Sechstes Kapitel

Max schrak aus dem Schlaf, in kalten Schweiß gebadet und am ganzen Leib zitternd.

Das Atmen viel ihm schwer. Rasch setzte er sich auf und blickte klopfenden Herzens in die Dunkelheit, während seine Sinne langsam wach wurden.

Er war auf seinem Dachboden, lag auf seinem Strohbett. Mondlicht fiel durch das schmutzige Fenster an der gegenüberliegenden Wand und beleuchtete die dicke Staubschicht auf den kahlen Dielen, so dass es aussah, als läge eine Schneeschicht drauf.

Dies war nicht das Übungsfeld. Er sah nach unten. Es war kein Blut an seinen Händen. Er hatte eben nicht in blinder Raserei getötet, wie er es in seinem Traum sah.

Ein Traum. Bloß ein blöder Traum.

Er holte tief Luft, zwei Mal, schloss die Augen und versuchte, seinen rasenden Puls zu beruhigen. Der Traum war genauso gekommen wie sonst. Und wie immer fiel es Max schwer, ihn von der Wirklichkeit zu unterscheiden. In diesem Traum hatte er seine Mutter gesehen, die ihn suchte – wieder einmal. Als sie jedoch erkannte, was aus ihm geworden war, was er getan hatte, kehrte sie ihm entsetzt den Rücken zu und floh.

Das ist nicht passiert. Nur ein blöder, ganz blöder Traum.

Er fühlte sich ein wenig ruhiger, öffnete die Augen und schaute sich um. Während sein Puls langsamer und seine Sicht im Dämmerlicht besser wurde, erkannte er, dass er sehr unruhig geträumt haben musste. Das Brot neben seinem Lager, das er nicht angerührt hatte, war überall auf dem Boden verstreut und größtenteils zerdrückt, der Teller in mindestens drei Teile zerbrochen und sein Wasser nur noch ein feuchter Kreis auf dem harten, kalten Holz.

Komisch.

Mit einem Achselzucken verscheuchte er den Gedanken und legte sich wieder hin. Er war nicht sicher, wie lange er geschlafen hatte, aber es mussten Stunden gewesen sein, ging man nach dem Licht. Von draußen war zu hören, dass Atalanta nach der Abendessenspause wieder bei der Arbeit war und ihre Dämonen trainierte. Zum Glück hatte sie Max schlafen lassen, wohl weil sie zu angewidert von seiner Menschlichkeit war und seinen Anblick nicht mehr ertrug. Waffenklirren, Schmerzensschreie und Atalantas Brüllen hallten durch die Luft, pochten in seinem Kopf.

Er warf den Arm über seine Augen und versuchte, die Geräusche auszusperren. Bibbernd sehnte er sich seine Decke herbei, nur war jedwedes Wünschen zwecklos, denn heute Nacht bekäme er sie nicht wieder. Also sollte er sich damit abfinden, zu frieren.

Um nicht an die Kälte zu denken, drehte er sich auf die Seite, rollte sich zusammen und stellte sich das Gesicht seiner Mutter vor. Wenn er sich ganz doll anstrengte, konnte er sogar fast die Wärme vom Glas wieder spüren.

Der Spiegel!

Er setzte sich ruckartig auf, nun hellwach, und erneut raste sein Herz. Nur dass diesmal kein Traum daran schuld war. Das war die Wirklichkeit.

Er sprang auf, kniete sich wieder hin, suchte jeden Zentimeter seines Strohlagers nach dem Spiegel ab, doch er konnte ihn nicht finden. Seine Hände zitterten, und ihm kamen die Tränen. Wieso hatte er den Spiegel nicht zurückgelegt, bevor er einschlief? Blöder, blöder Max! Wo war er?

Wieder und wieder tastete er sein Strohbett mit zittrigen Fingern ab, wurde mit jedem fruchtlosen Suchen verzweifelter. Dann aber ertastete er etwas Kleines, Rundes, Metallenes und erstarrte.

Er hob die Münze ins Mondlicht, um sie besser sehen zu können, und ihm wurde eiskalt, als er den eingestanzten Buchstaben A im Gold entdeckte.

Es war Atalantas Münze, ihr Erkennungszeichen. Folglich musste sie in seinem Zimmer gewesen sein, ihn mit dem Spiegel gesehen haben. Und nun war er fort. Das zerkrümelte Brot, das verschüttete Wasser, der zerbrochene Teller: Alles ergab jetzt einen Sinn.

Binnen einer Sekunde war er auf den Beinen, angetrieben von einer Wut, wie er sie nie zuvor gekannt hatte. Er stieg die Leiter hinunter in den dritten Stock und stürmte über die Hintertreppe hinab zur Küche. Mit jedem Schritt wuchs der Zorn in ihm.

Meiner. Meiner. Meiner!

Ohne auf das Personal oder deren warnende Rufe zu achten, raste er durch den Raum. Eisige Luft schlug ihm entgegen, sowie er die Tür aufstieß, doch auch die ignorierte er. Drüben auf dem Trainingsplatz erblickte er eine Gruppe von Dämonen, die Atalanta und einen ihrer Lakaien umringten.

»Schwach!«, brüllte Atalanta. »Wollte ich rückgratlose Würmer in meiner Armee, hätte ich Menschen statt Dämonen ausgesucht. Jetzt leg dich mal ins Zeug!«

Max’ Füße bewegten sich wie von selbst. Alles um ihn war dunkel und verschwommen, und ehe er begriff, was er tat, drängte er sich durch die Menge in die Mitte.

Atalanta bemerkte ihn, und der Dämon, mit dem sie kämpfte – Phobi? –, nutzte die Gelegenheit, um die Oberhand zu gewinnen. Aber sie war schneller als er und tausend Mal tödlicher.

Ihr Schwert schwang aus, ehe Phobi zuschlagen konnte, und mit einem Schrei, der durch die kalte Nacht gellte, flog sein Kopf vom Körper und landete mit einem dumpfen Poltern auf der gefrorenen Erde. Sekunden später fiel der Rest von ihm um.

Von solchen Szenen hatte Max schon unzählige bezeugt, und jedes Mal hatte ein Teil von ihm aufgeschrien. Tod war Tod, egal welche Kreatur er traf. Dieses Mal jedoch kümmerte es ihn nicht. Er sah nur Atalanta und was sie ihm angetan hatte.

»Maximus«, sagte sie und wischte die blutige Klinge in ihrem roten Rock ab. »Wie schön, dass du dich zu uns gesellst.«

»Ich bin nicht hier, weil ich mitmachen will«, schrie er und schleuderte ihr die Münze vor die Füße. »Ich komme, um mir zu holen, was du mir gestohlen hast.«

Sie blickte hinab zu dem Goldstück, und ein Flackern regte sich in ihren Augen, doch ihre Miene blieb so kalt und ungerührt wie immer.

Dann sah sie zu ihm, spießte die Schwertspitze in den Boden, so dass die Waffe aufrecht stand, und zog das ovale Glas aus ihrer Rocktasche.

Max stockte der Atem, als er seinen Schatz in ihrer Hand sah. Angst schnürte ihm die Kehle zu, denn er wusste, was sie wollte. Er sollte betteln, sollte vor den anderen zeigen, wie schwach er war. Und das würde er. Für dieses Glas und die eine Verbindung zu seiner Mutter tat er alles.

»Willst du das hier?«, fragte sie mit eklig süßer Stimme. »Dieses … Kleinod?«

Leider brachte er keinen Ton heraus.

Sie drehte das Glas langsam in ihren Händen, ohne den Blick auch nur eine Sekunde von ihm abzuwenden. »Es ist so hübsch, Maximus. Ich frage mich, wo du das nur herhast?«

Er war nicht so dumm, ihr etwas vorzulügen. So wie sie ihn anstarrte, vermutete sie bereits, dass es von den Göttern stammte. Aber so blöd, ihr die Wahrheit zu sagen, war er natürlich auch nicht.

Sie packte das Glas mit einer Hand und warf es nach rechts. Mit einem stummen Aufschrei beobachtete Max, wie es durch die Luft flog. Krumme, knorrige Finger griffen danach, ehe es auf die gefrorene Erde fiel. Zelus gackerte.

»Schön, nicht wahr, Zelus?«, fragte Atalanta, die nach wie vor Max ansah.

»Ja, meine Königin«, knurrte der Dämon.

Ein träges Lächeln erschien auf ihren Zügen. »Jetzt gehört es dir.«

Zelus hob es über seinen Kopf.

»Nein!«, schrie Max, in dessen Körper sich jeder einzelne Muskel anspannte.

Zelus’ Arme bewegten sich so schnell, dass Max es kaum verfolgen konnte. Ihm stockte der Atem, und als das Glas mit einem leisen Klimpern auf der harten Erde zersprang, lösten sich auch all seine Träume in winzige Scherben auf.

Nun könnte sie ihn niemals finden. Nicht mehr. Nie mehr.

Max sah tiefrot und stürzte ohne nachzudenken los. Seine Hand schnellte nach vorn und ergriff Atalantas Schwert, ehe sie ihm zuvorkommen konnte. Ein Brüllen hallte über das Trainingsfeld, doch Max sah nicht einmal hin, bemerkte gar nicht, dass er dieses Geräusch machte. Er fühlte, wie etwas in sein Gesicht klatschte, was ihn nicht scherte. Die Klinge in seiner Hand holte aus, traf auf Zelus’ Haut und grub sich in dessen Knochen. Der Dämon heulte, wollte sich wehren, aber Max war zu flink. Er wich dem Dämon ein ums andere Mal aus, und als Zelus schließlich auf den Knien war, zögerte er nicht einmal.

Hinter sich hörte er Atalanta »Ja!« flüstern.

Er holte aus. Der Vernichtungswunsch überwog all seine anderen Sinne, selbst den für Moral.

Mit einem Pfeifen sauste die Klinge seitwärts, das nur gedämpft wurde, als sie das Hindernis durchschnitt, und Zelus’ Kopf rollte über den Boden bis vor Phobis Füße. Als Nächstes kippte der Körper des Dämons auf die Erde.

Hinter Max ertönte glockenhelles Frauenlachen. »Ja, Maximus, ja!« Atalanta klatschte in die Hände, packte seine Oberarme und schüttelte ihn begeistert.

Verschwitzt und atemlos starrte Max auf das Blutbad, das er angerichtet hatte, und erwartete, Reue zu empfinden. Doch die regte sich nicht einmal andeutungsweise in ihm. Vielmehr empfand er Triumph. Anstelle des toten Dämons sah Max nichts als seine dummen, sinnlosen Hoffnungen und Träume in Trümmern vor sich liegen.

Er ließ sich von Atalanta zurückziehen und an sich drücken, wehrte sich nicht gegen ihre Berührung oder verkrampfte sich wie sonst. »Ich wusste, dass es in dir steckt!«

Rasch gab sie ihn wieder frei und wies die anderen an: »Hybris, schnell, sag den Köchen, sie sollen ein Festmahl bereiten. Heute Abend feiern wir den Sieg meines Yios

Hybris rannte zum Haus. Die anderen Dämonen trotteten zur Kaserne am Waldrand, raunten und grummelten untereinander, wovon Max allerdings nichts verstand und auch nicht wollte. Er rührte sich nicht.

Warum fühlte er nichts? Wieso regte sich in ihm gar nichts. Da war bloß … Nichts.

Atalanta trat vor ihn, so dass ihm ihr langes Gewand die Sicht auf den enthaupteten Dämon versperrte; aber er musste ihn nicht sehen, um sich zu erinnern. Dieses Bild konnte er sich jederzeit ins Gedächtnis rufen.

Atalanta beugte die Knie, bis sie auf Augenhöhe mit Max war. Ihre Iris war von jenem Pechschwarz, aus dem Diamanten entstehen könnten.

»Du hast soeben deinen ersten Schritt auf mich zu gemacht, Yios, und ich weiß, wie schwer das für dich ist, denn früher war ich wie du. Aber das Kämpfen ist mir bestimmt, es ist, was ich bin.« Ihre Stimme klang sanft, zur Abwechslung mal nicht herablassend. Und aus Gründen, die er nicht erklären konnte, hörte er ihr zu. »Du und ich, Maximus, wir haben gemeinsam die Macht, alles zu tun. Zusammen sind wir stark genug, um die Welt zu beherrschen.«

Die Metallscheibe, die sie stets um den Hals trug, rutschte aus ihrem Kleid und baumelte vor Max. Er hatte sie schon häufiger gesehen, doch heute Abend strahlte sie so hell wie der Mond.

Atalanta legte eine Hand an seine Wange. »Du glaubst mir, nicht wahr, Maximus?«

Er blickte auf die Scheibe mit den vier gleichmäßigen Aussparungen und versuchte, sich zu erinnern, was Thanatos, der Erzdämon darüber zu den anderen gesagt hatte. Es ist der Schlüssel, der die Pforten zur Welt öffnet. Geschmiedet von den Göttern und von ihr gestohlen.

Wie ein Schlüssel sah das Ding eigentlich nicht aus, aber was wusste Max schon?

»Maximus?« Ein rot lackierter Finger hob sein Kinn an.

»Ja?«, flüsterte er und konzentrierte sich wieder auf ihre Augen. Rund, genau wie das Medaillon an ihrer Brust.

»Ja, was?«

»Ja, Matéras?« Das Wort hatte sich ihm derart eingeprägt, dass er sich nicht einmal mehr sträubte, es auszusprechen. Oder fing er an, sich endlich damit abzufinden?

Sie lächelte ein richtiges Lächeln, wie er es noch nicht an ihr gesehen hatte, und ihre verblüffende Schönheit raubte ihm den Atem. »Heute Abend bin ich stolz, dich meinen Sohn zu nennen. Komm und feier mit mir. Und wenn es Zeit zum Schlafengehen ist, sollst du in den weichsten Federn liegen, von Luxus umgeben. Denn bei mir wird es dir künftig an nichts mehr mangeln.«

Irgendwo in seinem Kopf schrie eine kleine Stimme Nein!, nur war sie so schwach und erstickt, dass er sie kaum hörte.

Atalanta stand auf und reichte ihm die Hand. »Komm, Yios

Stumm betrachtete er ihre langen Finger im Mondschein. Auf dem Boden hinter ihr konnte er das zerbrochene Glas inmitten von Blut und Tod sehen.

Das hier ist deine Wirklichkeit. Alles andere war nie echt, nur ein Traum …

Er ließ das Schwert fallen, legte seine Hand in ihre und gab jene Fantasie auf, an die er sich so lange geklammert hatte – den Traum von seiner Mutter, seinem Vater und den blödsinnigen Wunsch, jemand würde kommen und ihn retten. Das würden sie nicht, niemals. Denn Atalanta hatte recht: Er war genau wie sie, ein Mörder, ein Ausgestoßener. Nicht mehr als ein unerwünschter Held.

Sein Blick fiel auf die Zeichnungen an seinen Unterarmen, die einen scharfen Kontrast zu ihrer blassen Haut bildeten. Er konzentrierte sich auf die uralten Worte, als sich ihre Finger um seine schlossen, auf die Linien und Wirbel, die in seine Haut gebrannt waren, nicht hingegen in ihre. Und beim Anblick ihrer vereinten Hände wurde ihm bewusst, was er bisher gar nicht recht erkannt hatte. Sie beide mochten sich gleichen, doch im Gegensatz zu ihr war er von den Göttern gesegnet. Daran änderte auch dieser entsetzliche Ort nichts.

Sein Herz begann zu pochen, langsam zunächst und dann schneller, je klarer er begriff, was es bedeutete. Und als er wieder zu Atalanta aufsah, trat ein neuer Traum an die Stelle des alten. Nur dass dieser sich nicht warm und sicher anfühlte, sondern gefährlich, elektrisierend und übermächtig. Die Gedanken rumorten in seinem Kopf, explodierten geradezu, bis Max sich überhaupt nicht mehr betäubt fühlte. Jener Teil in ihm, der vor wenigen Momenten von Zorn befeuert wurde, nahm sein gesamtes Sein ein.

»Ja, Matéras«, flüsterte er, blickte wieder zu der Metallscheibe und glaubte zum ersten Mal in seinem jungen Leben, dass sie die Wahrheit sagte. Bei ihr konnte er alles haben, was er wollte. Und durch sie könnte er die Welt beherrschen.

Ihr Lächeln wurde noch strahlender, obwohl sie nicht ahnte, was in ihm vorging. Doch eines Tages würde sie es wissen.

An dem Tag, an dem sie bereuen würde, was sie geschaffen hatte.

Callia saß auf dem Stuhl hinter ihrem Schreibtisch im Büro der Klinik und sah hinaus zu den verblassenden Aegis-Bergen in der Ferne. Argoleanische Jahreszeiten verliefen im gleichen Rhythmus wie die in der Menschenwelt, und nun war Spätherbst. Heute hingen tiefe Wolken über dem Tal, in dem die Stadt Tiyrns lag. Sie verschleierten Callia den Ausblick auf violette Turmspitzen und schneebedeckte Hügel – oft das Einzige, was ihr ein Gefühl von Frieden bescheren konnte.

Einer alten Sage nach hatten die Götter vor langer Zeit etwas Wertvolles in den Bergen versteckt, als sie ihrem Volk Argolea schenkten. Etwas, das sie keinem von ihnen überlassen wollten, weil sie fürchteten, ein Einzelner könnte es zum Schaden aller nutzen. Callia hatte die Geschichte schon Hunderte Male gehört und häufig, wenn sie zu den Bergen sah, überlegt, was es wohl sein mochte. Heute hingegen war die alte Sage nur ein flüchtiger Gedanke. Etwas von großem Wert? Sie hatte schon alles verloren, was ihr wirklich teuer gewesen war. Und jetzt hatte sie auch Zander verloren, obgleich ihr gar nicht bewusst gewesen war, dass ihm immer noch ein Teil ihres Herzens gehörte.

Es klopfte an der Tür, bevor eine vertraute Stimme rief: »Callia?«

Ihr Vater, Lord Simon, zweithöchstes Mitglied des Ältestenrates, steckte den Kopf zur Tür herein. »Störe ich?«

Sie verneinte stumm und drehte sich mit ihrem Stuhl zu ihm. An jedem anderen Tag hätte sie sich wenig über seinen Besuch gefreut, aber heute war kein gewöhnlicher Tag und sie für alles dankbar, was sie von Zander ablenkte. »Nein, ich dachte gerade über einen Fall nach. Was tust du hier? Ich dachte, du wärst mit Ratsangelegenheiten beschäftigt.«

»Bin ich«, sagte er und kam herein. Er trug eine maßgeschneiderte Tuchhose und ein traditionelles argoleanisches Hemd, das bis zum Hals zugeknöpft war und dessen langer Kragen von einer Seite wie ein Schal über die andere Schulter drapiert war. Lord Simon war beinahe vierhundert Jahre alt, sah jedoch keinen Tag älter als vierzig aus. Groß und athletisch von Gestalt, mit schwarzem Haar und grünen Augen, hatte Callia ihn immer für gut aussehend gehalten und stellte sich gern vor, dass ihre Mutter es ebenfalls tat. Es war ein angenehmerer Gedanke als der, sie hätte ihn nur aus Zwang geheiratet.

Innerlich schüttelte sie den Kopf, als sie ihn ansah. Argoleaner waren konservativ, was ihre Art anging, und dennoch relativ modern. Die meisten Halbblute – oder Misos – glaubten, Argoleaner würden in griechischen Togen und mit Weinranken im Haar herumlaufen; sie hatten keine Ahnung, wie sehr sich ihre beiden Welten ähnelten.

»Ich habe mir eine Pause genommen, um dir eine Überraschung zu bringen«, erklärte ihr Vater. »Ich dachte mir, du kannst eine gebrauchen, so viel wie du in letzter Zeit arbeitest.« An der Art, wie er das Wort arbeitest aussprach, war sein Missmut deutlich zu erkennen, was Callia wie immer überging.

Als er zur Tür blickte, tat sie es ebenfalls. Was hatte er vor?

Sekunden später erschien ein weiteres Gesicht, nur leider eines, das sie ausgerechnet heute nicht sehen wollte.

Loukas lächelte, dass seine weißen Zähne im sonnengebräunten Gesicht leuchteten, und schritt ins Büro, als wäre es seines. »Überraschung, Callie!«

Callia erhob sich langsam und ein bisschen steif von ihrem Stuhl, bemüht, ihren Widerwillen für sich zu behalten. Sie hasste die Dreistigkeit, mit der er sie Callie nannte, als gefiele ihm ihr richtiger Name nicht, weshalb er ihr einfach einen anderen gab. »Loukas, was machst du denn hier?«

Seine Bernsteinaugen musterten sie kritisch, denn ihn störte es, dass sie Hosen trug. Eine sandfarbene Locke fiel ihm in die Stirn. Loukas war kein unattraktiver Mann, mittelgroß, recht gut gebaut und mit kantigen Zügen; dennoch ließ er Callia physisch wie emotional vollkommen kalt, was insofern ungünstig war, als sie diesem Ándras versprochen war.

Er war ebenso konservativ gekleidet wie ihr Vater, hatte gleichfalls ein Chison an, was nicht weiter verwunderte. Schließlich sollte er bald Lord Loukas sein, das jüngste gewählte Mitglied des Rates. »Ich bin hier, um dich zum Essen einzuladen, heute Abend. Deine Reinigungsperiode ist beinahe um. Ich …« Ihr Vater räusperte sich, worauf Loukas zu ihm sah. »Wir dachten, es wäre eine hübsche Abwechslung für dich.«

Callia konnte nichts sagen. Waren die zehn Jahre tatsächlich schon um? Im Geiste rechnete sie nach und musste zu ihrem Elend feststellen, dass sie es im nächsten Monat wären. Ihr Magen zog sich zusammen. »Ich …«, begann sie und blickte rasch zu ihrem Vater, dann wieder zu Loukas. »Ich habe noch ein paar Wochen, denke ich.«

»Wissen wir«, sagte ihr Vater. »Aber es ist lange genug her.« Er nickte mit einem stolzen Lächeln zu Loukas. »Und Loukas konnte dem Ratsvorsitzenden seine Zustimmung entlocken, vorausgesetzt, dass eure Bindungszeremonie nicht vor Ablauf der vollen Reinigungsperiode vollzogen wird.«

Callia wurde übel, als sie Loukas’ selbstzufriedenes Grinsen bemerkte. Nach dem, was vor Jahren geschah, war er zu Recht wütend auf sie gewesen, hatte während der Reinigungszeremonie und in der Zeit danach kaum eine Handvoll Wörter mit ihr gewechselt. Und insgeheim hatte Callia gehofft, dass er sich eine andere Gynaíka wählen würde. Aber das hatte er offensichtlich nicht, denn nun stand er hier und verlangte seinen Preis. Callia war für ihn nichts als eine Trophäe, genau so, wie es der Rat von argoleanischen Frauen erwartete. Sie war dem Gesetz nach sein, nicht verdientermaßen.

»Also heute Abend zum Essen, Callie«, sagte er, denn für ihn war es offenbar entschieden. »Sieben Uhr bei mir. Wir haben eine Menge zu besprechen, Pläne zu schmieden.« Er blickte sich angewidert in ihrem Büro um. »Ich bin sicher, dass du ebenso darauf brennst wie ich, unsere gemeinsame Zukunft zu beginnen. Also sei pünktlich.«

Er wartete nicht einmal ihre Antwort ab, sondern ging einfach. Und das kleine bisschen Unabhängigkeit, das sie sich in den letzten zehn Jahren erkämpfen konnte, schien mit ihm zu verschwinden.

»Lucian freut sich sehr auf eure baldige Vermählung«, erzählte ihr Vater begeistert, als Callia zurück auf ihren Stuhl sank und versuchte, trotz allem weiterzuatmen. »Er plant eine große Feier.« Simon blickte zur noch offenen Tür und in den Korridor. »Unter uns, ich denke, Lucian wird kurz nach dem Fest seinen Rücktritt verkünden und Loukas zu seinem Nachfolger ernennen. Loukas steckt voller großer Ideen, und wollte ich dir erzählen, wie sehr sie unserem Volk zugutekämen, könnte ich gar nicht wieder aufhören.«

Callia drehte sich der Magen um. Ja, Loukas’ gute Ideen waren ihr leider bekannt. Unter anderem sahen sie vor, dass Frauen wieder ins finstere Mittelalter zurückgeworfen wurden, jede Unabhängigkeit verloren, ihre Jobs aufgaben und ausschließlich dem Ándras dienten, der ihr Vormund war, und Nachkommen für ihre Art produzierten.

»Callia? Stimmt etwas nicht?«

»Nein, nichts, ich …«

Wehr dich. Beweise ihm, dass er im Unrecht ist, dass sie es alle sind. Ihre Worte gegenüber Isadora fielen ihr wieder ein, und ein unangenehmes Pochen hob in ihren Schläfen an. Götter, sie hatte Isadora geraten, sich gegen den König aufzulehnen? Was für ein Witz! Sie selbst schaffte es ja nicht mal, ihrem Vater zu widersprechen.

Die Augen geschlossen, stützte sie beide Ellbogen auf ihren Schreibtisch und rieb sich die Stirn. Sie wollte sich nicht an Loukas binden, an überhaupt niemanden. Der Einzige, den sie jemals gewollt hatte, wollte sie nicht. Und der Gedanke daran, mit Loukas intim zu sein … Oh Götter, das konnte sie nicht!

Sie nahm die Hände herunter, blickte zu ihrem Vater auf und wollte ihm genau das sagen. Aber sie brachte es nicht über die Lippen.

Wie viel hatte er schon mitansehen müssen, und wie viel mehr erwartete ihn noch? Der Tod ihrer Mutter hatte eine Leere in sein Leben gerissen, die er bis heute nicht wieder gefüllt hatte. Und an Callias Affäre mit Zander – sowie allem, was danach kam – wäre er beinahe zerbrochen. Er hatte für sie seinen Ruf im Rat aufs Spiel gesetzt, ihren gebrochenen Leib umhegt, als es niemand sonst wollte. Er hatte dafür gesorgt, dass sie nicht auf jenem griechischen Hügel starb. Und als es vorbei war, als es nichts mehr gab, wofür sie noch leben wollte, hatte er es möglich gemacht, dass sie nach Argolea zurückkehren durfte. Hier war sie geschützt vor den Dämonen in der Menschenwelt, konnte ihrer geliebten Arbeit in der Klinik nachgehen, was ihrem Leben wenigstens einen Anflug von Sinn verlieh.

Er hätte sich von ihr abwenden können, so wie es alle anderen, einschließlich Loukas, taten. Doch er war bei ihr geblieben, und deshalb blieb sie letztlich die ganzen Jahre bei ihm.

Ein wahrer Anführer stellt seine persönlichen Bedürfnisse zugunsten des Gemeinwohls zurück. Und er bringt Opfer, die am Ende alles rechtfertigen, was vorher kam.

Die Worte des Königs ergaben in diesem Moment einen neuen Sinn, so wenig es ihr auch behagte.

»Callia?«, fragte ihr Vater wieder. »Was ist geschehen? Du sahst bedrückt aus, als ich hereinkam. Warst du in der Burg?«

Sie nickte, denn wenigstens in diesem Punkt wollte und konnte sie ihn nicht belügen. »Ja. Der König berief eine Versammlung ein, als ich dort war. Er …«

»Was?«

Sie zögerte, weil sie nicht sicher war, ob sie es ihm erzählen sollte. Aber warum nicht? Er würde es ohnehin bald erfahren. »Er hat die Verlobung der Prinzessin bekanntgegeben.«

Prompt verfinsterte sich die Miene ihres Vaters. »Mit einem anderen Argonauten?«, fragte er angeekelt. »Welcher ist es diesmal? Demetrius?«

Kopfschüttelnd blickte sie auf ihre Hände. »Nein. Isadora heiratet … Zander.«

Erst auf sein Schweigen hin sah sie erneut zu ihm auf. Selbst im Dämmerlicht des frühen Abends war ihm deutlich anzusehen, wie überrascht er war.

»Verstehe«, sagte er schließlich.

Callia hatte plötzlich einen Kloß im Hals, der nicht weggehen wollte, egal wie angestrengt sie schluckte. »Ich dachte, die Nachricht würde dich freuen.«

Ihr Vater nahm ihre Hände und zog Callia von ihrem Stuhl. Wärme strömte ihre Arme hinauf, und der vertraute Sandelduft wehte ihr entgegen. »Nichts, was dir Schmerz bereitet, freut mich, Callia. Anders als du vielleicht denkst, war mein größter Einwand gegen die Beziehung zu Zander nicht der, dass er ein Argonaut war, sondern dass er dich benutzt hat.«

Sie blinzelte, als er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr strich, denn es erschreckte sie, dass er nach all den Jahren mit ihr über Zander sprach, fast noch mehr als der Umstand, dass er sie berührte. Sie entsann sich nicht, wann er sie das letzte Mal angefasst hatte. Nicht … seit Griechenland.

»Du willst es wahrscheinlich nicht hören, aber die Argonauten tun alles, um die Arbeit des Rates zu sabotieren, und du, meine Tochter, warst ein Mittel zu genau diesem Zweck.«

»Das stimmt nicht. Zander würde nie …«

»Er würde und er hat. Ich hege nicht den geringsten Zweifel, dass er dich aus diesem Grunde verführte. Und es hat funktioniert, nicht wahr? Deine, nun ja, Situation lenkte von wichtigen gesellschaftlichen Problemen ab, mit denen sich der Rat seinerzeit befasste. Wir brauchten Jahre, um den Rückschlag wettzumachen, den uns jener Skandal einbrachte.«

Der König hatte es gewusst? Callia merkte, wie sie blass wurde. Ihr gegenüber hatte er kein Wort darüber verloren. Die ganzen Jahre hatte sie geglaubt, ihre Geschichte mit Zander wäre kaum jemandem bekannt.

»Ungeachtet dessen«, fuhr ihr Vater ein klein wenig sanfter fort, »selbst wenn Zanders Absichten ehrenhaft gewesen wären, was sie nicht waren, hätte er dich nie wirklich achten können, wie es dir gebührt, entspringt er doch einem gänzlich anderen Hintergrund. Es liegt schlicht nicht in seiner Natur, Frauen oder die Familie zu würdigen. Seine eigenen Eltern wollten ihn ja nicht einmal. Er kennt nichts anderes als das Kämpfen, und keiner kann etwas gegen seine Blutlinie tun, Callia. Seine ist zu mächtig, seine Verbindung zu den Göttern zu eng. Er hat dich nie gebraucht. Und ich wollte nicht, dass du dem Zorn zum Opfer fällst, der seinesgleichen im Blut liegt. Ich nehme an, dass er für Isadora eine gute Partie ist, nicht aber für dich. Für dich wünsche ich mir mehr.«

Tränen brannten in Callias Augen, die sie heute wahrlich nicht noch zusätzlich zu allem anderen brauchte. Warum musste er so verflucht vernünftig klingen, wo doch das, was er sich wünschte, grundfalsch war?

»Loukas«, sagte er, »versteht, woher du kommst. Er kennt unsere Geschichte und will, dass Argolea wieder wie einst wird. Er wird dich auf die Weise ehren, die dir zukommt. Diese Verbindung mit Loukas ist gut für dich, gut für uns, das weißt du doch, nicht?«

Während ihr Vater wartete, begannen die Narben an ihrem Rücken zu kribbeln. Zumeist dachte Callia gar nicht mehr an sie, war der Schmerz doch mit der Erinnerung verblasst. Aber jetzt kehrte alles zurück, woher sie waren und wofür sie standen.

Opfer bringen. Darauf lief das Leben letztlich hinaus. Nicht Glück, nicht Erfüllung, nicht Liebe. Das Leben ging weiter, weil manche bereit waren, ihre Wünsche und Bedürfnisse zum Wohle der anderen zu opfern.

Ich bin keine Anführerin, Majestät.

Noch nicht, aber vielleicht eines Tages …

Bei dem Gedanken daran, was hinter ihr und was noch vor ihr lag, wummerte ihr Herz in der Brust. Nein, sie wollte sich nicht an Loukas binden, aber womöglich hatte der König recht. In dieser Ehe eröffnete sich ihr eventuell die Chance, etwas für die Frauen in ihrer Welt zu tun. Oder zumindest zu verhindern, dass Loukas sie so unterdrückte, wie er es vorhatte.

Sie blickte zu ihrem Vater auf und wusste, dass sie das Richtige tat, auch wenn es ihr das Herz brach. »Mir ist klar, was geschehen muss.«

Bei Simons Lächeln, das nicht minder siegesbewusst war als Loukas’, wurde ihr eiskalt. Er umfing ihre Oberarme und drückte sie sanft. »Sehr gut. Du wirst sehen, Callia, dass für dich ein völlig neues Leben beginnt. Sowie deine Reinigung abgeschlossen ist, gibt es keinen Grund, jemals wieder an die Vergangenheit zu denken.«

Der Singsang seiner Worte schien noch in der Luft zu hängen, als er sich bereits verabschiedet hatte. Sobald sie allein war, drehte Callia sich wieder zum Fenster. Die Berge waren nun ganz hinter den Wolken versteckt.

Etwas von großem Wert. Die Sage ging ihr durch den Kopf. Die Vergangenheit, die ihr Vater so gern vergessen wollte, war das einzig Wertvolle, das ihr geblieben war. Sie und die Erinnerung an eine Liebe, die sie einst gekannt, und das Kind, das sie nicht gehabt hatte. Sie konnte eine Menge opfern, sich selbst inbegriffen, aber niemals diese Erinnerungen. Und weder ihr Vater noch Loukas noch die Tatsache, dass Zander eine andere heiratete, könnte sie je dazu bringen.

»Heilige, beknackte Hera!«, hauchte Titus, als er mit Zander inmitten der vormaligen Siedlung hoch in den Bergen stand und sich das Ausmaß der Zerstörung ansah.

Ein Feldweg führte zu dem abgelegenen Dorf, und durch die Bäume waren keine Wagen oder sonstigen Fahrzeuge zu hören. Um sie herum lagen überall Tote; aber das waren nicht nur Misos. Es waren auch Menschen darunter, halb aufgefressen oder verstümmelt.

»Verdammt«, sagte Zander angesichts der verwesenden Körper und des blutgetränkten Bodens. Der Gestank des Todes war überwältigend. Dies hier war schlimmer als alles, was er in den letzten achthundert Jahren gesehen hatte.

Atalantas Zorn wuchs – und Unschuldige bezahlten ihn mit ihrem Leben. Als sie noch in der Unterwelt gefangen war, hatten ihre Dämonen Misos gejagt, um deren Seelen als Bezahlung für Atalantas Unsterblichkeit an Hades zu schicken. Aber dank Casey und Isadora war Atalanta nicht mehr unsterblich. Nun war sie entschlossen, so viel Leiden zu schaffen, wie sie irgend konnte, um sich an den Argonauten zu rächen. Und das nur, weil sie vor Jahrtausenden aus der Gruppe verbannt wurde.

Zander glaubte, dass es sich bei dem Körper unweit von ihm ehedem um eine menschliche Frau gehandelt hatte, von der allerdings nichts als zerfetztes Fleisch und halbausgerissene Organe übrig waren. Ihm wurde übel. Die Dämonen töteten auch, um zu fressen. Theron hatte sie gewarnt, dass sie aggressiver würden, ihre Jagd von den Misos auf die Menschen ausdehnten, weil sie keine Kraft mehr aus der Unterwelt schöpfen konnten.

Erst jetzt, beim Anblick der entsetzlichen Verwüstung, begriff Zander richtig, was er gemeint hatte. Dieser Krieg hatte sich verändert. Jahrhundertelang hatte er gedacht, er würde über die Erde streifen, um Menschen zu schützen. Nun tat er es wirklich.

Am anderen Ende des blutigen Schlachtfeldes erkannte er Theron im Gespräch mit einem Mann, der genauso groß war wie der Argonaut. Er schwenkte die Hände und wies zum Waldrand. Es war Nick, wie Zander feststellte, als Titus und er näher kamen, der Anführer der Halbblutkolonie in dieser Gegend. Zander war Nick schon zuvor begegnet, vor einer Woche, als er mit Titus in den Nordwesten geschickt wurde, um die Bergregion zu überprüfen. Bisher hatte er zwar nur wenig mit Nick zu tun gehabt, aber manches an dem Mann machte ihn stutzig.

Da war zum einen seine Größe. Er überragte alle anderen Halbblute und war sehr viel aggressiver als sie. Man sah ihn niemals ohne fingerlose Handschuhe, und er hatte eine lange Narbe auf der linken Wange, die bis zu seinem Mundwinkel reichte. Der gezackte Riss stammte nicht von einer Klaue oder den Klingen, die Dämonen benutzten. Etwas anderes musste das Wundmal verursacht haben, eine Waffe, die Zander nicht kannte.

Und das war nicht das Seltsamste an Nick. Irgendwie schrie seine Erscheinung förmlich, dass er menschlich und zugleich ein Argonaut war, und das schien nicht einmal Theron erklären zu können. Noch dazu war eine solche Kombination undenkbar, was die Sache umso verrückter machte.

Theron winkte Zander und Titus zu, während Nick sie nicht zur Kenntnis nahm, sondern eine Karte auf einem langen Holzstück ausbreitete, das wie eine Tür auf zwei Sägeböcken aussah. Die erstickten Schreie von Misos auf der Suche nach Überlebenden trieben durch die Luft. »Es gibt einen Weg, der hier durch die Berge führt. Auf der anderen Seite liegt eine Schlucht, durch die unten ein Fluss verläuft. Aber in dieser Jahreszeit und bei dem Regen, den wir die letzten Wochen hatten, können sie den unmöglich überqueren.«

Theron überflog die Karte und wies auf einen Punkt weiter flussabwärts. »Was ist auf der anderen Seite?«

»Noch ein Bergkamm. In den Bergen befindet sich allerdings ein Höhlensystem, das sich über Meilen erstreckt.«

»Sie werden sich dort verstecken wollen«, murmelte Theron. »Was ist mit dieser Brücke? Ist die passierbar?«

»Ja«, antwortete Nick, der sich mit einer Hand über sein stoppeliges Haar strich. »Zumindest war sie es, als ich das letzte Mal da oben war. Dahin ist es aber ein ziemlich weiter Marsch, bedenkt man, dass wir über Frauen und Kinder reden. Und im besten Zustand war die Brücke auch nicht.« Im Gegensatz zu Theron trug Nick gar keine wärmende Kleidung. Er hatte nichts an außer einer schmierigen Jeans, einem langärmligen T-Shirt und Arbeitstiefeln. Dennoch schien er die Kälte nicht wahrzunehmen, als er aufblickte und zu den Überresten des Dorfes schaute. Anscheinend war er von Endorphinen aufgeputscht, dass er nicht fror. An seinen Hüften hingen zwei halbautomatische Pistolen sowie eine Auswahl unterschiedlicher Klingen.

Immerhin war das Halbblut vorbereitet.

»Ich habe Männer, die zusammen mit deinen Wächtern die Hügel absuchen, falls sie sich in der Nähe verstecken«, sagte Nick. »Die Chancen stehen gut, dass wir …«

»Hier sind sie nicht«, fiel Theron ihm ins Wort, ohne den Blick von der Karte abzuwenden. Er wies auf die Brücke über die Schlucht. »Sie wollen hierhin, weil sie das für den besten Fluchtweg halten. Und die Schweinehunde treiben sie vor sich her.«

»Demetrius!«, rief Theron den Argonauten herbei, der am anderen Ende der Siedlung stand und etwas auf dem Boden inspizierte. Als Demetrius zu ihnen kam, wandte Nick sich von der ausgebreiteten Karte ab, sagte etwas zu Theron und schritt zu einer Gruppe wütender Misos, die in einem Trümmerhaufen wühlten. Mit keinem Wort dankte er Zander oder Titus, dass sie ihnen zu Hilfe gekommen waren, nahm nicht einmal deren Anwesenheit zur Kenntnis. Und Demetrius würdigte er keines Blickes.

Es war ziemlich offensichtlich, dass Nick die Argonauten nur gerufen hatte, weil ihm keine andere Wahl blieb; vielen der Misos schien es ebenso wenig zu gefallen. Und dennoch …

Zander konzentrierte sich wieder auf die Karte, als Demetrius bei ihnen war.

»Ihr drei geht zu dieser Schlucht«, sagte Theron. »Die Dämonen haben vier bis fünf Stunden Vorsprung, also müsst ihr euch beeilen. Die Gruppe, die vermisst wird, besteht aus sechs Frauen und vierzehn Kindern zwischen zwei Monaten und zehn Jahren.«

»Verdammt«, sagte Titus. »Die werden abgeschlachtet.«

Nicht wenn Zander es irgend verhindern konnte. Egal wie manche hier im Dorf über die Argonauten dachten. Sein Blut pulsierte schneller, als er Therons Anweisungen für seinen vorerst wohl letzten Auftrag lauschte.

»Seid vorsichtig«, riet Theron ihnen. »Wir müssen ein paar der Dämonen lebend schnappen, damit wir herauskriegen, wie und warum dieses Dorf überfallen wurde und was Atalanta als Nächstes plant.« Er reichte jedem von ihnen ein Satellitentelefon. »Die sind auf die Kolonie programmiert. Sobald ihr Überlebende findet, meldet euch, und ich schicke jemanden, der sie holt.«

Als sie ihre Telefone einsteckten, sah Theron erst Demetrius und Titus an und nickte dann zu Zander. »Und lasst ihn ja nicht draufgehen. Vor allem jetzt nicht.«

»Ich brauche keinen Leibwächter«, knurrte Zander.

»Tja, Pech«, konterte Theron. »Du hast trotzdem zwei.«

Titus schnalzte vergnügt, als Theron die Karte aufrollte. »Ich pass auf den Jungen auf, Pa, keine Bange. Wir treten ein paar Dämonen in den Hintern und bringen ihn rechtzeitig zur Kappelle. Garantiert.«

»Ach, was für ein Witzbold«, raunte Zander.

»Haltet euch an die Anweisungen«, sagte Theron, dessen strenger Tonfall sie erinnern sollte, dass dies hier kein Spaß war. »Habt ihr alles?«

Die drei nickten.

»Gut. Und nun geht, geleitet von der Kraft der gesegneten Helden.«

Sie drehten sich um und marschierten gen Wald, als Therons Stimme sie noch einmal aufhielt. »Wächter!«, rief er laut und klar, was Zander verriet, dass das Nachfolgende nicht ausschließlich für ihre Ohren bestimmt war. Mehrere Köpfe wandten sich in seine Richtung: Misos, Argoleaner und Menschen, die alle gemeinsam arbeiteten, ganz gleich wie sie übereinander dachten. Sogar Nick unterbrach, was er gerade tat, und sah auf. »Die Argonauten sind die letzte Hoffnung dieser Leute. Im Moment die letzte Hoffnung dieser Welt, ob sie es glauben oder nicht. Ihr werdet dringender gebraucht, als irgendjemand wissen kann. Es darf keiner von euch fallen.«

Theron begab sich wieder ins Getümmel, und das, fand Zander, als er seinem Freund nachblickte, war der Maßstab, an dem sich jeder Anführer messen lassen sollte. Theron wusste nicht bloß, wie man Stellung bezog; er hatte auch ein Gespür dafür, wann und wie man anderen seine Position deutlich machen musste. Vielleicht wollte er nicht immer führen, aber er drückte sich nicht, vor nichts. Nicht einmal vor seinem Schicksal.

»Komm schon, Z.«, sagte Titus. Seine Augen funkelten vor Vorfreude. »Jagen wir ein paar Dämonen.«

Neben ihm grummelte Demetrius zustimmend.

Zander folgte seinen Gefährten tiefer in den Wald und dachte, dass er sich seinem Schicksal ebenso wenig entziehen würde. Es war wie ein leuchtender Pfad vor ihm ausgelegt. Das Einzige, was noch zu tun blieb, war, den Boden mit Blut von Dämonen zu tränken, die dringend auf immer zu Tartarus geschickt werden mussten.