Zweiundzwanzigstes Kapitel

Callias Herz raste, als sie aus dem verborgenen Tunnel kam, der zu den Höhlen der Kolonie führte. Eisige Luft blies über ihre Wangen, während sie ihre Handschuhe überstreifte. Der fast volle Mond erhellte die Lichtung und den Wald dahinter hinreichend, dass sie den Pfad nach Silver Hills ausmachen konnte, wo sie hoffte, irgendein Transportmittel zu finden.

Sie war gegangen, als Isadora und Casey schliefen. Beide waren erschöpft und enttäuscht vom erfolglosen »Versuch« mit dem Siegel gewesen, wohingegen Callias Nerven blanklagen, bis ihre Halbschwestern endlich einnickten.

In ihrer Tasche hielt sie das Satellitentelefon umklammert. Sobald sie sich der Stadt näherte, würde sie Zander anrufen und ihr Signal von ihm orten lassen. Er wäre gewiss nicht erfreut, aber auf die Weise konnte er ihr folgen. Und sie war absolut sicher, dass Atalanta sie nicht umbringen würde. Nicht wenn Zander ihren Sohn fand, bevor die Halbgöttin entschied, dass sie keine Verwendung mehr für Callia und Maximus hatte.

Maximus. Max. Ihr wurde ganz warm ums Herz, weil sie nun seinen Namen und sein Aussehen kannte, und sie fühlte eine neue Entschlossenheit. Wieder blickte sie auf ihren Kompass und stapfte in Richtung Bäume.

Zehn Schritte weit kam sie, da schoss aus dem Nichts ein Arm hervor und bog sich um ihren Hals. Sie fuhr zusammen, wollte schreien, doch eine Hand klatschte ihr auf den Mund und verhinderte, dass sie auch nur den kleinsten Laut machte. Dann legte sich ein starker Arm um ihre Taille und riss sie nach hinten gegen einen harten Körper.

Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie versuchte, sich zu wehren, aber es war zwecklos.

»Du hast mich warten lassen, Syzygos«, hauchte eine Stimme in ihr Ohr, die Callia auf Anhieb erkannte. »Ich sagte dir doch, dass du mich nicht warten lassen sollst.«

Syzygos. Weib.

Ihr Herz schlug noch schneller. Loukas war hier? Was in aller Welt hatte er vor?

»Hast du gedacht, du kannst mir entkommen?«, knurrte er. »Das hast du schon einmal versucht, und ich holte dich zurück. Aber ich bin deine Eskapaden gründlich leid.«

Callia wurde stocksteif, und für eine Sekunde setzte ihr Verstand aus.

Ein Brüllen in den Bäumen um sie herum weckte sie jäh aus der Benommenheit ihres Schocks. Callia riss die Augen weit auf, als unzählige Dämonen aus dem Wald gestürmt kamen und geradewegs auf die Tunnel zuliefen, die zur Kolonie führten.

Nein!

»Sie werden sterben«, raunte Loukas. »Jeder Einzelne dieser verderbten Halbblute, die du anscheinend so liebst. Und alles wegen deiner Taktlosigkeit.«

Nein, nein, nein!

Callia strampelte und zappelte, konnte sich jedoch nicht aus Loukas’ eiserner Umklammerung befreien. Am anderen Ende der Lichtung erschien Atalanta in ebenjenem blutroten Gewand, in dem Callia sie kürzlich gesehen hatte. Sie zog Max an einem Seil mit sich. Als sie die Baumgrenze erreichte, blieb die Halbgöttin stehen, blickte zu ihnen und lächelte.

Callias Schrei erstickte in Loukas’ Hand.

»Hast du allen Ernstes gedacht, sie hält sich an Abmachungen?«, flüsterte Loukas. »Sie hat dich für mich nach draußen gelockt. Die Prinzessin, die Argonauten, dein Liebhaber und dieser Schandfleck, den du deinen Sohn nennst, werden sämtlichst ausgelöscht. Aber nicht du, nein, du wirst leben, bei mir, wo du hingehörst. Und vertrau mir, Syzygos, diesmal wirst du dich an alles erinnern.«

Zander erstarrte mitten im Laufen auf dem überfrorenen Weg. Ein brennender Schmerz fuhr ihm in die Brust, der alle anderen Sinne ausschaltete. Therons und Cereks Unterhaltung mit Nick wurde gedämpft, und er sah Phineus und Titus rechts und links von sich nur noch unscharf. Die frostige Luft drang ihm gleichsam in den Schädel, bis ihm eine wachsende Panik sagte, dass sie in die falsche Richtung liefen.

Nick war mit dem Hubschrauber vier Meilen von hier auf einem Feld gelandet, und von dort aus waren sie zu Fuß weiter, um keine Dämonen aufzuschrecken, die sich in der Gegend nahe ihrem Zielort herumtrieben. Doch nun war er sicher, dass etwaige Dämonen, die hier lauerten, ihre geringste Sorge wären.

»Was ist, Zander?«

Theron war stehen geblieben und musterte ihn mit diesem Blick, für den ihr Anführer berühmt war. Nick und Cerek hielten ebenfalls inne.

»Ich …« Seine Brust war so eng, dass ihm das Reden schwerfiel. Dieses Gefühl war anders als die übliche Wut, tiefer und persönlicher, vor allem aber beharrlicher. Und es sagte ihm … was? Er drehte sich einmal um die eigene Achse, konnte aber niemanden im Wald entdecken. »Etwas stimmt nicht.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Nick mit einem genervten Gesichtsausdruck.

»Ich fühle es«, konterte Zander, während er sich weiter umblickte. »Sie sind nicht hier.«

Schmerz schoss seinen Arm hinauf und in seinen Hals, als hätte man ihn in den Würgegriff genommen und fest zugedrückt. Und in seinem Kopf hörte er Callia, die ihn rief.

»Callia ist verwundet«, flüsterte er. »Es gibt Probleme in der Kolonie!«, ergänzte er dann lauter und in eindringlichem Ton.

Zander legte die Hände zusammen. Sowie seine kleinen Finger sich an den Spitzen berührten, leuchteten die Zeichnungen auf seinen Unterarmen und Händen grellweiß auf, dann öffnete sich zischelnd ein Portal vor ihm.

»Oh, verdammt«, murmelte jemand. »Er macht ein Portal auf. Jetzt wissen die Dämonen auf jeden Fall, wo wir sind.«

Theron machte einen Schritt auf ihn zu. »Zander, warte!«

Er wartete nicht, denn das Einzige, was zählte, war, dass Callia ihn brauchte.

Isadora schrak aus dem Schlaf und stützte sich in dem Moment auf die Hände auf, in dem ein Brüllen das Wohnzimmer in der Hütte erzittern ließ.

Schläfrig benommen, richtete sich Casey neben ihr auf. »Was ist denn?«

»Ich weiß nicht.« Isadora rannte ans Fenster und zog die Vorhänge zurück. Was sie sah, entlockte ihr einen Aufschrei.

»Was?« Casey kam zu ihr gelaufen. Als sie neben ihr am Fenster war und die Dämonen unten erblickte, die ein Blutbad in der Kolonie anrichteten, hielt sie sich eine Hand vor den Mund. »Oh, mein Gott!«

»Wir müssen hier raus.« Isadora sah sich überall im Zimmer nach einer Waffe um. Wo zur Hölle war Gryphon?

Ihr Blick fiel auf die Couch, auf der sie und Casey eingeschlafen waren, auf den Tisch mit dem Siegel, das nun nichts als ein kaltes Stück Metall war, dann auf die Couch, auf der Callia sein müsste. »Verflucht, sie ist weg.«

»Wo kann sie hin sein?«, fragte Casey panisch.

»Ich weiß nicht.«

Die Tür flog auf. Instinktiv stellte Isadora sich vor Casey. Gryphon und – heilige Götter – Demetrius in seiner ganzen bösen Pracht, kamen hereingerannt. Wann war Demetrius hergekommen? Hatte Gryphon ihn gerufen?

»Prinzessin«, sagte Gryphon streng, »wir müssen Euch nach Argolea zurückbringen. Sofort.«

Diesmal widersprach Isadora nicht, denn sie wollte dringend hier weg. Nur konnte sie nicht. »Callia ist verschwunden. Wir dürfen nicht ohne sie gehen.«

Gryphon und Demetrius wechselten kurze Blicke, und als Gryphon gerade etwas entgegnen wollte, polterten schwere Schritte den Korridor hinunter auf sie zu.

»Zurück!«, brüllte Demetrius, der noch im Umdrehen sein Parazonium zog.

Isadoras Herz klopfte ihr im Hals. Sie drängte Casey an die Wand zurück und hielt sie fest, während ihr Puls raste. Eine Gestalt erschien vor der Tür, und ein Augenpaar leuchtete grün auf, als Demetrius sich zum Angriff bereitmachte. Über die breiten Schultern des Wächters hinweg konnte Isadora den anderen erkennen.

Sie stürzte sich zwischen den Argonauten und den Türrahmen. »Nein!«

»Beim Hades, Prinzessin, weg da!«

»Nein, Demetrius, nicht! Es ist Orpheus.«

Hinter ihr kicherte Orpheus. »Und ich dachte, du magst mich nicht, Isa.«

Sie beachtete ihn nicht und sah zu Gryphon, der gleichfalls seinen Dolch gezogen hatte und sie mit einem Was soll das?-Blick betrachtete.

»Woher weißt du …?«

»Onkel Lucian ist hier«, fiel Orpheus seinem Bruder ins Wort. »Er bat mich um Hilfe. Anscheinend spielt Loukas für das falsche Team.«

Oh, Götter, Callia!

Demetrius ging auf Casey zu. »Wir bringen euch beide nach Argolea.«

»Was ist mit Theron?«, fragte Casey.

»Dem geht’s gut«, antwortete Demetrius, griff nach Caseys Jacke auf der Couch und schleuderte sie ihr zu.

»Aber Callia!«, protestierte Casey, als er sie zur Tür schob.

Von draußen hallten Brüllen und die Schreie der Misos zu ihnen hinauf. »Die Misos«, flüsterte Casey.

»Wir kommen zurück und holen die Heilerin und die anderen, sowie wir Euch nach Hause gebracht haben«, sagte Gryphon rasch.

Orpheus trat beiseite, um sie vorbeizulassen. Als Demetrius Isadora aus dem Zimmer bugsieren wollte, fiel ihr das Siegel ein.

»Warte.« Sie drehte sich um und wollte an Demetrius vorbei, nur leider war er wie eine Stahlwand, die ihr den Weg versperrte. »Die Scheibe!«

»Ich hole sie«, bot Orpheus an.

Orpheus? Oh, heilige Hölle, nein! Er durfte das Krónossiegel auf keinen Fall in die Finger bekommen. In ihrer Not warf sie sich gegen Demetrius. »Aus dem Weg!«

»Ihr seid wahrlich eine königliche Plage«, knurrte er. »Ich sagte, wir gehen, Prinzessin, und das meinte ich auch.« Blitzschnell hatte er Isadora gepackt und sie sich über die Schulter geworfen.

»Demetrius, ich befehle dir, mich herunterzulassen!«

Seine Antwort beschränkte sich auf ein tiefes, bedrohliches Brummen, welches sie daran erinnerte, dass die Dämonen nicht das einzige Böse war, vor dem sie sich fürchten sollte.

Nein!

Callia starrte Atalanta an, deren Blick auf ihren Unterschlupf fixiert war. Die pechschwarzen Augen der Halbgöttin waren genauso seelenlos, wie Callia sie erinnerte; allerdings war sie größer, als Callia gedacht hätte, mindestens zwei Meter zehn und stärker als jedes andere Wesen auf diesem Planeten.

Atalanta zurrte an dem Seil, mit dem sie Max die Hände gefesselt hatte, dann ruckte sie fester, so dass der Junge das Gleichgewicht verlor und stolperte, sich aber abfangen konnte.

Callias Angst wich purem Mutterinstinkt. Sie holte einmal tief Luft und dirigierte ihren Schmerz den Arm hinauf und in ihren Hals, wo Loukas so hielt. Derweil sah sie Max in die Augen.

»Komm mit, Callie«, raunte Loukas ihr zu. »Zeit für unsere kleine Zusammenkunft.«

Loukas’ Umklammerung machte das Gehen im Schnee schwierig. Aus der Kolonie waren Soldaten herbeigelaufen, um den Angriff abzuwehren, und Loukas führte Callia an den Kämpfenden vorbei eine Böschung hinauf zum Rand einer Klippe.

Atalanta erwartete sie dort bereits mit Max. Callias Blick suchte gleich wieder den ihres Sohnes. Max’ silberne Augen waren weit aufgerissen, sein blondes Haar zerzaust, und seine Haut sowie die Kleidung waren voller Schmutz. Die Hände waren ihm vorn zusammengebunden. Wenigstens hatte er keine sichtbaren Schnitte oder Wunden, nichts, was auf Verletzungen hinwies. Dennoch bohrte sich bei seinem Anblick ein Messer tief in Callias Brust, sah er doch zu sehr wie Zander an jenem ersten Tag vor elf Jahren aus, an dem sie ihm in der Burg begegnet war.

Angestrengt durch die Nase atmend, bemühte sich Callia um Fassung. Schweiß lief ihr unter dem Pulli, und Loukas hinter ihr schnaubte schwer, wirkte aber leider kein bisschen geschwächt. Vielmehr war sein harter Leib in ihrem Rücken ein deutliches Signal, wer hier das Sagen hatte.

»Hallo, Eirene«, sagte Atalanta in einem Ton, der Callias Aufmerksamkeit auf sie lenkte. »Wir haben dich schon erwartet, nicht wahr, Maximus?«

Callia blickte von Atalanta zu Max, der sie nach wie vor mit riesigen Augen ansah. Wusste er, wer sie war? Hatte er eine Ahnung, dass er ihr Sohn war, nicht Atalantas?

»Genug der Nettigkeiten«, blaffte Loukas. »Kommen wir zur Sache.«

»Ein Mann der Tat«, sagte Atalanta. »Das gefällt mir. Ich nehme an, du hast das Siegel bei dir?«

Loukas stellte die Beine weiter auseinander. »Wenn der Junge tot ist, kriegst du es. Vorher nicht.«

Vor Entsetzen schrie Callia, doch da Loukas ihr immer noch den Mund zuhielt, war lediglich ein schrilles Quieken zu hören.

Loukas umklammerte sie noch fester, bis sie vor Schmerz verstummte. Sosehr sie auch an seinen Armen zerrte und drückte, er war einfach zu stark.

»Das Krónossiegel ist ein recht wertvoller Schatz, Loukas«, säuselte Atalanta, »und mir kommt gerade der Gedanke, dass ich dich bisher nicht gefragt habe, wie du es gefunden hast.«

»Wie ich es fand, ist unwichtig.«

»Nein, das denke ich nicht.«

Loukas verspannte sich fühlbar. »Mein Cousin hat es gefunden. Jetzt zu dem Jungen …«

Ein bösartiges Grinsen huschte über Atalantas makelloses Gesicht. Von unten am Hügel wehten die Geräusche der Schlacht zu ihnen hinauf, die Atalanta gar nicht wahrzunehmen schien. »Soll ich dir eine Geschichte erzählen, Loukas?«

»Ich …«

»Nun, es ist eine wirklich schöne«, sagte sie lächelnd. »Eine, von der ich sicher bin, dass sie dir gefällt. Es ist nicht lange her, da entdeckte ein Ándras aus deiner Welt zufällig das Krónossiegel in den Aegis-Bergen. Da er jemand war, der, wie soll ich sagen, stets gut für sich selbst sorgte, entschied er, sich zu erkundigen, wie viel er für das Siegel bekommen könnte. Er stellte Persephone eine Rätselaufgabe, und sie, kaum dass sie begriff, was er dort hatte, schaffte es, ihm das Siegel zu stehlen.«

Der Schweiß, den Callia nun in ihrem Nacken fühlte, war nicht ihrer, sondern Loukas’. Er sickerte durch dessen Kleidung bis in ihre. Auch sein Herz hämmerte deutlich schneller, und seine Angst übertrug sich auf sie, als wäre es ihre eigene.

»Den Göttern ist niemals zu trauen«, fuhr Atalanta fort. »Bedenke das, Loukas. Also, Persephone brachte das Siegel zu ihrem Gemahl, Hades, der, wie du gewiss schon errätst, überaus beglückt über ihren kleinen Fund war. Eine ganze Weile behielt er ihn immerfort bei sich. Und so gelangte ich an das Siegel.«

Loukas’ Puls schnellte in die Höhe, und seine Handflächen wurden feucht.

»Es erstaunt mich immer wieder, wie blind Männer sein können, sogar Götter. Vögelt man sie lange genug, vergessen sie alles andere, auch was sie mit etwas so Kostbarem wie dem Schlüssel zur Welt gemacht haben.«

Loukas schluckte geräuschvoll. Seine Muskeln verkrampften sich. Gleichzeitig bemerkte Callia aus dem Augenwinkel eine Bewegung im Gebüsch, sah genauer hin und erkannte … nein, unmöglich. Ihr Vater?

Simon bedeutete ihr stumm, still zu sein.

Unterdes verhärtete sich Atalantas Blick, während sie Loukas ansah. »Hast du gedacht, du könntest mich überlisten? Du hast das Siegel nicht, hattest es nie.«

»Doch, habe ich.«

Callias Augen wanderten zu der Seite, an der Orpheus soeben erschienen war; er hielt das Krónossiegel an der langen Kette.

Heiliger Hades! Wo kam er jetzt her? War es möglich, dass er sich hier so teleportierte, wie sie es nur in Argolea konnten? Das ergab überhaupt keinen Sinn.

»Lass den Knaben und die Frau gehen, Atalanta«, verkündete Orpheus. »Oder ich verspreche dir, dass du dieses Kleinod nie wiedersiehst.«

»Callia!«

Der Schrei vom Fuße des Hügels lenkte sie alle ab. Callia drehte sich zum Abhang um, den Zander hinaufgeprescht kam, wobei er mit seiner Klinge zu beiden Seiten hieb und einen Dämon nach dem anderen niederstreckte. Eine Dämonenhorde auf halber Höhe begriff, wo er hinwollte, und stürzte sich geschlossen auf ihn.

Dann passierte alles so schnell, dass Callia dem Geschehen kaum folgen konnte. Loukas gab sie frei und rannte auf die Bäume zu. Doch ehe er dort war, hatte Atalanta einen Arm ausgestreckt und einen Energieschwall nach ihm geschleudert, der ihn schreiend durch die Luft fliegen, auf dem Boden abprallen und schließlich unkontrolliert zuckend im vereisten Schnee landen ließ. Kurz darauf fiel er in eine tödliche Regungslosigkeit.

Ihr Vater stürmte aus dem Gebüsch, sein Schwert hoch erhoben. Atalanta schwang eine Hand und katapultierte Simon mühelos den Hügel hinab, als wäre er eine Puppe. Dann zielte sie an Callia vorbei auf die Stelle, an der Orpheus mit dem Siegel stand.

»Willst du das?«, brüllte Orpheus.

Atalantas Augen weiteten sich. Orpheus drehte das Siegel an der Kette und warf es in den Schnee zwischen ihnen. Wieder schleuderte Atalanta einen Energieball, aber Orpheus verschwand in einer Rauchwolke und tauchte direkt hinter ihr wieder auf, wo sie ihn nicht sehen konnte.

Die Halbgöttin kreischte vor Wut, denn nun war auch das Siegel fort. In ihrem Zorn wandte sie sich Callia zu; ihre Augen glühten im selben Rot wie ihr Gewand. »Du!«

»Nein!«, schrie Max.

Callias Herz raste. Sie machte einen Schritt rückwärts und wappnete sich. Orpheus bedeutete ihr mit seinem Blick, dass sie die Halbgöttin ablenken sollte, und bückte sich, um Max’ Fesseln zu lösen.

Oh Götter! Max könnte entkommen. Sie musste nur Atalantas Aufmerksamkeit auf sich lenken.

»Du wirst für das bezahlen, was die Dämonenbrut getan hat.« Atalanta hob beide Arme und warf die Hände nach vorn. Aber nichts geschah. Keine Hitze flirrte aus ihren Fingern, keine Energie peitschte aus ihren Handflächen. Entgeistert blickte die Halbgöttin auf ihre Hände.

Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Leib, und sie wurde zu Boden geworfen, ähnlich wie Loukas zuvor. Jaulend vor Pein, wand sie sich im Schnee.

Sie rollte sich zur Seite und blickte zu Max auf, der beide Hände zu ihr ausgestreckt hatte, als hätte er soeben ihre eigene Energie auf sie zurückgeworfen.

»Du rührst sie nicht an«, sagte Max.

Atalantas Augen sprühten förmlich Funken vor Wut, als sie zuerst Max, dann Orpheus und schließlich Callia ansah. Dann löste sie sich schlicht in Luft auf.

»So ist’s gut«, sagte Orpheus zu dem leeren Flecken, auf dem Atalanta gelegen hatte. »Schwanzeinziehen und Weglaufen passt zu einer solch niederen Kreatur wie dir.«

Max sah seine Hände an, als könnte er nicht glauben, was er getan hatte.

»Alter«, wandte Orpheus sich zu ihm, »du kannst ja übertragen.« Ein triumphierendes Lächeln erstrahlte auf seinem Gesicht. »Das ist ja wohl total abgedreht!«

»Callia!«

Knurren und Rufen drang den Hügel hinauf, gepaart mit dem blechernen Klopfen von Metall auf Haut und Knochen. Callia sah den Abhang hinunter zu dem blutigen, schmutzigen Zander und ihrem nicht minder besudelten Vater, die es mit ungefähr zehn Dämonen aufnahmen.

Oh, nein, dies hier war noch lange nicht vorbei.

»Orpheus!«, schrie Callia.

»Bin schon dabei«, brüllte er und schob etwas in seine Tasche, bevor er seine Klinge zückte. »Ist eine Weile her, seit ich ein paar Dämonenärsche vertrimmt habe.«

Wieder einmal verpuffte er ins Nichts, während Callia sah, wie ihr Vater zu Boden ging.

»Nein!«

Orpheus materialisierte sich hinter einem über zwei Meter großen Monster. Er holte mit seiner Klinge aus und trennte der Bestie den Kopf vom Rumpf, ehe die Simon ihre Klauen in die Brust schlagen konnte.

»Dad!« Callia drehte sich zu Max um.

»Geh«, sagte Max. »Geh schon!«

Die Heilerin in ihr übernahm, und sie rannte los, ohne nachzudenken, bis sie ihren Vater erreichte und schlitternd stehen blieb. Eine Wunde klaffte in seinem Brustkorb. Sein Gesicht und seine Kleidung waren voller Blut und Schmutz, und sein Atem rasselte. Gleich darauf blubberte Luft aus der Wunde, um die sich neues Blut sammelte.

Seine Lunge war punktiert, was hieß, dass wenig Zeit blieb, und Callia konnte solch eine Verletzung nicht hier versorgen. Sie musste ihn schnellstens in ihre Klinik bringen.

Mit Tränen in den Augen beugte sie sich vor, drückte beide Hände auf die Wunde und sah sich suchend um. »Zander!«

Zanders Klinge schmetterte gegen das Schwert eines Dämons und hielt es, während er sich halb zu ihr drehte und erschrak.

Ihm war deutlich anzusehen, dass ein Adrenalinschub durch seinen Körper ging. Er befreite seine Klinge vom Schwert des Dämons und rammte das Parazonium tief in die Dämonenbrust. Die Bestie heulte auf, brüllte und sank auf die Knie, woraufhin Zander seine Klinge herauszog und das Untier mit einem kräftigen Schwung enthauptete.

Callia sah zu Simon hinab. »Patéras!«

»Ich …«

Sie spürte, wie jemand neben ihr auf den Boden sackte. Dann legten sich kleine Hände über ihre auf der Wunde. Durch einen Tränenschleier erkannte sie, dass Max an ihrer Seite kniete.

»Ich helfe dir.«

»Du kannst doch nicht …«

»Doch, kann ich«, sagte er in einer Stimme, die lieblicher klang als jede noch so schöne Melodie. »Wenn du mir hilfst.«

Callia war so überwältigt, dass sie nicht sprechen konnte. Deshalb bejahte sie stumm und konzentrierte sich wieder auf ihre Heilkräfte.

Wärme sammelte sich unter ihren Händen, die wiederum von Max’ gewärmt wurden. Sie fühlte, dass er ihr tatsächlich half und sie zusammen stärker waren als sie allein. Dann jedoch unterbrach ihr Vater sie, indem er seine Hand über ihre legte.

»Nein!«, hauchte er.

Callia sah ihm ins Gesicht. »Dad …«

»Nein, Agkelos. Lass mich gehen.«

Durch ihren Tränenschleier konnte sie ohnehin kaum noch etwas sehen, und dass ihr Vater sie mit dem alten Wort für Engel anredete, machte es um nichts besser. So hatte er sie als Kind genannt, bevor die Geschehnisse ihr Verhältnis auf immer trübten. »Patéras!«

»Meine Zeit hier ist um, Callia«, sagte er so leise, dass sie Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Deine Mutter hatte recht. Ich will es … ihr sagen. Ich bin … bereit.«

Schmerz fuhr ihr durchs Herz und geradewegs in die Seele.

Ihr Vater sah zu Max. »Es tut mir leid«, hauchte er. »Alles, was ich getan habe. Gib acht auf sie. Liebe sie … so wie ich sie hätte lieben sollen.«

Dann schlossen sich flatternd seine Lider.

Starke Arme umfingen sie von hinten, in dem Moment, in dem sie die Tränen nicht mehr eindämmen konnte.

»Dad!«

Er hörte sie nicht mehr, denn er war schon fort.

Die Arme zogen sie nach oben und drehten sie, und dann fühlte sie Zanders starke Brust an ihrer Wange. »Thea.«

Sie ballte ihre blutigen Hände an Zanders Hemd, verfluchte jeden Gott, der ihr einfiel. Er war ihr Vater gewesen, hatte sie geliebt, auch wenn sie diese Liebe manchmal nicht verstanden hatte. Und heute war er hergekommen, um ihr zu helfen: ihr zu helfen, ihren Sohn zu retten.

Ihren Sohn.

Schniefend entwand sie sich Zanders Umklammerung und sah in sein wunderbar vertrautes, zerschundenes und schmutziges Gesicht auf. »Max«, flüsterte sie. »Er heißt Maximus.«

Während die übrigen Argonauten gegen die verbliebenen Dämonen kämpften, sahen sie beide zu ihrem Sohn, der immer noch neben ihnen kniete.

Jedem Tod wohnte neues Leben inne. Sie dachte an die Entscheidung, die ihr Vater an dem Tag traf, als ihr Sohn geboren wurde. So schmutzig, blutbesudelt und von Tod umgeben sie hier und jetzt auch sein mochte, hatte sie doch zehn Jahre lang von diesem Moment geträumt.

»Weißt du, wer wir sind?«, fragte sie leise.

Max’ Blick wanderte zwischen ihr und Zander hin und her, ehe er bei ihr verharrte. Zaghaft antwortete er: »Die alte Frau in Weiß hat es mir gezeigt. Ich …« Wieder huschten seine Augen von Callia zu Zander und wieder zu Callia. »Ich dachte nicht, dass es euch wirklich gibt.«

Die Gefühle, die nun auf Callia einstürmten, brachen den Damm, den sie um ihr Herz errichtet hatte. »Ja, uns gibt es! Und wir haben nach dir gesucht.«

»Habt ihr?«, fragte Max verwundert, aber unendlich hoffnungsvoll.

Sie nickte, weil sie nicht sprechen konnte, und strahlte, strahlte ein Lächeln, das sie ausnahmsweise nicht erzwingen musste.

»Ja«, sagte Zander, dessen Stimme belegt klang. »Haben wir.«