas. Und da dies ihre erste Unterhaltung seit zehn Jahren war, verwunderte es gewiss niemanden, wie gründlich sie schiefging.

Callia konzentrierte sich auf seine Augen, die sich zusehends verfinsterten, und fühlte sich ein klein wenig besser, weil er endlich eine Gefühlsregung zeigte, auch wenn es sich um Wut und Verachtung handelte. »Natürlich kannst du dir die Unannehmlichkeit dieser Untersuchung ersparen, indem du schlicht zugibst, impotent zu sein.«

»Das würde dir gefallen, nicht wahr?«

»Nein«, entgegnete sie ernst. »Mir würde es gefallen, dies hier hinter mich zu bringen und zu gehen. Anders als du vielleicht glauben magst, Zander, dreht sich meine Welt schon lange nicht mehr um dich. Und jetzt zieh dich aus, oder ich sage dem König, dass er jemand anderen auswählen soll.«