Dreizehntes Kapitel

Zander stützte sich auf Hände und Knie und holte tief Luft. Okay, diesmal war er ziemlich sicher, dass er es schaffte, ohne …

Nein. Wieder nicht.

Alles wirbelte um ihn herum, als hätte er ein Riesenbesäufnis hinter sich. Was, zur Hölle, hatte sie mit ihm gemacht? Sie war eine Heilerin, verflucht nochmal!

Schwere Schritte donnerten durch den langen Tunnel, und für eine Sekunde hielt Zander den Atem an, blies ihn aber gleich aus, als er erkannte, wer da kam.

Titus.

Den Argonauten erkannte er auf Anhieb. Sie waren schon oft genug auf der Jagd nach Dämonen durch die Lande gestreift, dass Zander den Gefährten schon an seinem Stampfen von allen anderen unterscheiden konnte. Der Geruch von Kiefern und frischem Blut waberte ihm entgegen, dann hörte er Titus’ heißeren Atem.

»Callia? Ich bin wieder da!«

Zander hockte sich auf seine Fersen, ließ aber den Kopf gesenkt. Mann, wenn er sie wiedersah …

»Z.«, sagte Titus überrascht, als er in die Höhle kam. »Du bist auf.«

Zander blickte starr auf die Felsen vor ihm und wünschte, er hätte nicht solche verdammten Kopfschmerzen.

Titus lachte. »Ich hätte gedacht, du wärst inzwischen wieder halbwegs auf den Beinen. Mann, du siehst echt nicht gut aus.«

»Alles bestens.«

»Ja, das sehe ich.« Wieder lachte Titus. »Übrigens bist du splitternackt.«

Zander überlegte, Titus einen Vogel zu zeigen, aber das würde zu viel Kraft kosten.

Titus’ Füße tauchten auf dem Felsen rechts von ihm auf. »Wo ist Callia?«

»Weg.«

»Weg? Wohin?«

»Weg eben.«

»Wie? Was ist hier passiert?«

»Nichts.« Zander richtete sich auf, angetrieben von seiner Verärgerung. Allerdings hatte er einen unschönen Oh Mist-Moment, als sich alles um ihn herum drehte und er sich mit einer Hand an der Felswand abstützen musste. »Das geht dich verdammt nochmal nichts an.«

»Sag mir wenigstens, dass du sie nach Hause geschickt hast.« Titus bekam keine Antwort. »Zander, sag mir, dass du verflucht nochmal das Portal geöffnet und sie nach Argolea zurückgeschickt hast.«

»Hätte ich vielleicht«, murmelte er. »Aber dazu kam ich nicht.«

»Oh, leck mich!«, Titus atmete schwer. »Du hast sie mitten in der Nacht hier rausmarschieren lassen?« Er wies zum dunklen Tunnelgang. »Da draußen herrschen fast zehn Grad unter null, und es schneit. Ganz zu schweigen von den Dämonen, die sich in dieser Gegend rumtreiben. Du weißt, dass sie geweihten Boden finden muss, um sich selbst ein Portal zu öffnen. Sie ist kein Argonaut, der überall ein Portal aufmachen kann. Und wir sind auf einem beknackten Berg!«

»Warte.« Eine Hand an den Fels gelehnt, hob Zander den Kopf. »Du und Demetrius habt die übrigen Dämonen nicht erledigt?«

Titus fuhr sich mit den Fingern durch seine dunklen Locken, merklich gereizt. »Bis ich Demetrius fand, war er schon so blutig geschlagen, dass er kaum noch sein Parazonium anheben konnte. Die beiden Mistkerle, gegen die er kämpfte, sahen nicht besser aus, und als sie mich bemerkten, sind sie abgehauen. Ich habe Demetrius nach Hause gebracht und bin gleich wieder her, um dich und Callia zu holen. Aber diese zwei Dämonen sind garantiert nicht weit.«

Skata. Sein Adrenalinschub war günstig, denn nun sah er seine Umgebung zum ersten Mal, seit er zu sich kam und Callia über sich gebeugt vorfand, klar vor sich. Er erblickte frische Kleidung, die Titus mitgebracht haben musste, als er Callia herholte, und bückte sich, um die Hose anzuziehen. »Sie kann nicht weit gekommen sein.«

Wie lange war sie fort? Zehn Minuten? Fünfzehn? Panik zehrte an ihm. Warum hatte er sie weglaufen lassen?

»Was zum Geier hast du zu ihr gesagt, Zander?« Titus prüfte seine Klinge und schob sie wieder in die Scheide.

»Nichts.« Er streifte sich sein Hemd über, hockte sich auf den Boden und zog die sauberen Stiefel an. Derweil ging ihm sein Wortwechsel mit Callia durch den Kopf.

»Schande«, flüsterte Titus. »Du dämlicher Schweinehund.«

Zander schwieg und schnürte seine Stiefel zu. Wut stieg in ihm auf; Wut, weil Titus sich auf einmal als Callias Beschützer aufspielte, und Wut auf Callia, die ihn eiskalt belog, bevor sie einfach wegrannte. Wie konnte sie bei so etwas Wichtigem lügen? Aber nein, daran durfte er nicht denken. Er musste die Beherrschung wahren. Egal was sie getan hatte, er wollte nicht, dass sie starb. Und er brauchte Titus’ Hilfe, wenn er sie finden wollte, ehe sie sich in ernste Schwierigkeiten brachte.

Er stand wieder auf, warf sich seine Jacke über und hob seine blutige Waffe vom Boden auf. »Gehen wir sie suchen, in Ordnung?«

Zander scherte sich nicht um die Sachen, die noch von ihnen in der Höhle waren, und steuerte im Laufschritt auf den Tunnelgang zu. Weiter vorn erhellte Mondlicht den Höhlenausgang, so dass man schon von Weitem die Schneeflocken sah, die in einem Meer von Weiß herabschwebten. Mindestens fünf Zentimeter Neuschnee waren gefallen, und es zeichneten sich Spuren im Schnee ab. Die Stiefelabdrücke kurz vor der Höhle mussten von Titus sein, der hier aus seinem Portal gekommen war; aber es gab auch kleinere Abdrücke, die sich bereits mit frischem Schnee füllten.

»Da«, sagte Zander und wies auf die schwächer werdenden Spuren, die von der Höhle wegführten.

Titus hockte sich hin und betrachtete die Spuren. »Sie ist gelaufen.«

Zander runzelte die Stirn. Ja, klar, und ob, Sherlock! Sie wollte schnellstmöglich weit von ihm weg. Er rieb sich die Schläfe, denn ihm brummte noch die Energie im Schädel, mit der sie ihn so mühelos ausgeschaltet hatte.

Titus stemmte sich wieder hoch. »Sie kann nicht weit vor uns sein. Ich schätze, wir holen sie bald ein.«

Ihre Spuren waren gut zu erkennen, bis der Schnee zunahm und der Wald zu einem einzigen weißen Dickicht wurde. Sie folgten den Abdrücken eine gute Meile durch die Bäume, dann waren keine mehr zu erkennen. Zander blieb stehen und blickte sich in alle Richtungen um, während dicke weiße Flocken auf ihn herabfielen, in seinem Haar, den Wimpern und den Bartstoppeln hängen blieben. Verdammt, wo war Demetrius, wenn sie ihn brauchten? »Hier ist nichts.«

Titus suchte den unheimlichen dunklen Wald ab. In seinem Bart hatten sich weiße Eiskristalle gebildet. Blinzelnd wies er zwischen die Bäume. »Dort. Ein Licht.«

Zander hielt sich eine Hand schützend über die Augen. »Was ist das? Ein Feuer?«

»Irgendein Haus. Hier gibt es sonst nichts, wo man sich verstecken kann, und im Gegensatz zu deiner offenkundigen Meinung von ihr, ist sie nicht blöd. Sie würde nicht im Freien bleiben, egal wie sauer sie auf dich ist.«

Zander ignorierte die Spitze und lief los. Er schaffte es ungefähr fünfzig Meter weit, dann explodierte der Schmerz hinter seinen Augen und brachte seinen Schädel fast zum Bersten. Nur war er jetzt hundert Mal schlimmer als das, was Callia ihm entgegengeschleudert hatte.

»Verfluchte Sch…« Er griff nach einem Baumstamm, schwankte bedenklich, fing sich jedoch ab.

»Was hast du denn?«, fragte Titus, der zu ihm kam.

Zander presste die Finger an seine Schläfen und lehnte sich mit der Schulter an eine Douglasie. »Keine Ahnung.« Ein neuer Schmerzschwall blühte hinter seinen Augen auf. »So ein Mist.«

»Ist es dein Rücken?«

»Nein.« Er verzog das Gesicht, weil ihm ein weiterer Stich durch den Schädel fuhr. »Es ist mein verfluchter … Kopf.«

»Wann hast du dir den Kopf gestoßen?«

»Gar nicht.« Er beugte sich vor, in der Hoffnung, dass die Schwerkraft das Pochen linderte. »Was hat sie mir gegeben?«

»Nichts, das dir auf die Birne schlagen könnte. Mann, Zander, achthundert Jahre lang holst du dir kaum einen Kratzer, und jetzt zerlegt es dich innerhalb von zwei Tagen. Du wirst wohl doch alt, Knallkopf.«

Das konnte es nicht sein. Es musste etwas anderes sein, nur wusste Zander nicht, was.

»Komm schon, alter Zausel«, sagte Titus und zog an Zanders Ärmel. »Wir müssen Callia finden. Und dann kann sie sich deinen erbärmlichen Schädel angucken.«

»Den schlägt sie mir sicher ein«, murmelte Zander. Trotzdem ließ er sich von Titus mitziehen und versuchte, nicht daran zu denken, was geschehen könnte, wenn sie Callia fanden. Er konzentrierte sich lieber darauf, sie rechtzeitig einzuholen.

Angst würgte den Schrei in Callias Kehle ab, als sie durch die Luft geschleudert wurde. Sie knallte gegen die hintere Hüttenwand und sank zu Boden. Dabei schlug sie sich schmerzhaft die Stirn an und fühlte ein Stechen hinter ihren Augen. Benommen wollte sie aufstehen, aber alles drehte sich, und sie sah lauter blinkende Sterne.

»Du machst es mir zu leicht, Prinzessin«, knurrte der Dämon hinter ihr. »Steh auf.«

Sie schüttelte den Kopf, rollte auf den Rücken und stützte zittrig die Hände auf. Dann wünschte sie sich, sie hätte sich nicht zu ihm gedreht. Das Monster, das auf sie zukam, war geradewegs einem Albtraum entstiegen. Zwei Meter fünfzehn bebende Muskelmasse. Sein katzenartiges Gesicht passte weder zu den großen Spitzohren noch zu den Ziegenhörnern, die ihm aus der Stirn ragten, oder dem menschlichen Körper. Dafür signalisierten seine Reißzähne unmissverständlich, dass er alles andere als zahm war. In Griechenland war Callia schon einmal einem Dämon begegnet, aber der war nicht annähernd so riesig gewesen wie dieser hier. Und schon gar nicht so angsteinflößend.

Sie rutschte rückwärts, kam nur leider nicht weit, denn hinter ihr war die Wand. Panisch blickte sie sich nach rechts und links um, auf der Suche nach einem Fluchtweg. Die Hütte war klein, schien nur über diesen einen Wohnraum zu verfügen, aus dem ein Durchgang zu etwas abging, das wie eine sehr kleine Küche aussah. Ein Tisch versperrte ihr den Weg dorthin.

Sie wünschte sich inständig, sie könnte einfach mit der Wand verschmelzen oder sich per Gedankenkraft an einen anderen Ort bringen, wie es in Argolea möglich war. Dann fiel ihr Blick auf eine Porzellanscherbe aus einer Schale, die er vorher nach ihr geworfen hatte. Sie hob sie auf und schleuderte sie nach dem Dämon.

»Wie ich sehe, willst du spielen.« Er wehrte die Scherbe ab und stieg über – oh Götter! – einen Haufen blutiger, enthaupteter Körper. Ihr Magen rebellierte. Eilig rappelte sie sich auf und rannte hinter den Holztisch, so dass er eine Barriere zwischen ihr und dem Monster bildete.

Der Dämon lachte hämisch auf. »Stell dir vor, wie ich gestaunt habe, dich ausgerechnet hier anzutreffen.« Ein fieses Grinsen huschte über sein pelziges Gesicht, bei dem seine scharfen Zähne im Schein der Deckenlampe aufblitzten. »Ich schätze, ich bin der glücklichste Erzdämon aller Zeiten.«

Vor lauter Entsetzen fiel es ihr schwer, klar zu denken. Zwei Gedanken schafften es allerdings, sich durchzusetzen. Der erste war, dass diese Bestie sie aus irgendwelchen Gründen für Isadora hielt; und der zweite, dass Erzdämonen angeblich über Kräfte verfügten, die kein anderer Dämon besaß, nur welche die waren, erinnerte sie nicht mehr.

Wenn sie hier nicht rauskam, war sie tot. In der Hoffnung, dass die Hütte eine Hintertür hatte, rannte sie in die Küche. Zwei Schritte waren ihr vergönnt, bevor er sie von hinten packte. Krallen ratschten über ihre Brust und ihren Bauch, dass sie vor Schmerz aufschrie, als er sie in den Wohnraum zurückzerrte.

»Eine Kämpferin, sieh an.« Der Dämon warf sie auf den Tisch, wo sie mit dem Rücken und dem Hinterkopf aufschlug. Doch der Schmerz war nichts verglichen mit dem Feuer in ihrem Oberkörper. Die massige Pranke drückte tonnenschwer auf ihre Brust. »Weißt du eigentlich, Prinzessin, was das Beste daran ist, ein Erzdämon zu sein?«

Mit aller Kraft versuchte sie, sich von ihm wegzurollen, konnte sich aber kaum wenige Zentimeter weit bewegen. Blut sickerte durch ihr T-Shirt, und das Brennen wurde schlimmer.

»Nein?«, antwortete er für sie. »Dann verrate ich es dir.« Er beugte sich so nahe zu ihr, dass sie von seinem stinkenden Atem würgen musste. Sie wollte den Kopf wegdrehen, nur hielt er ihn mit seiner anderen Klaue fest. Ihr blieb nichts anderes übrig, als in seine glühenden grünen Augen zu sehen. »Ich bin nicht impotent wie die anderen Arschlöcher.«

Ihre Angst steigerte sich ins Unermessliche, und sie wehrte sich heftiger. Doch sein scheußliches Lachen hallte um sie herum, während sie einsehen musste, dass sie keine Chance gegen ihn hatte.

»Ach, Prinzessin«, knurrte er. »Das wird ein Spaß!«

»Was hast du da gefunden, Thanatos?«

Callia erstarrte, als sie die scharfe Frauenstimme hörte. Der Dämon lockerte seinen Griff gerade genug, dass sie zur Seite sehen konnte. Eine Frau ganz in Rot stand nahe der Hüttentür. Sie musste aus dem Nichts gekommen sein. Ihr Gewand war elegant über die eine Schulter drapiert und in der Taille eng gegürtet. Der fließende Stoff bauschte sich leicht um ihre Füße. Sie hatte Alabasterhaut, langes schwarzes Haar, das wie Seide schimmerte, und obgleich sie allemal so groß war wie der Dämon, wirkte sie um ein Vielfaches graziler. Ihre Augen hingegen waren ebenso kalt und seelenlos wie seine.

Atalanta.

Trotz der Schmerzen in ihrem Bauch hielt Callia die Luft an. Das Böse, das wahre Böse, wirbelte durch den Raum, als Atalanta sich vorwärtsbewegte.

Der Dämon ließ Callia los, stellte sich neben den Tisch und verneigte sich. »Meine Königin. Ich hatte dich nicht erwartet.«

»Selbstverständlich nicht«, sagte Atalanta. »Deshalb bin ich hier. Warum hast du diese Argoleanerin nicht getötet?«

Die Glühaugen des Dämons wanderten zu Callia und zurück zu Atalanta. »Sie, meine Königin, ist von königlichem Geblüt.«

Atalantas dunkle Augen verengten sich, als sie näherkam, und ein Ausdruck ging über ihre makellosen Züge, der Callia verriet, dass sie wiedererkannt wurde. »Du meine Güte, Thanatos, das ist sie.« Sie musterte Callia von oben bis unten, holte tief Luft und schloss dabei die Augen.

Callia rührte sich nicht. Sie war nicht sicher, was hier vor sich ging, aber sie spürte deutlich, dass zwischen den beiden eine Art Machtkampf ablief. Der Dämon bebte neben ihr, und als sie kurz zu ihm sah, stellte sie fest, dass er die Fäuste ballte und entspannte, was hieß, dass er nicht froh über Atalantas Störung war.

Furcht schnürte Callia die Kehle zu. Sie sah wieder zu Atalanta, deren Augen nach wie vor geschlossen waren, während sie sich konzentrierte. Auf was?

Das war gar nicht gut. Callias sämtliche Muskeln verkrampften sich, als ihr bewusst wurde, dass sich ihre Lage keinen Deut verbessert hatte.

Atalanta öffnete die Augen, und sie blickte den Dämon an. »Gut gemacht, Thanatos.«

Er atmete erleichtert auf und löste die Fäuste.

»Diesmal«, ergänzte Atalanta. Sie nickte zu Callia. »Sie ist nicht bloß königlich. Sie ist die Mutter des Jungen.«

Dem Dämon stand der Mund offen vor Staunen. Er starrte erst Callia, dann Atalanta an. »Die …«

»Nimm sie mit. Falls der Junge nicht gehorcht, kann sie uns nützlich sein.« Atalanta wandte sich zur Tür.

Der Dämon jedoch zögerte, rang sichtlich mit sich, ehe er Callias Arm packte und sie nach oben zog.

Erneut brach Feuer in Callias Bauch aus, und sie schrie auf. Blut floss aus dem tiefen Kratzer auf ihrer Brust und dem Bauch.

Atalanta drehte sich um und beachtete erstmals die blutigen Wunden. Dann sah sie zum Dämon. »Du wolltest sie gar nicht umbringen.«

»Ich …« Der Dämon wechselte die Position, so dass er hinter Callia war. »Sie hat sich gewehrt.«

Atalantas Augen wurden noch eisiger. »Du wolltest sie als Druckmittel benutzen.« Sie kam wieder näher. »Hattest du vor, dir einen Erben zu machen?«

Der Dämon ließ Callias Arm los und trat einen Schritt zurück, beide Hände vor sich in die Luft gestreckt. »Nein, meine Königin. Natürlich nicht. Ich wollte sie zu dir bringen.«

In Callias Kopf schrillten Alarmglocken.

»Lügner!« Atalantas Hand schnellte vor. Rasch duckte Callia sich auf dem Tisch und schirmte ihren Kopf mit beiden Armen ab. Da schoss auch schon ein Energieschwall aus Atalantas Handfläche und traf den Dämon mitten in die Brust. Er flog nach hinten und krachte in den Vorratsschrank an der hinteren Küchenwand. Die Regale zersplitterten und fielen herunter. Töpfe und Pfannen polterten auf den Dämon und den Holzboden um ihn nieder. Stöhnend versuchte er, sich wieder aufzurichten, konnte es aber nicht.

»Ich bin die einzige Herrscherin in dieser Welt. Nicht einmal die Götter können mir etwas anhaben.« Atalanta ging am Tisch vorbei und feuerte noch einen Energieschwall auf den Dämon ab.

Er stöhnte und wand sich. »Meine Königin.«

Inzwischen stand sie über ihm, ihr Gesicht vor Zorn noch weißer. »Ich bin die einzige Königin, die du kennst. Meine Gnade hat dich gerettet, Thanatos. Und dein Verlangen nach Macht ist dein Todesurteil.«

Sie feuerte erneut. Callia krümmte sich und hielt ihre Ohren zu, um die albtraumhaften Schreie auszusperren. Der Gestank von brennendem Fleisch füllte den Raum. Erst als sie den Qualm bemerkte, der aus der Küche kam, wurde Callia bewusst, dass Atalanta abgelenkt war, sie mithin eine einmalige Chance zur Flucht hatte.

Sie nahm ihre Hände herunter. Schmerz strahlte von den Kratzwunden über ihren gesamten Torso, und Schweiß rann ihr über die Schläfe. Noch ehe sie es geschafft hatte, vom Tisch wegzukommen, war Atalanta vor ihr.

Atalanta streckte ihr eine Hand hin. Zunächst erstarrte Callia, rechnete mit einem Energieschwall, der sie in zwei Hälften sprengte, doch sie konnte ja nirgends hin.

Atalantas Hand war direkt vor ihren Bauch und der Brust. Genau wie Callia selbst es unzählige Male bei ihren Patienten getan hatte, schloss Atalanta nun ihre Wunden von innen nach außen. Scharfe Schmerzstiche pulsierten um die tiefen Kratzer, und sie rang nach Atem. Der Schmerz sammelte sich, bis alles an einem winzigen Punkt war und herausgezogen wurde wie eine Nadel, die einen Faden führte. Was blieb, war nur ein leichtes Ziepen. Verblüfft sah sie an sich hinab, wo sich die Wunden vor ihren Augen schlossen.

Langsam blickte sie wieder auf. Atalantas Augen waren geschlossen, wie Callias, wenn sie heilte. Und obwohl es völlig irrsinnig war, empfand sie eine bizarre Verbundenheit mit der anderen. Zwei Heilerinnen. Zwei Frauen. Zwei Mütter.

Plötzlich verzog die Halbgöttin das Gesicht und riss ihre Hand zurück. Ihre pechschwarzen Augen flogen auf und fixierten Callia. »Ich verstehe, was du und die anderen geplant habt, Eirene.«

»Was?« Instinktiv wusste Callia, dass was auch immer die Halbgöttin gesehen haben mag, nicht gut war. »Ich …«

Atalanta lief drei Schritte zurück und griff sich an die Brust. Ihr Gesicht rötete sich, als sie an dem Stoff ihres Kleides zurrte und unvermittelt innehielt. Vor lauter Wut färbte sich ihr Teint fast lila. »Maximus!«

Ihr Schrei brachte die Hütte zum Erbeben.

Dann wandte sie sich ruckartig wieder Callia zu. »Dich zu töten, würde gleich zwei Probleme lösen. Du und dein Wächter, ihr werdet für Maximus’ Verrat zahlen.« Die Halbgöttin streckte ihre Hand aus, mit der sie den Dämon zu Staub verbrannt hatte, und nun hatte sie eindeutig nicht vor, Callia zu heilen. Aus ihrer Miene sprach blanke Mordlust.

Oh verdammt!

Callia wappnete sich. Wäre sie doch nur bei Zander in der Höhle geblieben! Sie schrie.

Das Licht wurde stärker. Als sie zu einer Lücke zwischen den Bäumen kamen, erkannte Zander, dass Titus recht gehabt hatte. Der gelbliche Schein kam aus den Fenstern einer Hütte. Er blinzelte, um es genauer zu erkennen. War Callia verzweifelt genug, dass sie sich menschliche Hilfe suchte?

»Kommt drauf an, wie sauer du sie gemacht hast«, sagte Titus neben ihm.

Zander warf ihm einen verärgerten Blick zu. Er konnte es auf den Tod nicht leiden, dass Titus jeden seiner Gedanken kannte.

Titus runzelte die Stirn. »Fürs Protokoll, ich bin da nicht scharf drauf.« Er nickte zur Hütte. »Wollen wir anklopfen oder gleich die Tür eintreten?«

Zander wollte ihm gerade sagen, wohin er sich seine dämliche Frage stecken konnte, als ein Brüllen den Waldboden erzittern ließ, gefolgt von einem schrillen Schrei, der ihm durch Mark und Bein ging. Die Kopfschmerzen, mit denen er die letzten fünf Minuten gekämpft hatte, verebbten zu einem flüchtigen Pochen, während er nach seiner Klinge griff. »Das war Callia.«

Titus zog sein Parazonium. »Sicher?«

Verdammt, ja, er war sicher! Ihre Stimme war ihm vertraut wie keine andere.

»Zander, warte!«

Er stürmte bereits zur Hüttentür und trat sie mit dem Fuß ein. Ein roter Wirbel leuchtete im Raum drinnen auf, dann blickte ihn eine Frau mit großen schwarzen Augen an. Hinter ihr lag Callia rücklings auf einem Tisch, ihr T-Shirt aufgerissen und ihre Haut wie der Shirtstoff blutbefleckt.

Er hob seine Klinge, ließ seinem Zorn freien Lauf und stürzte sich auf die Frau in Rot.

Atalanta wedelte mit einer Hand in seine Richtung.

»Zander, nein!«, schrie Callia.

Energie traf seinen Körper und schleuderte ihn nach hinten. Sie war ganz ähnlich der, mit der Callia ihn angegriffen hatte, nur tausendfach stärker. Er krachte in den Türrahmen. Holz splitterte um ihn herum, als er aus der Hütte flog und auf dem gefrorenen Boden draußen landete, wo ein Splitterregen auf ihn herabrieselte. Der Schmerz in seinem Oberkörper verschlug ihm den Atem.

Stimmen erklangen aus der Hütte. Callia? Titus? Schreie, dann wieder Rufen. Knurren und Brüllen hob hinter der Hütte an, kurz bevor das Klirren von Waffen gegen Waffen zu hören war.

»Zander! Komm verflucht nochmal hier rein!«

Zander stützte sich zitternd auf, biss die Zähne zusammen und lief los. Er torkelte, fing sich ab und rannte auf die Tür zu. Als er endlich dort war und hineinblickte, bot sich ihm eine Szene aus einem Albtraum.

Titus kämpfte gegen zwei Dämonen, schwang seine Klinge wie ein Verrückter. Callia verkroch sich vor einem dritten Dämon unter dem Tisch. Ihr Arm war blutig, ihr Gesicht aschfahl und von Blutergüssen gezeichnet. Atalanta war nirgends zu entdecken.

»Zander!« Der Dämon, der hinter Callia her war, packte ihren Fuß und zog sie unter dem Tisch vor. Er warf sie auf den Rücken, holte mit seiner Klinge aus, doch Callia sprang auf und stieß ihm beide Hände gegen die Brust.

Der Dämon heulte vor Schmerz, hatte jedoch noch hinreichend Kraft, um ihr eine Ohrfeige zu versetzen, durch deren Wucht sie quer durchs Zimmer geschleudert wurde. Sie krachte gegen die Wand und sackte zu Boden.

Wieder überkamen Zander entsetzliche Kopfschmerzen, doch er stürzte sich ins Getümmel und hieb mit seinem Parazonium nach dem Monster. Blut sprühte aus der offenen Wunde auf ihn und den Holzboden.

Der Dämon stolperte und richtete sich auf. Er holte mit der Linken aus, erwischte Zanders Hemd vorn und versenkte seine Krallen in seiner Brust. Ein Schwert folgte, das Zanders Arm nur knapp verfehlte.

»Du kriegst die Prinzessin nicht, Argonaut«, fauchte der Dämon und holte zum neuen Schlag aus.

Zander wollte ausweichen, doch sein Körper bewegte sich weniger schnell als sein Verstand. Es war, als würde er unter Wasser kämpfen. Der Dämon setzte zum Todesstoß an. Gleichzeitig ertönte ein Brüllen von der anderen Seite des Raumes. Es lenkte den Dämon für einen kurzen Moment ab, und Zander duckte sich unter dem Arm des Monsters durch. Er wich schwankend zurück und hob seine Klinge mit beiden Händen. »Ab in die Hölle, Hurensohn.« Mit diesen Worten schwang er feste aus, was ihn seine gesamte Kraft kostete, und schnitt dem Dämon tief in die Seite.

Das Monster ging kreischend in die Knie. Zander hieb noch einmal zu, schlitzte der Bestie den Arm, den Rücken und die andere Seite auf. Blut sprühte in alle Richtungen, wobei das meiste Zander ins Gesicht traf. Der Dämon fiel um, aber Zander attackierte weiter. Seine Wut, die er sonst so sorgsam bändigte, verschlang ihn. Und bei jedem Hieb sah er Callia vor sich, wie sie einer Opfergabe gleich vor Atalanta auf dem Tisch gelegen hatte.

Sein Parazonium stach der Kreatur in den Rücken und machte ein scheußliches Geräusch, als er es wieder herauszog, um aufs Neue zuzustechen. Er zielte kein einziges Mal auf den Dämonenhals. Das Monster sollte erst gebührend leiden. Wieder und wieder rammte er seinen Dolch in ihn.

Jemand stieß seitlich in Zander hinein, so dass er das Gleichgewicht verlor. Er fiel polternd um und blickte verwundert zu Titus auf, ehe er wütend wurde. »Du dämlicher Scheißkerl!«

Titus schlug ihm das Parazonium aus der Hand. Knurrend wollte Zander sich aufsetzen, doch er war viel schwächer, als er dachte, und was immer ihm fehlte, es schien ihn ausgerechnet jetzt komplett auszuschalten. Sein Versuch aufzustehen ging jämmerlich daneben, und er landete auf seinem Hintern.

Der Dämon hinter Titus rumorte und machte Anstalten, eine zweite Runde zu eröffnen. Dazu gab ihm Titus jedoch keine Gelegenheit mehr, sondern enthauptete die Kreatur mit einem fließenden Dolchschwung. Anschließend wandte er sich wieder Zander zu. »Krieg dich ein, Z.«

Mühsam rappelte Zander sich auf. Schweiß und Blut liefen ihm übers Gesicht, tropften auf seine Brust. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen, und er konnte nur ein einziges Wort denken: Töte.

Titus baute sich breitbeinig vor ihm auf. »Denk gut nach, Zander. Mich kratzt nicht, ob du unsterblich bist oder nicht. Ich verpass dir eins mit der Klinge, und glaub mir, das tut weh.«

Zander zog eine hämische Grimasse, ging halb in die Hocke, bereit zum Angriff und blickte auf den Toten und den Dolch vor sich.

»Leck mich«, flüsterte Titus und packte seine Klinge fester. »Der Dämon ist tot, Zander. Sie sind alle tot. Und Atalanta ist weg. Ich bin hier nicht der Feind, sondern dein Freund. Glaub mir, Mann. Das willst du nicht.«

Es war, als würde er durch einen Tunnel blicken, wo alle Geräusche und Bilder am Rande ausgeblendet waren. Doch Zander konzentrierte sich auf Titus, auf die Art, wie sich die Brust des Argonauten bei jedem Atemzug hob und senkte, auf den Schweiß in seinem Gesicht und auf seinen Blick, der Zander bedeutete, dass er der Feind war. Plötzlich kam ihm ein anderer Gedanke.

Er schaute sich in der Hütte um. Neben ihm lag der Dämon, gegen den er gekämpft hatte, ein Stück weiter türmte sich ein ganzer Haufen Leichen, und schließlich sah er Callia bewusstlos an der Wand lehnen. Die brodelnde Finsternis in ihm wurde zu etwas Weicherem, sehr viel Vertrauterem, ehe sie vollständig verpuffte.

»Callia«, hauchte er. Die Augen ausschließlich auf sie gerichtet, erhob er sich aus seiner halben Hocke. Seine Kräfte drohten ihn zu verlassen, als er an Titus vorbeiging und neben Callia auf den Boden sank. »Callia? Oh nein.«

Titus’ Parazonium fiel klappernd auf die Holzdielen. »Heiliger Hades«, murmelte er.

Zander riss Callias T-Shirt weiter auf, konnte aber nichts außer dünnen weißen Linien auf ihrer Brust entdecken. Er fühlte den Puls an ihren Hals, der sehr schwach war, und legte seine Hände unter ihren Kopf. »Callia, wach auf.«

Sie rührte sich nicht. Ihr Kopf fiel zur Seite, als wäre sie eine Stoffpuppe.

»Callia?«, wiederholte Zander lauter. »Wach auf. Scheiße. Titus!«

»Skata.« Titus schob Zanders Hände beiseite und fühlte selbst nach ihrem Puls. »Eben war er schwach, aber noch da.« Er legte die Finger an ihren Hals. »Ja, da ist er. Sie lebt.«

Allerdings nicht mehr lange. Nun, da seine Rage verflogen war, arbeitete Zanders Verstand wieder. Aber das war auch schon alles. »Ich kann sie nicht nach Argolea zurückbringen.« Panik schwoll in seiner Brust an. »Ich bin zu schwach, um ein Portal zu öffnen.«

Titus sah ihn an und zog etwas aus seiner Tasche, das er Zander zuwarf. Zander fing das Satellitentelefon mit beiden Händen, während Titus seine Arme unter Callia schob und sie hochhob. »Ich kann sie auch nicht zurückbringen.«

»Wie? Du musst. Hör mal, wenn es wegen vorhin ist, ich …«

Titus war bereits auf dem Weg zur Tür. »Ich kann sie nicht wegbringen und dich hierlassen. Du siehst beinahe so übel aus wie sie, und jeden Moment kommen mehr Dämonen.«

»Ich kann selbst auf mich aufpassen.« Zander wollte aufstehen, stolperte und wäre umgekippt, hätte er sich nicht an der Wand abfangen können. Was zur Hölle war mit ihm? Er rang nach Luft. Zahllose Schlachten hatte er in seinem Leben gekämpft, doch nach keiner war er so geschwächt gewesen wie jetzt.

»Hast du dein Medaillon?«, fragte Titus von der Tür aus.

Zander griff nach dem kleinen runden Anhänger, den alle Argonauten trugen und mit dem sie die anderen rufen konnten, falls sie in Schwierigkeiten gerieten. »Nein, Mist. Ich muss es irgendwo bei der Schlucht verloren haben. Oder in der Höhle.«

»Ich habe meins auch verloren.« Titus hievte Callia höher in seine Arme. »Ruf Nick an.«

»Nick?« Zander schaute auf das kleine Telefon in seiner Hand. Nick hatte ihnen allen so ein Ding gegeben, als sie vor Tagen bei der Halbblutsiedlung aufbrachen, und Zander hatte es für Unsinn gehalten.

»Sag Nick, wo er uns findet.« Titus stapfte mit Callia auf den Armen hinaus in den Schnee. »Und schwing deinen Hintern, Z. Atalanta ist nicht grundlos auf und davon gesegelt. Sie will deine Frau, und ich wette, dass sie wiederkommt, mit einer ganzen Armee.«