Neuntes Kapitel

»Euer Abendessen, Mylady.«

Isadora blickte auf und bemühte sich, überzeugend zu lächeln, als Saphira das Tablett auf die Ottomane stellte.

»Ich habe Euch Euer Lieblingsgericht kochen lassen, Lammbraten mit Kartoffeln.«

Isadora, die im Wohnbereich ihres Gemachs saß, klappte das Buch auf ihrem Schoß zu und legte es neben sich auf die Couch. Draußen ging gerade die Sonne unter und tauchte die Berge in orangenes Licht. Nur mit äußerster Selbstbeherrschung gelang es Isadora, ein Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. »Ich danke dir, Saphira. Mmm, das riecht köstlich, und ich bin am Verhungern«, log sie.

Ihre Zofe glaubte ihr offensichtlich nicht, denn sie neigte den Kopf zur Seite und beäugte Isadora prüfend. »Ihr seht kränklich aus. Vielleicht solltet Ihr Euch nach dem Essen gleich hinlegen.«

Ins Bett wollte Isadora gewiss nicht. Und sie würde ihre neue Frisur und die Kleidung nicht als »kränklich« bezeichnen.

Statt zu widersprechen, täuschte Isadora ein Gähnen vor, hielt sich eine Hand vor den Mund und sagte: »Du hast wohl recht. Meine Augen sind plötzlich sehr müde.«

Saphira wirkte skeptisch und sah Isadora weiter an. »Hmm.«

Unbeirrt nahm Isadora ihren Löffel auf, beugte sich über das Tablett und probierte einen Bissen. »Mmm, ja, köstlich!«

Sie hatte schon beinahe den halben Teller leergegessen, als Saphira seufzte: »Ich denke, ich sollte Euch jetzt in Ruhe Euer Abendessen beenden lassen.«

Endlich. Isadora lächelte.

»Möchtet Ihr, dass ich Euer Bett aufschlage?«

»Nein, danke. Ich werde nach dem Essen noch ein wenig lesen, bevor ich mich hinlege.«

Das leise Grummeln verriet Isadora, dass die Gynaíka nicht einverstanden war. »Ihr solltet Euch vor der Bindungszeremonie möglichst viel ausruhen. Der König wäre enttäuscht, wenn Ihr am feierlichen Tag nicht auf der Höhe seid.«

Bindungszeremonie, ja, richtig. Als könnte sie die vergessen!

»Gute Nacht, Saphira.«

»Gute Nacht, Mylady.«

Isadora wartete, bis die äußere Tür mit einem Klicken ins Schloss fiel, dann schlug sie das Buch, das sie vor Saphira versteckt hatte, wieder auf.

omega_3.tif Die Horen. Drei Göttinnen, die über die natürliche Folge und Ordnung wachen. Sie bringen und gewähren Reife, kommen und gehen mit den Gesetzen der Periodizität von Natur und Leben. Im Wesentlichen entsprechen sie dem richtigen Moment.

Isadora strich über ihre neue schwarze Hose, wo sie die Markierung auf ihrer Schenkelinnenseite bedeckte. Sie musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass sie da war. Das Bild hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Das geflügelte Omegazeichen. Omega stand für das Ende. Alle anderen Argoleaner trugen eine Alpha-Markierung, doch Isadora und Casey waren anders. Sie waren die Auserwählten, deren Zeichnung das Ende von Atalantas unsterblicher Herrschaft prophezeite. Die Flügel indes hatten Isadora immer schon verwirrt. Wozu Flügel? Die waren sicher nicht grundlos da.

Hätte sie doch nur ihre Gabe wieder, in die Zukunft zu sehen. Ihre Halbschwester Casey konnte in die Vergangenheit blicken, während sie selbst früher Ausschnitte dessen sehen konnte, was kommen würde. Aus unerfindlichen Gründen hatte sie ihre Kräfte verloren. Andernfalls könnten sie ihr nun vielleicht erklären, was dies alles zu bedeuten hatte. Und warum sie sich so unruhig fühlte.

Stundenlang hatte sie über ihren Büchern gebrütet, denn auch wenn sie nicht wusste, wieso, brauchte sie die Antworten auf ihre Fragen unbedingt, bevor sie sich an Zander band. Ihr Gefühl sagte ihr, dass es nicht nur für ihre Zukunft entscheidend war, sondern auch für seine.

Mit einer Mischung aus Furcht und Vorahnung blickte sie wieder auf den Text. Es gab einen Menschen, der wusste, was das bedeutete, der die Leerstellen füllen konnte. Nur war er der letzte Ándras, in dessen Schuld sie stehen wollte.

Ehe sie es sich anders überlegen konnte, sprang sie auf und lief zu dem großen Wandschrank hinüber. Der Tarnumhang war ganz hinten versteckt, unter einem bodenlangen Cape, das sie bei offiziellen Anlässen trug. Sie zog den Umhang vom Bügel und betrachtete den leichten schwarzen Stoff.

Bitte mach, dass er noch wirkt.

Sie trat aus dem begehbaren Schrank, schlüpfte in die flachen schwarzen Schuhe, die Casey ihr gegeben hatte, und knöpfte sich den Umhang um. Nachdem sie einmal tief eingeatmet hatte, zog sie die Kapuze auf und lief zur Tür.

Draußen auf dem großen Korridor blieb sie stehen und lauschte auf die frühabendlichen Geräusche. In der Nähe läutete eine Glocke; eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen; Schritte entfernten sich leise.

Isadora ging zur hinteren Treppe. Aus der Küche hallte Geschirrklappern und Lachen herauf. Unten blieb Isadora im Schatten vor der Tür stehen und hielt den Atem an. Es war so weit. Zeit herauszufinden, ob die Parzen sie für würdig hielten, die Krone zu übernehmen, oder nicht.

Sie schritt in die Küche. Drei Köchinnen füllten dampfendes Fleisch und Kartoffeln auf Teller. Eine Handvoll Bediensteter befüllte Gläser und sortierte Besteck. Tellerwäscher standen an den großen Spülbecken, wo sie Töpfe, Pfannen und andere Kochutensilien abwuschen. An dem langen Holztisch auf der anderen Seite des Raumes saßen sechs Wachen, die Pause machten, Geschichten erzählten, lachten und sich das Essen reinschaufelten.

Keiner blickte in ihre Richtung.

Den Atem anhaltend, schlich sie auf die Hintertür zu, vorbei an Cookie, der dienstältesten Köchin. Immer noch beachtete sie niemand. Sie umfasste den Türknauf und zog vorsichtig. Hinter ihr rief jemand: »Wer hat die Tür nicht verriegelt? Der Wind hat sie aufgedrückt!«

Bevor einer der anderen herbeieilen und sie wieder schließen konnte, schlüpfte Isadora durch die schmale Öffnung. Im nächsten Moment wurde die Tür hinter ihr zugeworfen. Genüsslich atmete Isadora die frische Abendluft ein und konnte nicht umhin, zu lächeln.

Sie hatte es geschafft. Sie war draußen, und keiner hatte etwas bemerkt.

Mit wachsender Zuversicht schritt sie an den vier Wachen am Haupttor vorbei, ohne sich umzusehen, und lief weiter, bis sie die Straße unten am Hügel erreichte, von wo aus sie auf die Stadt Tiyrns sah.

Hohe Marmorbauten ragten aus dem Zentrum auf, umkränzt von kleineren Wohnvierteln, die sich bis zur Burganlage erstreckten. Die meisten Läden und Geschäfte waren schon geschlossen, doch obwohl Isadora sich problemlos in das Viertel teleportieren könnte, in das sie wollte, kostete sie es lieber aus, dass sie unbemerkt durch die Stadt schlendern konnte.

Niemand sah sie, die künftige Königin von Argolea, die sich außerhalb der Burgmauern bewegte. Jenseits der strengen Kontrolle ihres Vaters und weit weg von allem, was sie langsam umbrachte.

Trödel nicht, Isadora.

Genau, das dürfte sie nicht, denn bliebe sie zu lange fort, würde es jemandem auffallen, und dann wäre die Hölle los.

Sie rief sich die Karte ins Gedächtnis, die sie sich angesehen hatte, und überlegte, wo die Corinth Avenue lag. Dann schloss sie die Augen, ihre Glieder wurden leicht, und sie flog.

Teleportieren fühlte sich merkwürdig an, zumal Isadora es nicht oft erlebte, war sie doch für gewöhnlich in der Burg eingesperrt. Einer der Vorteile, wenn man in Argolea lebte, war, dass man sich mittels purer Gedankenkraft von einem Ort zum anderen begeben konnte. Man brauchte sich bloß das Ziel vorzustellen, schon gelangte man hin. Dies war natürlich eine sehr viel schnellere Form, Wege zu bewältigen, als zu Fuß durch eine Zwei-Millionen-Stadt zu kommen, und weit sicherer als die unberechenbaren Autos und Lastwagen, die Isadora in der Menschenwelt gesehen hatte. Zwar musste man im Freien sein und konnte keine Mauern durchdringen, aber das spielte heute Abend keine Rolle.

Isadora wurde langsamer, hielt an und öffnete die Augen. Sie war exakt an der Stelle, deren Beschreibung sie zufällig mitgehört hatte. Es war nun vollständig dunkel, und Straßenlaternen beleuchteten im Abstand von jeweils zehn Metern das schäbige Kopfsteinpflaster. Die kleinen Läden in diesem Viertel waren heruntergekommen, ihre Schaufenster schmutzig und die Beschriftungen teils abgefallen, teils verwittert. Die wenigstens von ihnen betrieben überhaupt noch Geschäfte. Ein Mülleimer lag umgekippt auf dem Gehsteig, aus dem Unrat und gammelige Essensabfälle aufs Pflaster quollen. Drei Kinder, die aussahen, als hätten sie seit Tagen nicht gebadet, und nicht älter als zehn sein konnten, durchsuchten die Abfälle.

Isadora huschte eilig an der Bar zu ihrer Rechten vorbei, deren Tür weit offen stand, so dass Grölen, Gelächter und das Schaben von Stühlen nach draußen drangen. Sie ging an dem Lärm vorbei zu dem einsamen Eckladen, über dem ein Schild mit der Aufschrift HELIOS hing.

Hinten im Laden brannte Licht, und obwohl das Zeichen an der Tür sagte, dass geschlossen war, griff Isadora nach dem Knauf und drückte.

Sogleich wehte ihr ein beißender Geruch nach Weihrauch und Kräutern entgegen, wie sie in alten Zeremonien verwandt wurden. Hier und da auf den Tischen sowie in einem Kronleuchter über dem Tresen flackerten Kerzen. Auf den mit bunten Tüchern drapierten Tischen lagen polierte Steine, getrocknete Blumen und Kräuter, Kristalle und Perlen. Und überall war menschlicher Schnickschnack verteilt wie Goldstaub in einem fließenden Gewässer.

Eine anderthalb Meter hohe Freiheitsstatue, ein Handy, ein Buch mit dem Titel Twilight, hochhackige Damenstiefel, ein T-Shirt mit dem Aufdruck Abercrombie auf der Brust. Wo man auch hinsah, entdeckte man etwas, das nicht von dieser Welt war. Und so wurde man immer weiter in den Laden gelockt.

Isadora nahm die Kapuze ab und blickte sich um. Götter, er muss seit Jahren menschliche Relikte herschmuggeln. Einerseits wunderte sie, dass der Rat hier offenbar ein Auge zudrückte, andererseits musste sie beinahe schmunzeln, denn genau hierauf hatte sie gehofft.

Als sie ein paar Schritte weiter ging, stieß sie gegen einen Tisch. Ein Bilderrahmen darauf geriet ins Schwanken und fiel klappernd um.

»Wir haben geschlossen«, rief eine Stimme aus dem Hinterzimmer.

Behutsam stellte sie den Bilderrahmen wieder richtig hin und schluckte, weil es vollkommen still blieb.

Isadora brachte schlicht kein Talent zur Erpressung mit, und diese Karte hatte sie schon einmal ausgespielt. Entsprechend war sie nicht sicher, ob es wieder klappen könnte. Aber sie brauchte ihn jetzt – womöglich dringender als zuvor.

Hinter der Wand waren Schritte zu hören. Isadora blieb, wo sie war, wartete und hoffte, dass sie ihn nicht in einer seiner befremdlichen Stimmungen störte.

Das Geräusch verstummte. Obwohl sie seine Schritte gehört hatte, kam er nicht durch die dunkle, offene Tür hinten im Laden. Wo war er? Sie blinzelte.

»Wie bist du deinem Laufställchen entkommen, Isa?«

Isadora zuckte zusammen, als die raue Stimme direkt hinter ihr erklang, drehte sich um und musste den Kopf in den Nacken legen, um zu Orpheus aufzusehen.

Ihr Puls raste, als seine grünen Augen sie musterten, doch sie wich nicht zurück. Er war so groß und muskelbepackt wie die Argonauten, und mit seinen kantigen Zügen und den breiten Schultern auch mindestens so furchteinflößend. Damit erschöpfte sich die Ähnlichkeit allerdings, denn von den Argonauten ging zwar durchaus eine gewisse Gefahr aus, doch Orpheus war regelrecht verstörend. Wie er durch Wände dringen konnte, war schlicht nicht normal, und wenn seine Augen auf diese Dämonenart grün aufblitzten, so wie jetzt, wollte Isadora am liebsten schreiend in die Berge fliehen. Orpheus, ein Neffe Lucians, entsprang der Perseus-Linie und hätte eigentlich ein Argonaut werden sollen, wurde jedoch zugunsten seines jüngeren und stärkeren Bruders Gryphon übergangen.

Isadora schlug eine Hand vor ihre Brust. »Götter, Orpheus, du hast mich erschreckt!«

»Gut so«, erwiderte er ernst. »Du bewegst dich auf meinem Grund und Boden, da ist es nur klug von dir, große Angst zu bekommen.«

Sie rührte sich nicht vom Fleck. Er wollte ja, dass sie vor ihm kniff und weglief, dass sie sich fürchtete. Was sie auch tat. Seine dämonische Seite – die zu verbergen er sich keinerlei Mühe gab – war unberechenbar. Doch anstatt ihrer Furcht nachzugeben, klammerte Isadora sich an die Vision, die sie von ihm gehabt hatte, bevor sie ihre Gabe verlor, und die sie heute Abend hergeführt hatte. In jener Vision rettete er sie.

Er trat näher, bis sie seinen heißen Atem auf ihrer Haut spürte. »Hast du die Gerüchte nicht gehört? Dämonen vernaschen Jungfrauen gern zum Abendessen.« Als sie nicht antwortete, streckte er einen Arm aus und befingerte ihr kurzes Haar. »Das gefällt mir. Erzähl mir nicht, der König hätte dich von seinem Spielplatz vertrieben, weil du dir das Haar geschnitten hast und dir jetzt nur noch die Wahl bleibt, dich an einen Sünder zu wenden.«

Seine Amüsiertheit weckte Isadoras Trotz. Furcht einflößen und veralbern, so hielt er es mit jedem, von je her, aber sie fiel nicht darauf rein. »Bilde dir nichts ein, und mach dir lieber keine falschen Hoffnungen. Mein Vater ist todkrank. In wenigen Wochen wirst du vor mir knien und deiner neuen Königin Treue schwören.«

»Verlass dich nicht darauf, Jungfrau. Ich schwöre niemandem Treue.« Er ließ ihr Haar los und ging an ihr vorbei hinter den Tresen.

Isadora drehte sich um und verfolgte seine fließenden Bewegungen. Dem arglosen Betrachter käme er wie ein Argoleaner von vielen vor, wenn auch überdurchschnittlich groß. Doch er war alles andere als das. Er verkörperte, was alle fürchteten und hassten. »Was ist mit der einen Person, die dein Geheimnis kennt?«

Er blickte sich verärgert zu ihr um. Seine Augen, die schwarz wurden, als er ihr Haar berührte, waren nun wieder grün. »Sei nicht dumm. Mir zu drohen, hat Folgen, die dir ganz gewiss nicht behagen.«

Sie reckte ihr Kinn. Zum Teufel mit ihm! Sie hatte schon Schlimmeres durchgemacht, als er ihr antun könnte, hatte mit einem Gott gekämpft und es überlebt. »Ich brauche deine Hilfe, Orpheus.«

Er runzelte die Stirn. »Ich hätte diesen vermaledeiten Tarnumhang vernichten sollen, nachdem wir den Olymp verließen.«

»Das meinte ich nicht.«

Er stützte seine beiden kräftigen Hände auf den Tresen, der sich fast an der gesamten Wand entlang erstreckte, und lehnte sich zurück. »Dann verrate mir, was du wohl von mir wollen kannst? Ich bin ganz Ohr.«

»Ich möchte«, begann sie zögernd, denn es hörte sich zu absurd an, »dass du mich lehrst.«

»Dich was lehre?«, fragte er sichtlich gelangweilt.

»Zu kämpfen.«

Diese Bitte quittierte er mit einem verächtlichen Schnauben.

»Ich bin stärker, als ich scheine.«

»Du bist erbärmlich.«

»Ich will es lernen.« Er öffnete den Mund, doch sie kam ihm zuvor. »Es gibt Gruppierungen, die mich nicht auf dem Thron sehen wollen und alles tun werden, um meine Autorität zu untergraben. Deshalb darf ich keine Schwäche zeigen. Bring mir Kämpfen bei, damit ich gleich dem Ersten, der meine Herrschaft anzweifelt, zeigen kann, dass ich keine Marionette bin.«

Seiner Miene nach hielt er ihr Ansinnen für aberwitzig, aber er sagte wenigstens nicht gleich Nein, was sie als verkapptes Ja deutete. Was wider den Rat oder die Argonauten ging, fand grundsätzlich Orpheus’ Zustimmung, und Isadora konnte förmlich sehen, wie es in ihm arbeitete, wie er sich ausmalte, wie sie Lucian, den Ratsvorsitzenden, mit ihrem Schwert zu Fall brachte.

Bei der Vorstellung musste sie beinahe lächeln, ehe ihr bewusst wurde, dass nicht immer der Tod die Lösung war. »Und ich möchte, dass du mir noch etwas anderes beibringst.«

»Ach, Lara Crofts Kampftechniken reichen dir nicht?«

Lara Croft? Sie überging die Frage, zog ein Papier aus ihrem Umhang und legte es vor ihm auf den Tresen. »Lehr mich alles hierüber.«

Schlagartig wurde er total still, und etwas blitzte in seinen Augen. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Doch, weißt du«, entgegnete sie. »Ich bin nicht dumm, Orpheus, und habe Nachforschungen angestellt. Das Omega-Symbol war das Zeichen für die Prophezeiung, und diese Flügel hier«, sie wies auf das Blatt mit dem Symbol, das sie in der ersten Übersetzung der Horen und auf ihrer Haut entdeckt hatte, »die bedeuten noch etwas anderes.«

Er verdrehte die Augen. »Hast du irgendwas geraucht?«

»Nein«, sagte sie streng, denn sie wollte sich nicht von ihm verunsichern lassen. »Habe ich nicht. Irgendetwas geht vor, seit Wochen schon, seit Casey und ich vereint wurden. Ich kann es fühlen, aber es ist anders als vorher, und ich weiß nicht, was das heißt.«

Sie trat einen Schritt vor und zeigte auf den Text, den sie abgeschrieben hatte. »Das geflügelte Omega ist das Symbol der Horen, und die waren nicht zwei, sondern drei. Göttinnen der Ausgewogenheit und Ordnung, Halbschwestern der Moiren oder Parzen. Die Drei ist eine mächtige Zahl in der Wissenschaft, der Religion und der Mythologie – die dritte Dimension, das Dreieck, Anfang, Mitte und Ende, die drei Parzen, die Dreifaltigkeit …«

»Bist du auf einmal religiös?«

»Der Dreiklang, die drei Phasen des Mondes, die drei Musen …«

»Waren die nicht neun?«

»… die drei Furien, die drei Gesichter Hekates …«

»Schluss«, fuhr er ihr ernst über den Mund. »Über Hexerei scherzt man nicht, Isadora.«

Sie verstummte. Das grüne Leuchten in seinen Augen war zurück, und an seiner angespannten Haltung erkannte sie, dass sie einen wesentlichen Punkt angesprochen hatte. »Ich scherze nicht.«

»Lass es gut sein, Prinzessin.«

»Kann ich nicht. Das Summen in meinem Kopf lässt mich nicht. Du weißt, was es bedeutet, oder? Hier geht es nicht mehr nur um Casey und mich. Da ist noch etwas.«

Seine Wangenmuskeln zuckten, und sie wusste, dass sie recht hatte. Genauso wie sie wusste, dass es richtig gewesen war, herzukommen. Ihr Herz schlug schneller.

»Was willst du von mir?«

»Was kannst du mir anbieten?«

Sie überlegte. »Ich sorge dafür, dass du weiter wie bisher leben kannst.«

Er runzelte die Stirn. »Unsinn. Wenn du mich bloßstellen wolltest, hättest du es längst gekonnt. Aber wir beide wissen, dass du viel zu weich dazu bist.«

»Na gut, ich erzähle keinem von diesem kleinen Laden. Du kannst weiter Sachen und Leute hin- und herschmuggeln, ohne dass jemand etwas ahnt.«

»Es ahnt sowieso keiner was. Du hast nur gesehen, was ich dich sehen ließ. Versuch’s mit einem besseren Angebot.«

Er besaß die Macht, Wahrnehmung zu beeinflussen? Irre.

»Gold«, sagte Isadora rasch.

Er schnaubte. »Ich brauche dein Gold nicht, Isadora. Guck dich um. Dieser Laden ist eine Goldmine.«

Leider musste sie gestehen, dass er recht hatte. »Also schön, was willst du?«

Abermals blitzten seine Augen grün, nur war es diesmal nicht boshaft, sondern hitzig; jene Art Glühen, bei dem eine Frau sofort wusste, was der Ándras im Sinn hatte.

Dämonen sind impotent. Diese allgemein bekannte Tatsache ging ihr durch den Kopf, während sie ihn von oben bis unten musterte. Nur war er nicht bloß ein Dämon. Er war auch ein Argoleaner. Und sollte er nicht von einem Dämon gezeugt worden sein, war die kleine Tatsache null und nichtig.

»Ich denke, du weißt, was ich will«, raunte er.

Sie schluckte. »Ich soll … mit dir schlafen?«

»Nein, Isa«, erwiderte er, während sein Blick über ihren Körper wanderte, »an Schlafen hatte ich nicht gedacht. Was ich will, ist dein Körper, ganz und gar. Ich will ihn für mich, mit ihm tun können, was immer mir beliebt, wann und wo ich will, und zwar so lange, wie das Training andauert.«

»Training?«

Er nickte zu ihrem rechten Schenkel, wo das Mal unter ihrer Hose verborgen war. »Was du dort hast, ist mächtiger, als dir oder deiner Schwester bewusst sein dürfte. Mit Atalantas Unsterblichkeit hört es nicht auf. Sie war vielmehr der Anfang. Aber um diese Kräfte zu nutzen, muss man lernen, wie man sie beherrscht. Es stimmt, dass ich dir helfen kann, nur wird es dich einiges kosten.«

Isadora wurde flau, denn ihr kamen Bilder aus der Unterwelt in den Sinn.

»Guck nicht so entsetzt, Isadora«, murmelte er mit einem Anflug von Belustigung. »Etwas sagt mir, dass du es genießen könntest.«

Ihren Körper.

Eigentlich gehörte er ihr gar nicht mehr. In wenigen Tagen würde er Zander gehören, und wechselte sie von dieser Welt in die nächste, würde er zu Hades’ Eigentum. Sollte sie bis dahin nicht selbst bestimmen dürfen, was sie damit anfing? Es war ihre Entscheidung, ihre ganz allein. Und wenn sie so an ihr Ziel gelangte, war es das wert.

Ihr Schicksal selbst zu entscheiden, statt es andere für sie tun zu lassen, lohnte den Preis ihrer Tugend.

Sie blickte wieder zu ihm auf. »Einverstanden.«

Immer noch an den Wandtresen gelehnt, zog er eine Miene, die Isadora deutlich verriet, dass er eine andere Antwort erwartet hatte.

»Ich sage Ja. Solange das Training dauert, gehört mein Körper dir. Aber du wirst mich alles lehren, Orpheus, alles, was ich wissen will, und mehr. Und was du nicht weißt, wirst du für mich herausfinden.«

Sie nahm sein Schweigen als Zustimmung und wollte gehen. »Wir fangen morgen mit der ersten Stunde an. Ich bin um dieselbe Zeit wie heute hier.«

Sie blieb stehen, drehte sich jedoch nicht wieder zu ihm.

»Ja, Isa«, sagte er. »Mir ist bekannt, dass du dich an den Argonauten Zander binden willst. Dinge sprechen sich selbst bis hierher herum, Jungfrau

Nun wandte sie langsam den Kopf zu ihm und sah ihn an, ebenso hart, kühl und ungerührt wie er sie. »Zander ist verwundet, daher bin ich ziemlich sicher, dass die Zeremonie verschoben wird. Was bedeutet, dass wir vorher Zeit haben.«

»Und deine Tugend?«

»Gehört mir, und ich kann mit ihr verfahren, wie es mir beliebt.«

Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Hubby wird nicht froh sein, wenn er erfährt, dass du das Siegel ohne ihn gebrochen hast.«

»Dann wird er lernen müssen, mit Enttäuschungen zu leben. Das musste ich auch.«

Sie ging weiter zur Tür.

»Isadora«, rief er ihr nach, wobei seine Stimme sanfter klang.

Eine Hand schon auf dem Türknauf, verharrte sie.

»In dieser Kultur wird Untreue hart sanktioniert, ganz besonders bei einer Angehörigen der Königsfamilie. Bist du sicher, dass du das willst?«

Sie dachte an die Frauen, die bestraft worden waren. Obwohl viele meinten, die archaischen Geißelungen der Vergangenheit gäbe es nicht mehr, wusste Isadora, dass der Rat sie unbedingt wieder einführen wollte. Es stimmte, was Orpheus sagte: Sollte sie in einer kompromittierenden Situation ertappt werden, hätte es schreckliche Folgen für sie, nicht hingegen für ihn. Männer kamen immer ungeschoren davon. Bis sie regierte und manche Dinge änderte, konnte ihre … Beziehung … für Isadora tödlich sein.

Das Mal an ihrem Schenkel kribbelte. Nein, das war es wert. Lieber starb sie durch die Hand des Rats, als dass sie nie die Chance ergriff, ihr künftiges Schicksal mitzubestimmen.

Sie öffnete die Tür und zog sich mit der freien Hand die Kapuze wieder über den Kopf. Ihre Entschlossenheit war wohltuend wie lieblicher Wein. »Bis morgen Abend, Orpheus. Lass mich nicht warten.«