Zwölftes Kapitel

Callia drückte fest gegen Zanders Schultern, doch es war, als wollte sie ein Gebäude verschieben. »Ich bin nicht geschützt. Die letzten zehn Jahre habe ich eine Reinigung durchgemacht.«

Er wurde sehr still, und sie begann zu frösteln. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie sicher war, er könnte es hören. Stumm blickte er ihr in die Augen, und sie wünschte, er würde irgendwas sagen, die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass sie seit ihm mit niemandem mehr zusammen gewesen war oder dass er der Grund war, weshalb sie diese Reinigung vornehmen musste. Aber es kam weder noch. Er betrachtete sie kalt und prüfend, als würde er ihr nicht glauben.

Eine halbe Ewigkeit verging in beklemmender Stille, und auf einmal fühlte sich das Wasser kalt und schmutzig an.

Schließlich zuckte er mit der Schulter. Callias Herzschlag wurde schneller, sowie Zander den Kopf wieder neigte und an ihrem Ohrläppchen knabberte. Nun tat er es so fest, dass es schmerzte. »Ich will dich immer noch.« Er umfing ihre Hüften und zog sie näher, um sich aufs Neue an ihr zu reiben. »Falls du schwanger wirst, kannst du es genauso loswerden wie beim letzten Mal.«

Sie war entsetzt. »Was sagst du?«

»Du hast mich verstanden, und uns beiden ist klar, dass gerade du weißt, wie es geht.« Seine Stimme war hart, doch unbeirrt führte er seinen Schwanz zu ihrer Öffnung. »Kein Gerede mehr, Callia. Vögeln wir, wie wir beide es wollen.«

Callia konnte kaum klar denken, aber da seine Hand unter Wasser war, zögerte sie nicht. Sie hob ihr Bein, stützte ihren nackten Fuß gegen seinen steinharten Bauch und drückte so fest sie konnte. »Du Dreckskerl! Wie kannst du es wagen?«

Zander stolperte rückwärts und sah sie entgeistert, sogar ein bisschen verärgert an. »Was denn?«

Zitternd zurrte sie ihr Bustier wieder nach oben und steckte die Arme durch die Träger, bevor sie aus dem Wasser stieg. Nur hatte ihr Zittern nichts mit Erregung zu tun. Sie bebte vor Abscheu. Und vor einer maßlosen Wut, wie Callia sie sich noch niemals zuvor erlaubt hatte. Nicht einmal, nachdem er sie verließ.

»Verfluchter Mist«, murmelte er im Wasser hinter ihr, während sie nach ihrem Slip suchte. »Ausgerechnet jetzt wirst du zickig? Hätte das nicht noch zehn Minuten Zeit gehabt?«

»Fahr zur Hölle!« Ein rötlicher Nebel lag über allem, aber wenigstens entdeckte sie endlich ihren Slip ein Stück weiter auf dem Felsboden. Sie ging hin, streifte sich das Höschen über und lief wieder zu der Bettrolle, die Titus für Zander hingelegt hatte, ehe er ging. Dort stieg sie wieder in ihre Hose.

Sie hätte ihn sterben lassen sollen. Niemals hätte sie sich von Titus überreden lassen dürfen, hierherzukommen.

Er war aus dem Wasser und hinter ihr, ehe sie etwas bemerkte. Eine starke Hand packte ihren Oberarm und zog sie herum. »Du selbstsüchtiges kleines Miststück. Jetzt komm mir ja nicht so überheblich!«

»Nimm deine Finger von mir.« Sie versuchte, ihn mit beiden Händen von sich zu stoßen, was ihr leider nicht gelang. Der Mann war wie eine Granitstatue. »Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen?«

»Was? Die Wahrheit?«, konterte er höhnisch und gab kopfschüttelnd ihren Arm frei, als hätte er sich an ihr verbrannt. Ekel spiegelte sich auf seinen gemeißelten Zügen. »Ich hätte auch deutlicher werden und dir sagen können, was du wirklich bist, aber das habe ich nicht.«

»Weil du mich ficken wolltest«, schleuderte sie ihm entgegen. »Nicht, weil dir etwas an mir liegt.«

»Das tut es schon lange nicht mehr, und dafür hast du gesorgt.« Er musterte sie mit einer unverschämten Selbstverständlichkeit. Was gab ihm das Recht? Sie gehörte ihm schließlich nicht. Und sie würde sich gern verhüllen. »Aber wenn ich es recht bedenke, bist du die letzte Frau, die ich vögeln will. Ich weiß nicht, was in mich gefahren war.«

Die Verachtung in seinem Blick war schrecklich und weckte in ihr das Gefühl, sie hätte etwas falsch gemacht. »Und was bin ich?«, fragte sie trotzig.

Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Eine Mörderin.«

Vor Schreck stand ihr der Mund offen und sie hauchte: »Wie nennst du mich?«

»Ich bat dich nur um eines«, knurrte er, als hätte er sie nicht gehört. »Um eine einzige Sache, nämlich ein paar Tage zu warten, damit ich alles mit Theron klären konnte. Aber nicht einmal das konntest du für mich tun, nicht wahr? Du bist zu deinem Vater gelaufen und hast getan, was er wollte, bist mein Kind losgeworden, als wäre es nichts.«

Etwas in ihrem Verstand sträubte sich gegen seine Worte. Hilflos blickte sie sich in der dunklen Höhle um und versuchte, das, was er sagte, mit den Geschehnissen vor fast elf Jahren zusammenzubringen. »Willst du behaupten, du denkst, ich hätte … ich hätte abgetrieben?«

»Ich weiß, dass du es hast!«

Ihre Wut verebbte, denn zehn Jahre Verwirrung und Schmerz ergaben auf einmal einen Sinn. »Zander, ich habe nicht … konnte nicht …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nie …«

»Lüg mich nicht an«, fiel er ihr ins Wort. »Ich war in der Klinik der Menschenwelt.«

Zögerlich sah sie wieder zu ihm. Der Argonaut vor ihr war nicht mehr der erregte, verführerische Mann, mit dem sie eben in dem Quellbecken gewesen war. Ebenso wenig hatte er mit dem Verwundeten gemein, den sie vor einer Lähmung bewahrt hatte. Er war ein Krieger, bereit zum Angriff. Eine Gefahr. Er könnte sie mit bloßen Händen in Stücke reißen, wenn er wollte.

Sie schluckte, machte einen Schritt auf ihn zu und versuchte, seinen Zorn zu bändigen. Einst hatte er sie vor dieser Seite an ihm gewarnt, ihr erklärt, dass sie der Fluch der Achilles-Nachkommen war, gegen den er beständig ankämpfte. Aber sie hatte ihn noch nie so gesehen.

»Du warst dort?«, flüsterte sie.

»Oh ja, war ich.«

»Dann weißt du …«

»Ich sah die Krankenakte und sprach mit einer Schwester. Dein Vater und du, ihr wart schon weg, verstecktet euch irgendwo. Hast du gedacht, ich finde es nicht heraus? Ich hatte es vor mir, schwarz auf weiß. Dir fehlte es sogar an dem nötigen Anstand, es mir zu erzählen. Stattdessen bist du bei Nacht und Nebel verschwunden.«

»Zander.« Sie holte tief Luft und bemühte sich, ruhig zu bleiben, denn zumindest einer von ihnen sollte es. »Ich bin nicht weggelaufen. Nachdem du fortgingst, gab es Komplikationen. Ich bekam Blutungen und glaubte, dass ich eine Fehlgeburt habe. Zu einem argoleanischen Heiler konnte ich nicht, denn dann hätten sie von uns erfahren.«

»Lügnerin.«

»Ich lüge nicht. Ich hatte Angst. Mein Vater fand mich, und er brachte mich ins menschliche Reich, damit mir geholfen wurde. Ich habe das Baby nicht abgetrieben, Zander. Ich habe versucht, es zu retten.«

»Lügnerin!«

»Du musst mir glauben.« Ihre Panik wuchs mit jedem Schritt, den sie auf ihn zu machte. Eine solche Bedrohung, wie sie nun in seinen Augen funkelte, hätte Callia bei keinem für möglich gehalten, vor allem nicht bei ihm. »Ich hätte unserem Kind nichts antun können. Ich habe unser Baby geliebt. Als er geboren wurde … Du hast keine Ahnung, was ich für ihn durchgemacht habe.«

»Lügnerin!«, schrie er wieder. »Ich habe genug von deinen Lügen.«

»Ich würde dich in dieser Sache nicht belügen.«

Er packte ihre Arme und drückte fest zu. »Das reicht.«

Ihr Leben lang war sie eine Heilerin. Schon als Kind hatte sie gemerkt, dass sie anders war. Viele Argoleaner besaßen Gaben, die ihnen selbst zugutekamen; von Callias profitierten andere. Aber als Zander sie packte und sie zwang, ihn mit aller Kraft von sich zu stemmen, konnte sie nur daran denken, dass sie sich gegen jemanden verteidigte, der sie offensichtlich mit jeder Faser seines Seins hasste.

Energie strömte in ihre Hände, die sie von einer unsichtbaren Kraft bezog, und ohne nachzudenken richtete Callia sie gegen die Gefahr vor ihr. Sie floss aus ihr heraus, und ihr Geist lenkte sie unbewusst.

Zanders Augen weiteten sich. Er äußerte kaum einen Laut, als er vor ihr zu Boden sank und ächzte, weil seine Lunge nicht mehr richtig zu arbeiten schien.

Ihre Hände vibrierten unter der rohen Kraft, die sie eben durchströmt hatte, und Callia stolperte zurück, entsetzt und angewidert von dem, was sie getan hatte. Überreste eines Zorns, wie Callia ihn noch nie empfunden hatte, wüteten in ihr, dass ihr übel und schwindlig wurde. Alles verschwamm vor ihren Augen, wurde dunkel, doch sie schüttelte den Kopf, um es abzuwehren. Zum ersten Mal hatte sie jemanden willentlich verletzt. Sie hatte gar nicht gewusst, dass sie dazu fähig war.

Ihr wurde seltsam, und sie bekam Atemnot. Sie wich zurück, bis sie gegen eine Felswand stieß.

»Callia!« Zander wollte sich zitternd aufstützen, konnte es aber nicht. Er sackte gleich wieder in sich zusammen.

Heilige Hera, was habe ich getan?

Blankes Entsetzen packte sie. Sie musste hier weg, raus, schnell. Hier kriegte sie keine Luft.

Panisch suchte sie nach ihrem Mantel, entdeckte ihn wenige Meter entfernt und holte ihn sich, zusammen mit den Stiefeln, die sie auf Geheiß von Titus angezogen hatte, ehe sie herkam.

»Callia«, keuchte Zander wieder. »Warte. Ich …«

Doch sie rannte bereits mit wehendem Mantel Richtung Höhlenausgang, denn sie brauchte dringend frische Luft.

Tränen stachen in ihren Augen, und sie erstickte fast an den Gefühlen, die sie so viele Jahre in sich vergraben hatte, aber sie lief weiter. Wegzukommen war das Einzige, woran sie denken konnte. Ihre Lunge brannte, ihre Beine schmerzten, was sie jedoch nicht aufhalten konnte.

Als es schließlich zu viel wurde, blieb sie stehen und rang nach Luft. Sobald sich ihr Herzschlag halbwegs normalisiert hatte, stellte sie fest, dass um sie herum alles still war. Sie war nach wie vor aufgeputscht, aber ihre Panik zum Glück weniger geworden. Langsam wurde sie sich ihrer Umgebung gewahr und schaute sich um.

Sie war in einem Wald. Wie weit es zur Höhle war, wusste sie nicht. Es war dunkel, allerdings drang hinreichend Mondlicht durch die Bäume, dass sie die überfrorenen Äste, den schneebedeckten Boden und das dichte Unterholz ausmachen konnte. Eisiger Wind schlug ihr ins Gesicht, und ein Schauer lief ihr über den Rücken, denn sie war verschwitzt vom Rennen, und nun kühlte der Schweiß auf ihrer Haut rapide ab. Sie zog den dicken Mantel fester zu und verfluchte sich für ihre Dummheit.

Irgendwo über ihr schrie eine Eule. Trocknes Laub und Zweige knackten rechts von ihr, und Callia drehte sich blitzschnell um. Ihr Herz begann erneut zu rasen, als ihr klarwurde, in welcher Lage sie sich befand.

Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Aus welcher Richtung sie gekommen war, konnte sie ebenso wenig sagen, denn es sah überall gleich aus.

Verdammt, verdammt, verdammt!

Furcht machte ihr die Brust eng. Der heulende Wind in den Bäumen bedeutete ihr auf unangenehme Weise, dass sie allein war. Wieder fröstelte sie und zurrte ihren Mantel weiter zu. Jedes Zweigknacken und Rascheln, jeder schwankende Schatten auf dem Waldboden ängstigten sie noch mehr.

Entspann dich. Denk nach. Du bildest dir bloß ein, dass es hier gefährlich ist.

Der rationale Teil ihres Gehirns übernahm, jene Seite in ihr, die sie schon unzählige Male gerettet hatte. Okay, lange konnte sie nicht hier im Freien herumstehen. Sie musste bis zum Morgen warten, wenn es hell wurde, damit sie sah, wohin sie gehen sollte. Titus hatte eine Schlucht und eine Brücke erwähnt. Falls sie die morgen fand, könnte sie den Weg suchen, der zur Halbblutsiedlung führte. In der Zwischenzeit brauchte sie Schutz vor der Kälte und möglichen Raubtieren.

Sie wollte sich ohrfeigen, weil sie sich von ihren Gefühlen hinreißen ließ und blindlings weggelaufen war. In der Höhle wäre sie sicherer gewesen, selbst wenn es bedeutete, dass sie bei Zander blieb. Er mochte ein Idiot sein, aber ihr Verhalten war noch idiotischer gewesen.

Nachdem sie einen Plan geschmiedet hatte, fühlte sie sich schon ein klein wenig besser. Blinzelnd sah sie in die Bäume und überlegte, wohin sie gehen sollte. Die Dunkelheit machte es unmöglich, mehr als graue Baumstämme zu erkennen, die einer wie der andere aussahen. Langsam drehte Callia sich um die eigene Achse, als ihr plötzlich etwas auffiel.

Links von ihr war etwas. Konnte das sein? War das …? Sie glaubte, etwas orange aufleuchten zu sehen, wie eine Flamme oder … ein Lagerfeuer.

Ein Lagerfeuer hier draußen?

Da war es wieder! Sie guckte noch angestrengter hin. Oder war das Licht aus einem Hüttenfenster?

Sogleich wurde ihr Adrenalinhaushalt wieder angekurbelt. Beides, ob Lagerfeuer oder beheizte Hütte, bedeutete, dass dort Menschen oder Halbblute waren, auf keinen Fall Dämonen, denn die brauchten weder Wärme noch sonstigen Komfort zum Überleben. Callia atmete erleichtert auf, weil sie offenbar doch nicht ganz allein war. Und im Gegensatz zu Dämonen konnten Menschen ihr keine Angst einjagen, egal was für welche. Zeus sei Dank.

Sie trat einen Schritt vor – vorsichtig, weil sie noch ein wenig zittrig war – auf das Licht zu, das hinter den Bäumen flackerte. Dabei sagte sie sich, dass die schreckliche letzte Stunde doch ein Gutes gehabt hatte: Mit Zander war sie für immer fertig. Er hatte ihr mehr als deutlich zu verstehen gegeben, wie er für sie empfand. Und mehr musste sie nicht wissen. Nichts auf dieser Welt könnte sie jemals wieder zu ihm zurücklocken.

Alles war still, als Max aus dem gigantischen Federbett stieg, das man ihm im Westflügel hergerichtet hatte, und lautlos auf dem Dielenboden landete.

Fast rechnete er damit, dass jemand mit einem Knüppel herbeigelaufen kam und ihn prügelte, doch nichts geschah. Dennoch war er auf der Hut, als er durchs Zimmer schlich und die schwere Tür aufzog. Ein Kälteschauer lief ihm über den Rücken, aber zum Glück knarrte das alte Holz nicht. Für einen Moment stellte er sich vor, dass ausnahmsweise mal irgendein namenloser Gott auf seiner Seite war, und verwarf den Gedanken gleich wieder. Keiner war je auf seiner Seite gewesen. Der Einzige, den kümmerte, was mit ihm passierte, war er selbst.

Nichts rührte sich, kein Geräusch war zu hören, als er um eine Korridorecke zur großen Treppe ging, die zu Atalanta führte. Sein Herz wummerte schnell, allerdings nicht vor Furcht, sondern vor Aufregung, weil sich sein Schicksal wenden sollte.

Oben angekommen, bewegte er sich wie ein Geist über die Holzdielen. Von der Galerie blickte man auf die breite Treppe und bis hinunter ins Erdgeschoss. Hinter zwei massiven Flügeltüren lagen Atalantas Privatzimmer, die das ganze Stockwerk einnahmen.

Sie schloss ihre Türen nie ab. Wieso sollte sie? Keiner wagte es, hier heraufzukommmen. Pochenden Herzens legte Max eine Hand an den Türknauf und drehte ihn vorsichtig.

Kein Quietschen, kein Ächzen, nicht einmal ein Luftzug regte sich, als er die Tür nach innen aufschob. Könnte er tatsächlich einmal Glück haben?

Rasch schlich er ins Schlafzimmer. Da sein Dachboden direkt über diesem Geschoss lag, kannte er den Grundriss der Etage besser als irgendjemand sonst. Während der letzten Wochen hatte er gelernt, alle Geräusche Atalantas aus dem Stockwerk unter ihm zuzuordnen – vom gedämpften Klang ihrer Stimme über das Wasserrauschen aus ihrem Bad bis hin zu den Wärmepunkten von ihren Lampen und der Heizungsanlage.

Er stand in der offenen Tür und blickte ins Zimmer, wobei er langsam durch die Nase atmete, damit Atalanta ihn nicht hörte. Als Göttin der Unterwelt hatte sie nie richtig geschlafen. Natürlich musste sie hin und wieder ausruhen, doch es war kein Vergleich zu ihrem Schlafbedürfnis jetzt. Seit sie in der Menschenwelt waren, schlief sie mehr und mehr, was seine Vermutung bestätigte, dass sie genau wie er war: Sterblich, auch wenn sie es schaffte, sich göttergleiche Kräfte zu bewahren.

Er beobachtete, wie sich ihre Brust hob und senkte, den Blick auf die Kette an ihrem Hals gerichtet. Erst als er überzeugt war, dass sie ihn nicht bemerkte, wagte er sich weiter ins Zimmer.

»Überlege gut, ehe du handelst, junger Maximus.«

Erschrocken blickte er zur Seite, wo die geisterhafte Frau still im Schatten neben ihm stand, und Panik regte sich in seiner Brust.

Es war dieselbe alte Frau, die ihm das Glasoval gegeben hatte. Er würde sie überall wiedererkennen. Heute Nacht schien sie wie ein Geist, unwirklich in ihren durchsichtigen Gewändern, die ebenso hell schienen wie ihre bleiche Haut. Aber ihr Gesicht war unverändert, die Haut faltig, das Haar schneeweiß und die Augen … so durchdringend wie bei seiner ersten Begegnung mit ihr.

»Ja«, sagte sie leise, »ich bin es. Und dies hier betrifft dich nicht.«

Er wusste, dass keiner außer ihm sie hören oder sehen konnte, trotzdem war die klare Stimme in dem stillen Zimmer befremdlich. Ängstlich sah er kurz zu Atalanta, deren göttergleiche Kräfte sie womöglich doch etwas wahrnehmen ließen, aber sie schlief.

Wieder wurde er aufgeregt. Es betraf ihn nicht? Nein, es betraf sie nicht. Sie und ihr nutzloses Glas.

Er achtete nicht mehr auf die alte Frau, sondern trat an Atalantas Bett. Der Anhänger lag auf ihrer Brust, oberhalb des Dekolletés. Ihr Kopf war zur Seite geneigt, ihr einer Arm lag nach oben angewinkelt an ihrem Gesicht, der andere auf ihrem Bauch. Je näher Max ihr kam, umso zuversichtlicher wurde er.

»Maximus …«

Er streckte eine Hand aus.

»Maximus, nicht!«

Seine Fingerspitzen berührten den Anhänger, der sich heiß anfühlte; Max hielt den Atem an, denn er hätte gedacht, dass sich das Metall kalt anfühlen würde. Atalanta regte sich, und er blickte zu ihrem Gesicht. Die Furcht, ertappt zu werden, wurde sehr real.

Eine Ewigkeit verstrich, während er zu schwitzen begann, doch er wagte nicht, sich zu rühren. Atalantas Lider flatterten, ohne sich zu öffnen. Mit einem leisen Stöhnen drehte sie den Kopf zur anderen Seite und atmete in regelmäßigen Zügen weiter.

Max hatte das Gefühl, sein Herz würde erst jetzt wieder weiterschlagen.

Er durfte keine Zeit vergeuden, also beugte er sich vor und betrachtete den Verschluss der Kette.

»Du weißt nicht, worauf du dich einlässt«, sagte die alte Frau, die wieder neben ihm war. Ihre Stimme zitterte, als wäre sie von Gefühlen überwältigt. Aber Max achtete nicht mehr auf sie. Stattdessen öffnete er den schweren Kettenverschluss, der ein sanftes Klicken von sich gab. Als Atalanta sich immer noch nicht rührte, zog er behutsam an dem einen Kettenende.

Abermals seufzte Atalanta, wandte wieder den Kopf, und die Kette war frei. Max hielt die Metallscheibe in der Hand.

»Maximus, dies ist nicht bloß ein Schmuckstück. Es hätte nie in Atalantas Hände gelangen dürfen, und du solltest es erst recht nicht haben.«

Von der flachen Scheibe strahlte Energie in seine Hand ab. Sie floss durch seine Finger, in seinen Arm und seine Brust hinab, bis jeder Muskel in seinem Leib davon vibrierte. Ein Gefühl von Macht durchströmte ihn, und ihm war, als wüchse er auf die dreifache Größe an, obwohl gar nichts passierte.

Cool.

Er musste lächeln. An der alten Frau vorbei, eilte er leise durch Atalantas Wohnzimmer zurück zur Tür.

»Maximus.« Die Alte war wieder neben ihm, als sei sie hinter ihm hergeschwebt. Er sah sie nicht an, denn sein Blick war vom Anhänger gebannt. Aus dem Augenwinkel jedoch bemerkte er, dass die Frau ihn nicht überragte. »Noch ist es nicht zu spät. Du kannst es zurücklegen, und keiner erfährt, was hier geschehen ist.«

»Warum hast du keine Angst, wenn sie den Anhänger hat?«, flüsterte er, ohne von den vier leeren Kammern in der Scheibe aufzusehen. In ihnen musste mal etwas gewesen sein. Jede der leeren Halterungen war ein wenig anders geformt, eine rund, eine oval, eine rautenförmig und die vierte dreieckig.

»Weil sie seine Kräfte nicht beherrscht.«

»Aber ich?«

Die alte Frau antwortete nicht, doch ihr Schweigen sagte genug. Ja, das war es, wovor Atalanta Angst hatte. Und er war klug gewesen, herzukommen und ihr den Anhänger wegzunehmen. Mit einem strahlenden Lächeln schloss er die Finger um die Metallscheibe.

»Maximus.«

»Was?«, fragte er, und nun sah er zu ihr. Pure Angst spiegelte sich in ihren Augen. War das nicht interessant? Sie war ein uraltes, göttliches Wesen, und sie hatte Angst vor ihm, einem zehnjährigen Jungen, den keiner wollte?

»In den falschen Händen«, sagte sie mit gesenkter Stimme, »bedeutet es Tod und Zerstörung.«

Er strahlte. »Spitze.«

»Maximus.«

So leise er konnte, rannte er die Treppe hinunter und in sein Zimmer, wo er sich den Pyjama herunterriss und hastig Kleidung und Stiefel anzog. Beim Anblick des Federbetts empfand er einen winzigen Hauch von Bedauern, doch der verflog rasch. Sobald die hohle Metallscheibe sicher in seinem Hemd verborgen war und ihre Energie auf seine Haut abstrahlte, schnappte er sich seine Jacke.

Die alte Frau stand in seiner Zimmertür, doch diesmal waren ihre Augen nicht ängstlich, sondern traurig. »Sie wird dich jagen.«

»Das ist besser, als hierzubleiben. Wir sind vielleicht nicht mehr in Tartarus, aber es ist immer noch die Hölle. Und das weißt du.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du bist deinem Vater so ähnlich.«

Ein Kribbeln fuhr ihm über den Rücken. »Ein Arschloch?«

Erstaunt zog sie die Brauen hoch und schien beinahe amüsiert. Aber nach allem, was ihm widerfahren war, kümmerte es ihn gewiss nicht, dass er eine gespenstische alte Frau mit Kraftausdrücken schockierte.

»Ich meinte …«

Oh nein, darauf ließ er sich nicht ein! »Spar dir das. Wir beide wissen, dass ich keinen Vater habe.«

»Doch, hast du«, seufzte sie. »Und was immer du denken magst, es besteht noch Hoffnung.«

Der Hass auf Atalanta wegen ihrer Marter, auf die alte Frau wegen ihrer Einmischungen, auf die Eltern, die ihn in diesem Höllenloch verrotten ließen, sammelte sich in seiner Brust, direkt dort, wo der Anhänger war. Immerzu bemühte Max sich, diesen Zorn in sich zu bändigen, der nun drohte, unkontrollierbar zu werden. »So was wie Hoffnung gibt es gar nicht. Es gibt nur das hier.« Er umfasste den Anhänger durch sein Hemd. »Und jetzt gehört es mir.«

Er ging an ihr vorbei auf den Korridor, als würde ihn der Anhänger führen, ihm eine Kraft und einen Mut geben, wie er sie niemals besessen hatte. Und war das nicht noch cooler?

»Vergiss deine Menschlichkeit nicht, Maximus«, rief die Alte ihm nach.

Fast hätte er gelacht, als er im Erdgeschoss ankam und zum verborgenen Ausgang eilte, den er immer benutzte, wenn er nicht von den Bediensteten gesehen werden wollte. Seine Menschlichkeit hatte ihm bisher einen feuchten Dreck genützt, und sie würde ihn jetzt garantiert nicht retten. Er brauchte sie nicht, brauchte überhaupt nichts und niemanden.

Nur sich selbst.

Thanatos stand in der Mitte der heruntergekommenen Hütte und funkelte die beiden Dämonenkrieger vor sich wütend an – Dick und Doof. »Erklärt mir, wie euch der Argonaut entwischen konnte!«

Die Dämonen sahen einander an.

»Wir …« Der Linke blickte wieder zu Thanatos. »Als der Zweite kam, um dem anderen zu helfen, sind wir weg. Wir mussten doch zurückkommen und dir Bericht erstatten, wegen der anderen, die draufgegangen sind.«

Thanatos biss die Zähne zusammen. Das war der Grund, weshalb die Argonauten noch lebten: Weil Atalanta ihre Armee mit hirnlosen Feiglingen bestückte. Es gab einen Grund, warum diese Vollidioten auf dem Asphodeliengrund waren, um das Urteil von Tartarus zu erwarten, als Atalanta sie fand. Die waren zu blöd zum Leben.

Und sie gab ihm die Schuld, dass die Argonauten sie am laufenden Meter austricksten?

Er legte die Hand an sein Schwertheft. »Und wurde der erste Argonaut im Kampf verletzt? Ihr sagt, dass er sechs Dämonen getötet hat. Das kann er wohl kaum ohne einen Kratzer überstanden haben.«

»Na ja …« Der Dämon, der so dämlich gewesen war, diese Diskussion anzuzetteln, sah seinen Kameraden an, dann auf den Boden, wo das Blut der zwei Jäger in die schmutzigen Dielen sickerte. Ihre grünen Augen glühten hungrig. »Er kämpfte noch.«

»Wir wollten uns nur vergewissern, dass du nicht in eine Falle läufst«, meinte der andere Dämon schnell.

Die beiden sahen einander wieder an und nickten, als hätten sie sich soeben sehr geschickt aus dem Schlamassel gewunden.

»Danke«, sagte Thanatos und packte sein Schwert. »Ihr habt beide euren Wert bewiesen.«

Die zwei waren so unklug, wieder Blicke und sogar ein Grinsen zu wechseln, bei dem sie die fleckigen Zähne bleckten. Und Thanatos fand, das war hinreichend Beruhigung für sie. Er holte aus und köpfte sie beide mit einem Hieb.

Ihre Schädel landeten knallend auf dem Holzboden, gefolgt vom dumpfen Aufprall ihrer zuckenden Körper auf den menschlichen Jägern, an denen sie sich eigentlich gütlich tun wollten.

Angewidert steckte Thanatos sein Schwert wieder in die Scheide und blickte sich in der verfallenen Hütte um.

Nichts lief wie geplant. Jetzt hatte er nicht nur Atalanta im Nacken, sondern nicht einmal mehr eine Truppe in dieser Gegend. Er würde selbst nach den Argonauten suchen müssen. Das oder für immer aus diesem Wald verschwinden und den Rest seines Lebens auf der Flucht sein.

Er überlegte. Könnte er allein überleben? Atalanta wäre ihm bald auf den Fersen. Andererseits war er schlauer als ein gewöhnlicher Dämon. Und er besaß nach wie vor die Kräfte eines Erzdämons; zumindest bis sie ihn aufspürte und tötete.

Wenn er doch nur einen Weg fände, ihr diesen verfluchten Anhänger zu stehlen.

Es klopfte an der Tür, und er drehte sich um. Dann hörte er eine Stimme, eine weiche weibliche Stimme.

»Ist da jemand? Entschuldigen Sie die Störung, aber ich habe das Licht gesehen. Hallo?«

Thanatos atmete durch die Nase ein, um ihren Duft zuzuordnen. Ja, eindeutig weiblich. Und argoleanisch. Und keine gewöhnliche Argoleanerin.

Jetzt wurde es spannend.

»Hallo?« Wieder klopfte sie. »Ist da jemand?«

Wie konnte sich ein Mitglied der königlichen Familie in diesen Wald verirren? Fragen überschlugen sich in seinem Kopf, doch dann formte sich ein Plan, wie er aus dem Mist herauskam, in den er sich manövriert hatte. Ein Plan, der nichts mit Atalantas Anhänger zu tun hatte, aber genauso gut war.

Ohne zu zögern, riss er die Tür auf. Die Frau vor ihm machte große Augen vor Entsetzen und öffnete den Mund, als wollte sie schreien, doch es kam kein Laut heraus. Als sie sich umdrehte und weglaufen wollte, packte er ihren Arm und zog sie zurück.

Der Schrei, der nun doch ertönte, hallte durch jede Zelle seines Leibes, und sein Raubtiergrinsen wurde breiter.

Er zerrte sie mühelos in die Hütte. »Wir sind uns noch nicht vorgestellt worden, Prinzessin. Ich bin der Erzdämon, und jetzt gerade dein schlimmster Albtraum.«