Einundzwanzigstes Kapitel

Callia überkreuzte die Arme vor der Brust und ging im Wohnzimmer der Hütte auf und ab. Wie alles in der Kolonie, war auch sie rustikal eingerichtet. Große Ledersofas und klobige Tische machten den Raum gemütlich und einladend, obwohl das Letzte, was Callia im Moment wollte, Entspannen war. Mit jedem Sekundenticken der Uhr wuchs ihre Angst und ihr Wunsch, jemanden umzubringen.

Es war fast zehn Uhr abends, Zander und die anderen waren seit knapp dreißig Minuten weg. Einzig Gryphon war geblieben und wachte vor der Tür. Zwar hatte Nick beteuert, dass seine Soldaten das mit dem Babysitten übernehmen könnten, doch Theron bestand darauf, den Wächter hierzulassen. Und Callia war nach wie vor stinksauer wegen der Art, wie sie und die anderen »Frauen« zum Warten verdonnert wurden. Mal wieder.

»Du läufst noch eine Rinne in den Boden«, sagte Casey von einem der Sofas aus. »Komm her und setz dich.«

»Kann ich nicht.« Callia nagte an ihrem Daumennagel. »Was glaubt ihr, wo sie gerade sind? Hätten wir eine Karte, könnte ich …«

»Oh Jammer des vergessenen Weibes«, seufzte Isadora vom Fenster aus, wo sie auf den Wasserfall hinausblickte, der sich in einen großen Teich mitten in der Höhle ergoss. Sie wandte den Kopf zu Callia und Casey. »Ist anscheinend unsere Lebensgeschichte, was?«

»Nein, so ist es nicht«, sagte Casey. »Theron hat recht, ob ihr beide es zugeben wollt oder nicht.«

Callia sah zu Isadora. »Tja, sie ist eben die klassische verliebte Frischverheiratete.«

»Ja«, bestätigte Isadora und rieb sich die Stirn. »Widerlich, nicht wahr? Und ich habe sowieso schon Kopfschmerzen, weil ich mit euch beiden im selben Zimmer bin.«

Casey verschränkte trotzig ihre Arme und lehnte sich schnaubend zurück. »Ich bin zwar sehr wohl für Gleichberechtigung, aber nicht dämlich. Und es wäre dämlich von uns, da draußen rumzulaufen.« Sie sah zu dem Siegel, das vor ihr auf dem Couchtisch lag. »Wie wär’s, wenn ihr zwei mal kurz aufhört zu schmollen und wir uns überlegen, was wir tun können?«

»Was soll das denn sein?«, fragte Callia genervt.

Casey nahm ein Buch auf, das neben ihr auf der Couch lag. »Kennt ihr beide die Geschichte der Horen?«

»Nein«, antwortete Callia. »Ehrlich gesagt, bin ich in letzter Zeit wenig zum Lesen gekommen.«

Auf ihre spitze Bemerkung hin rümpfte Isadora die Nase.

Casey verdrehte die Augen. »Bevor Nick mit den anderen weg ist, hat er mir das gegeben.« Sie zeigte auf den dicken Wälzer. »Es gab drei, die mal die Horen, mal die Jahreszeiten genannt wurden. Aber vor allem waren sie die Hüterinnen des Himmels und des Olymps. Eunomia war für die gesellschaftliche Ordnung zuständig, Dike für Gerechtigkeit. Und dann war da noch Eirene, die für Frieden und Gleichgewicht zwischen den beiden anderen sorgte. Und sie alle trugen ein Mal: ein geflügeltes Omega.«

»Eirene«, hauchte Callia, die neben Casey auf das Sofa sank. »So hat Atalanta mich in der Hütte genannt.«

Isadora setzte sich ihnen beiden gegenüber hin. »Unsere jeweiligen Fähigkeiten passen zu den Horen, meine Vorahnungen, Caseys Blick in die Vergangenheit, dein Ausgleichen. Es wundert mich nicht, dass Atalanta dich als Eirene erkannt hat.«

»Aber ich bin eine Heilerin. Ich kann nicht …«

»Was ist denn eine Heilerin?«, unterbrach Casey sie. »Jemand, der das Gleichgewicht im Körper wiederherstellt. Callia, du bist das Gleichgewicht zwischen uns.« Sie nickte zu Isadora. »Zwischen den Erwählten.«

Callia hatte das ungute Gefühl, dass die beiden sie für etwas vereinnahmen wollten, zu dem sie nicht bereit war. Sie musste sich erst noch an die Tatsache gewöhnen, dass sie die Tochter des Königs war, und jetzt kamen sie ihr mit mythologischen Verstrickungen. »Hört mal, das klingt ja alles ganz spannend, aber wieso kommt es mir vor, als würde es da mehr geben als tolle Namen und historische Verbindungen?«

»Orpheus erwähnte eine Waffe«, sagte Isadora. »Er hat mir erzählt, wir drei hätten etwas, das wir noch nicht verstehen könnten. Ich habe ihm nicht geglaubt, aber ihr habt doch auch diesen Stromschlag bei dem Siegel gespürt.« Sie streckte ihre Hände zu dem Siegel aus.

»Ähm, was machst du da?«, fragte Callia. Ja, sie hatte die Elektrizität gespürt, von der Isadora sprach, aber sie hatte keine Ahnung, was sie zu bedeuten hatte.

»Orpheus hat mir beigebracht, wie ich meine Fähigkeiten fokussiere«, antwortete Isadora.

»Moment!«, Casey hob eine Hand. »Was soll das heißen, Orpheus hat dir was ›beigebracht‹? Und ich dachte, du kannst nicht mehr in die Zukunft sehen. Ist deine Gabe wieder da?«

Isadoras Stirn kräuselte sich. »Nein, noch nicht. Aber das hier ist anders. Ich sehe nicht in die Zukunft oder die Vergangenheit, sondern in die Gegenwart. Und mich würde interessieren, ob wir, wenn wir uns alle auf dasselbe konzentrieren, ein Bild bekommen. Oder einen Ort.«

Callia wurde ganz kribbelig, als sie begriff, und sie schluckte. »Du willst, dass wir uns auf die Wächter konzentrieren, damit wir sehen, wo sie sind.«

»Nein«, erwiderte Isadora. »Ich pfeife auf die Argonauten. Ich will, dass wir uns auf Atalanta fokussieren.«

Casey und Callia tauschten besorgte Blicke.

»Ja, natürlich«, sagte Casey nach einer Weile. »Wir wissen, dass ein Zehnjähriger niemals einem Dämon entkommen könnte, und Atalanta würde ihn nicht töten. Aber sie wird ihn verstecken. Falls wir herauskriegen, wo sie ihn festhält, können wir es den Argonauten per Funk durchgeben.«

Erstmals seit die Wächter fort waren, regte sich Hoffnung in Callia. Ihre Handflächen begannen zu schwitzen, und sie wischte sie an ihrer Hose ab. »Was ist, wenn sie uns sehen kann? Ich meine, ist das nicht gefährlich? Wenn wir sie sehen, kann es doch gut sein, dass sie uns auch sieht.«

»Kann sein, nehme ich an«, antwortete Isadora. »Aber was macht das? Sie weiß nicht, wo wir sind.«

Callia sah von Isadora zu Casey und wieder zurück. Keine von ihnen sagte etwas. Es mochte sinnvoll sein, dennoch war Callia hin und her gerissen. Sie könnten sich irren, Atalantas Kräfte könnten stark genug sein, sie zu sehen, ihre Pläne zu erkennen, ihre Gedanken zu lesen.

Casey beugte sich vor. »Also, wie machen wir das?«

»Berührung und Konzentration waren bei mir immer Voraussetzungen, in die Zukunft zu sehen«, sagte Isadora.

»Und bei mir, um in die Vergangenheit zu sehen«, ergänzte Casey.

Isadora sah Callia an. »Bereit?«

Nein, sie war nicht bereit. Aber Casey hatte recht. Zumindest taten sie irgendetwas, und das Risiko war verschwindend gering.

Zögerlich senkte sie ihre Hand über das Siegel. Das Metall fühlte sich kalt an. Casey und Isadora berührten es ebenfalls, und kaum fassten alle drei es an, loderte Hitze in der Scheibe auf und strömte Callias Arm hinauf.

Sie rang nach Luft. Das Glühen wurde intensiver, wechselte von sanftem Rosa zu einem leuchtend roten Strahlen um ihre Hände.

»So ist es richtig«, flüsterte Isadora. »Jetzt konzentriert euch. Denkt an das Ziel.«

Callia schloss die Augen und malte sich Atalanta aus, so gut sie es konnte; allerdings weniger das Bild der Gottheit, eher die Essenz ihrer Seele. Farben blinkten hinter ihren Lidern, Weiß, Gold, Blau, Schwarz. Das Schwarz blieb wie ein Fleck, wie das Böse, das die Seele der Halbgöttin trübte. Ein Bild flackerte auf, verschwommen zuerst, doch beständig klarer werdend: grüne, weiche Hügel, ein breiter Fluss, Klippen, ein sich schlängelnder Weg und ein Gebäude, dreigeschossig mit Kuppeldach, das über dem steilen Felshang vollkommen deplatziert wirkte. Da war Atalanta, auf einem Thron im Innern des Hauses, blutrot gewandet. Sie sah hinauf zu einer runden Galerie, wo zwanzig oder mehr ihrer Dämonen auf ihre Befehle warteten.

Es war nicht der Truck Stop oben in den Bergen, zu dem Zander und die Argonauten unterwegs waren. Dies hier war woanders, irgendwo, wo es grün und feucht war, nicht kalt und verschneit. Stimmen raunten, aber die Worte verstand Callia nicht. Die Dämonen eilten weg, bis Atalanta ganz allein in dem achteckigen Raum war. Sie senkte ihren Kopf und blickte starr geradeaus. Es schien, als würde sie direkt Callia ansehen.

Ich sehe dich, Horae.

Callia stieß einen stummen Schrei aus und riss die Augen auf. Sie sah Casey und Isadora an, die beide kein bisschen erschrocken wirkten. Sie hatten ihre Augen geschlossen, und ihre Gesichter waren vollkommen ruhig. Beide atmeten langsam.

Ja, dich, Eirene.

Als Callia sich umblickte, war es nicht das gemütliche Wohnzimmer, das sie umgab, sondern sie sah Atalanta wieder, den Thron, auf dem sie saß, und die Steinmauern hinter ihr.

Ich sehe in deine Gedanken. Ich weiß, was du willst. Wir sind gar nicht so verschieden, du und ich. Die Zurückgelassenen. Die, die von den mächtigen Helden verstoßen wurden. Du weißt, warum er dich abgewiesen hat.

Callias Herz pochte schneller. Sie wollte ihre Hand von dem Siegel nehmen, konnte es aber nicht.

Weil du eine Frau bist. Und für ihn bedeutet das schwach. Denkst du ehrlich, er verbietet dir zu kämpfen, weil er dich beschützen will? Weil er dich liebt? Sie lächelte spöttisch. Ein Argonaut kennt keine Liebe. Er ist das Produkt des egoistischen Gottes, der ihn zeugte.

»Du lügst.«

Er unterdrückt dich, weil er es kann, fuhr Atalanta fort, als hätte Callia nichts gesagt. Weil es seine Art seit Urzeiten macht. Und weil du, Eirene, seine Schwäche bist, sein wunder Punkt, seine Achillesferse. Glaubst du, ihn interessiert, ob du lebst oder stirbst? Er interessiert sich nur für sich selbst.

»Nein«, flüsterte Callia.

Frag ihn, Weib. Und erfahre die Wahrheit. Kein Mann, insbesondere kein Argonaut besitzt Ehrgefühl. Nicht, wenn seine Existenz auf dem Spiel steht.

Callias Gedanken schweiften zu Zander, zu ihrer gemeinsamen Zeit, seinem Geständnis heute, in dieser Kolonie, seiner Unsterblichkeit und seiner Eröffnung, sie wäre sein Leben.

Ein zynisches Grinsen trat auf Atalantas Züge, das Callia gleichermaßen verspottete wie provozierte. Ja, Eirene, du weißt, dass ich die Wahrheit sage. Er braucht dich nur zum Leben. Und er und die anderen werden dich weiterhin unterdrücken, so lange sie irgend können.

Nein, es konnte nicht wahr sein.

Deine Helden laufen in eine Falle. Meine Dämonen erwarten sie. Ihre Stimme wurde zu einem Zischen. Und sie werden abgeschlachtet werden. Jeder Einzelne von ihnen.

Callia schluckte. »Zander kann nicht getötet werden.«

Aber er kann verwundet werden. Und meine Dämonen werden es sehr genießen, ihn zu foltern, bis du an Altersschwäche stirbst.

Angst bohrte sich in Callias Herz.

Ich wäre natürlich gewillt, einen Handel zu vereinbaren.

Atalanta wies nach rechts, und da sah Callia den Jungen. Er lehnte an einer Wand, den Kopf schlafend zur Seite geneigt, die Hände auf dem Rücken gefesselt und seine Beine vor sich ausgestreckt. Und jener Teil in ihr, von dem Callia glaubte, dass er schon vor langer Zeit gebrochen wurde, erwachte brüllend zu neuem Leben. Der Junge war eine Miniaturversion von Zander mit blondem Haar, Bronzeteint und einem Gesicht, das von Engeln geküsst schien.

Ich bin bereit, den jungen Maximus zu verschonen, im Austausch gegen etwas von weit größerem Wert.

Im Tonfall der Halbgöttin schwang eine freudige Erregung mit, die Callia misstrauisch machte. Sie sah wieder zu Atalanta. »Du willst das Siegel.«

Nicht bloß das Siegel, Eirene. Dich will ich auch.

Eine warnende Stimme in Callias Kopf schrie Nein!, doch die in ihrem Herzen sagte ihr, dass sie keine andere Wahl hatte. Sie würde alles für ihren Sohn tun, auch ihr Leben opfern, um seines zu retten. Und Zander …

Sie durfte Zander und die anderen nicht in eine Falle tappen lassen. Nicht, wenn sie es irgend verhindern konnte. Und nicht, solange sie in ihrem Herzen wusste, dass Zander sie liebte. Er hatte sie nicht hiergelassen, weil sie seine Schwäche war, wie Atalanta behauptete, sondern damit sie in Sicherheit war.

»Woher weiß ich, dass du Wort hältst?«

Ich gebe es dir als Heroin, als Frau und als Mutter. Komm schon, Eirene, du musst doch gewahr sein, dass ich, sobald ich dich und das Krónossiegel habe, die anderen nicht mehr benötige.

Ja, klar, als wäre Callia so blöd, ihr das zu glauben! »Und was ist mit meinen Schwestern?«

Die Erwählten scheren mich nicht. Dies ist zwischen dir und mir. Sie hören nichts von unserer Unterhaltung. Atalanta neigte den Kopf. Sag, Eirene, was wärst du gewillt, für das Gleichgewicht in dieser und der nächsten Welt zu opfern?

Callia blickte zu Casey und Isadora, die beide nicht bemerkten, was sich unmittelbar vor ihnen abspielte. Ihr Leben lang hatte Callia dagesessen und nichts getan, während andere Entscheidungen für sie fällten. Und was hatte es ihr genützt? Diejenigen, die sie liebte, wurden ihretwegen verletzt. Nun verstand sie auch, warum, und bekam die Chance, etwas zu ändern.

Sie glaubte nicht, dass Atalanta Wort halten würde, und erst recht wäre sie nicht so dumm, der Halbgöttin das Siegel auszuhändigen. Aber wenn sie von der Kolonie wegkommen und herausfinden könnte, wo Atalanta ihren Sohn festhielt, konnte sie vielleicht Zander verständigen, damit er und die anderen zu dem Jungen gelangten, ehe es zu spät war. Atalanta brauchte nur eine Blutsverwandte der Horen, und Callia würde sich mit Freuden gegen ihren Sohn eintauschen. Die Halbgöttin würde sie nicht töten, wenn sie Callia wirklich brauchte, was bedeutete, dass auch Zander sicher wäre.

Sie sah zu dem Satellitentelefon, das beinahe in Reichweite lag. Nick hatte es ihnen für Notfälle hiergelassen, und kaum fielen ihr die Anweisungen des Halbblutführers wieder ein, hatte sie die Lösung. Tat sie nichts, waren Zander und die anderen verloren. Ging sie auf den Handel ein, wäre nur ihr Leben verwirkt.

Was wiederum passend war, bedachte man, dass ihr Leben sie alle erst so weit gebracht hatte, nicht?

Sie konzentrierte sich wieder auf Atalanta. »Sag mir, wo ich dich finde.«

Simon saß in einem Ohrensessel im strengen Wohnzimmer des Hauses, das er gemeinsam mit seiner Tochter bewohnte. Auf dem Schoß hielt er ein Skizzenbuch von seiner verstorbenen Frau. Auf dem Tisch vor ihm stand ein unberührtes Kognakglas, in dem sich die gedämpften Lichter spiegelten.

Er blätterte die Seite um und betrachtete ein Bild von Callia als kleinem Mädchen, wie sie im Sand hinterm Haus schaufelte. Ein anderes zeigte sie lächelnd mit marmeladenverschmiertem Mund; auf einem dritten packte sie die Geschenke zu ihrem sechsten Geburtstag aus. Seite um Seite gefüllt mit Szenen aus ihrem Leben: Bilder von ihr mit ihrer Mutter, mit ihm, von ihr allein.

Jetzt war sie auch allein, und das war seine Schuld. Er wollte weinen, aber er hatte kein Recht, Tränen zu vergießen, denn sein Verlangen, sie zu seiner Tochter zu formen, hatte ihr alles geraubt, was ihr lieb und teuer war. Ein echter Vater würde das nicht tun, nein, ein liebender Vater würde ihren Wünschen den Vorrang vor seinen eigenen geben.

Als es an der Tür klopfte, blickte er erschrocken auf, blieb jedoch sitzen. Das Klopfen wurde zu einem energischen Hämmern.

»Simon, mach die verdammte Tür auf!«

Lucian. Simon schloss die Augen. Er war wahrlich nicht in der Stimmung, sich mit dem Rat zu befassen, und ihm war gleich, welche Strafe sie sich für seine Lügen ausgedacht hatten. Was machte das noch? Er hatte bereits das Einzige verloren, das ihm je etwas bedeutete. Wenn er nur an Callias Blick dachte, als ihr klarwurde, was er getan hatte …

»Bist du taub?«, rief Lucian von der Tür.

Simon hatte nicht bemerkt, dass Lucian schon im Zimmer stand. Die vermaledeiten Diener hatten nicht abgeschlossen!

»Du siehst aus, als hättest du dir einen Tanz mit Hades geliefert«, sagte Lucian, der noch das traditionelle Chison trug und um die Couch herum auf Simon zukam. »Steh auf.«

Simon lehnte den Kopf nach hinten und schloss abermals die Augen. »Geh weg. Was immer der Rat beschlossen hat, ich stelle mich ihm morgen. Jetzt will ich einfach nur allein sein.«

Lucians Schritte verstummten vor Simons Sessel. »Loukas wird vermisst.«

»Er ist ein erwachsener Ándras und wird schon wieder auftauchen.«

»Nein, Simon, du verstehst mich nicht. Loukas ist gleich nach dem Eklat in der Ratskammer verschwunden. Eine der Wachen erzählte mir, dass er kurz nach den Argonauten durch ein Portal ging. Und er nutzte dieselben Koordinaten.«

Langsam öffnete Simon die Augen wieder und blickte zum Ratsvorsitzenden auf. »Warum sollte er ausgerechnet jetzt ins Menschenreich wollen?«

Lucian verkniff den Mund.

Prompt überkam Simon ein seltsames Unbehagen. Er stand auf. »Was verschweigst du mir?«

Lucian und Simon waren ungefähr gleich groß und gleich alt, doch Lucian war stets der Selbstbewusstere von beiden gewesen, ein veritabler Anführer, der wusste, was seine Leute brauchten. Heute Abend hingegen wirkte er erschüttert. Seine schmalen Lippen waren fest zusammengepresst, bis er schließlich sagte: »Vor zehn Jahren ist er auf recht ähnliche Weise durch das Portal gegangen; nur folgte er damals dir und nicht den Argonauten.«

In Simons Kopf fügten sich lauter winzige Einzelteile zusammen, leuchteten Fragen auf, über die er nachgedacht, deren Antworten er indes eigentlich nicht wissen wollte. »Er folgte mir, um Callia zu finden.«

Lucian nickte. »Sie war ihm versprochen, und er glaubte dir die Geschichte nicht, dass sie in der Menschenwelt krank geworden wäre.«

Plötzlich ergab alles einen Sinn. »Als er herausfand, dass sie schwanger war, ging er zu Atalanta und brachte sie zu dem Dorf in Griechenland«, folgerte Simon.

»Ja. Du musst verstehen, dass Callias Affäre mit einem Argonauten und ihre Schwangerschaft einen Skandal für meinen Sohn bedeuteten, von dem sich keiner von uns ohne Weiteres erholt hätte. Immerhin war sie mit ihm verlobt und er der künftige Ratsvorsitzende.«

»Du hast es gewusst«, murmelte Simon, in dem Wut aufbrodelte.

Lucian machte sich gerade. »Ach, tu nicht so, Simon! Du bist nicht unschuldig an dieser Entwicklung. Du hast den Handel mit Atalanta geschlossen, das Leben deiner Tochter gegen das des Kindes eingetauscht. Dazu hat dich niemand gezwungen, also spiel jetzt nicht den Ehrenmann.«

»Es hätte nie einen Handel gegeben, wäre Loukas nicht zu Atalanta gegangen.«

»Was geschehen ist, ist geschehen. Daran lässt sich nichts mehr ändern. Wir sollten uns lieber um die Gegenwart sorgen. Ich bin hier, weil ich denke, dass Loukas auch jetzt wieder ins Menschenreich ging, um Atalanta aufzusuchen.«

Simon war entsetzt. »Warum?«

»Weil er nicht ahnte, dass das Kind noch leben könnte. Und solange es am Leben ist, wird Callia sich nicht an ihn binden. Das aber, fürchte ich, ist das Einzige, was mein Sohn will.« Lucians Schultern sackten merklich ein. »Er glaubt, dass er sie verdient. Seiner Ansicht nach hat er einen rechtmäßigen Anspruch auf sie.«

Vierhundert Jahre. Die meiste Zeit hatte Simon sich dem Status quo gefügt. Er hatte die Sitten und Gesetze nicht infrage gestellt, von denen der Rat behauptete, sie kämen ihrer Welt zugute, weil sie ihn nicht betrafen. Und nachdem er zum Ratsmitglied wurde, hatte er sein Empfinden für Richtig und Falsch zugunsten der Politik unterdrückt. Seine Frau hatte ihn mehr als einmal wegen der Gesetze zur Rede gestellt, ihm gesagt, dass Fortschritt und Leben durch die Gynaíkes in ihrem Land erblühen würden, nicht durch dessen Anführer. Aber er hatte nicht zugehört, hatte ihre Vorschläge und Ideen schroff abgetan, zumal die meisten ihrer Ideen der Zeit entsprangen, in der sie dem König gedient hatte. Sie hatten viel gestritten, und letztlich war die Distanz zwischen ihnen so unüberbrückbar geworden, dass sie in die Arme eines anderen getrieben wurde.

Er war verletzt gewesen, hatte sich betrogen gefühlt, sie jedoch nach der Reinigungszeremonie wieder zu sich genommen. Danach war ihre Beziehung nie mehr dieselbe gewesen. Das Kind, das sie gebar, war zu Simons Lebensinhalt geworden. Er zog Callia auf, formte und beschützte sie, weil er überzeugt war, dass sie dem Gesetz nach seine Tochter war, die er verdiente.

Schweiß rann ihm vom Nacken über den Rücken. »Glaubst du, er bietet Atalanta einen neuen Handel an? Das Kind zu töten? Was könnte er ihr im Gegenzug geben?«

Lucians Miene wirkte durch und durch unglücklich. »Die Argonauten und die Halbblute. Falls die Argonauten zur Kolonie gingen und Loukas ihnen gefolgt ist …«

»Gütige Götter!«

»Genau.«

Simon sah ihn skeptisch an. »Warum kümmert es dich? Seit wann sorgst du dich um Halbblute oder Argonauten?«

»Tue ich nicht. Aber deren Tod ist keine Lösung. Vergiss nicht, dass mein Neffe ein Argonaut ist. Und auch wenn ich dem nicht zustimme, was die Ewigen Wächter tun, will ich weder Gryphons noch das Blut der anderen an meinen Händen.«

Sie mussten umgehend handeln, dachte Simon, und ein Teil von ihm hoffte beinahe, dass sich ihm die Chance zur Wiedergutmachung bot. »Wir müssen Loukas suchen und ihn aufhalten.«

»Orpheus erwartet uns am Portal. Er weiß, wo die Halbblutkolonie ist. Wenn wir sofort aufbrechen, könnten wir dort sein, bevor es zu spät ist.«