05:15

Es schlug die Viertelstunde. Die Schwingungen des Gongs nahmen seine Worte in ihrem Klang mit. Er blieb gedankenverloren stehen, als verfolge er die Schimäre.

Danach, ohne zu wissen warum, lud die offene Tür ihn ein, sich auf den Balkon hinauszulehnen. Ihn packte ein fürchterliches Schwindelgefühl. Eine verzehrende Windhose aus makabren Gedanken umnebelte ihn. Von der Fahrbahndecke erhob sich eine weitere Windhose und ließ die Häuser, die Bäume, die Automobile in einer dämonischen Sarabande kreisen. Inmitten dieses doppelten Chaos wirbelte er irrsinnig innerhalb und außerhalb seiner selbst. Wie ein Schiffbrüchiger klammerte er sich an den Eisenstangen fest. Der verheerende Sturm schlug alles in seinem wilden Heranrollen nieder. Als er die Augen einen Schlitz weit öffnete, bäumte die Straße sich vertikal auf. Dann klebte sich der zu Gummi gewordene Asphalt an seine Lider. Und zog ihn, zog ihn mit solcher Kraft zu sich hin, daß er schon in der Trance des Nachgebens schwankte. Als der Schwindel ihn zu erfassen drohte, schloß Op Oloop die Augen und guillotinierte die Anziehungskraft.

Schwitzend, zitternd, wich er bis zum Schreibtisch zurück. Er setzte sich. Inmitten der Unordnung seines Geistes öffnete sich ein weiter Lichtstreifen: »Die blauen Gründe des Todes!«

Und in ihm – ein glorreicher Fries – das schlichte und zerbrechliche Bild von Franziska, unendlich oft wiederholt, ein jedes mit neuem Zauber, ein jedes mit frischer Zärtlichkeit.

Er konnte das Wunderwerk nicht ergründen.

Als er sich wieder fing, rief sein Arbeitszimmer – überfüllt mit Regalen und Registraturkästen, mit Maschinen und Diagrammen – Widerwillen in ihm hervor. Ihn, der er die Stunden mit Wissen gefüllt hatte, überkam schlußendlich der Eindruck von Eitelkeit. Alles kam ihm unerträglich vor. Alles war vergebens gewesen. Sein Leiden war kein Schmerz, sondern Hohn, als er sah, wie die Zeit ihren leeren Weinschlauch schüttelte und ihm riet: »Dummkopf, noch einmal füllst du ihn mit Liebe!«

Sich auf dem Stuhl windend, von stechenden Wunden in seinem Geist gequält, fühlte er, als er die Hand zur Brust führte, sein Notizbuch. Von plötzlichem Interesse trunken gemacht, öffnete er die seiner libidinösen Statistik gewidmeten Seiten. Und in den der Nummer Tausend zugewiesenen Raum schrieb er:

 

KUSTAA IISAKKI, 21 Jahre, Finnin, blond, abgegriffen. Tochter von Minna Uusikirkko. Fast meine Tochter … Tochter meiner Träume! Coitus interruptus.

0     0  00 …
OP OLOOP

 

Während er seine Zusammenfassung aus Nullen unter den Eintrag setzte, bildete sich ihm ein Knoten im Hals, und er wimmerte: »Ist das Liebe, Minna? … Ist das Glück, Kustaa? … Ist das, was du versprichst, Franzi?«

Er lief rot an. Die – offensichtlichen – Antworten unterstrichen die Anomalie seines Gefühlslebens. Schon war ihm keine Empfindung mehr angenehm. Seine Niedergeschlagenheit dagegen steigerte sich aufgrund eines belanglosen Motivs. Beim Abschluß der tausend Fälle seiner sinnlichen Statistik durch seine Unterschrift stimmten die vier O seines Vor- und Nachnamens mit den vier Nullen aus der vorhergehenden Zeile überein. Er sah darin ein deprimierendes Symbol. Indem er es überhöhte, legte er die vier Nullen als vom Schicksal über die vier Hauptbestrebungen seines Lebens gefälltes Urteil aus: Freiheit, Arbeit, Kultur, Liebe.

Und seine alte Lebensfreude erhielt einen Anstrich in dämmriger Färbung.

Die Kunst und die Wissenschaft aller Dinge liegt darin, mit den Fügungen des Schicksals umgehen zu können. Als er in seiner Jugend Daudet las, hatte er sich diese Wahrheit angeeignet, die zur Mentorin seiner Schritte in verschiedenen Lebensabschnitten wurde. Doch in dieser Nacht hatten sich im Hexenkessel seines Kopfes jedes nur vorstellbare fatum und ananke verklumpt. Er konnte sie nicht verschrecken. Die in zwanzig Jahren angesammelten Mittel, um sich zu vervollkommnen, zu läutern und zu verherrlichen, versagten. Es waren bloße Spiegelfechtereien, prunkvolle Schutzwände gegen ein vorbestimmtes Geschick, ein so sehr vorbestimmtes Geschick, daß es in den vier Nullitäten seiner Unterschrift glänzte!

Der Statistiker versenkte sich in einem Gewässer aus kontemplativer Ruhe. Er zog eine knappe Bilanz seines Lebenswegs. Der verfehlt war. Er prüfte die Aussichten, neuen Fahrtzielen entgegenzustreben. Sie waren schreckenerregend. Dann akzeptierte er unterwürfig sein Schicksal, seine Machtlosigkeit und sein Unvermögen. Und er fügte sich darein, sich als Fleischwerdung eines absurden Lehrsatzes zu betrachten.

Als er sah, daß der Briefumschlag noch da lag, den er zu Beginn des Tages mit der Anschrift Van Saals zu adressieren versucht hatte, ergriff er ihn. Die Einsamkeit des bereits geschriebenen S klagte seine Unachtsamkeit ihm gegenüber an. Zur Wiedergutmachung beschloß er, ihm zuerst, vor jedem anderen, zu schreiben. Die Inspiration, die die letzten Energien des Geistes konzentriert, verhalf ihm zu so viel Klarheit und Kraft, daß er, statt zu denken, zu transkribieren schien:

 

Lieber Piet,

Stille! Solange man das Leben würdevoll ertragen kann, ist man verpflichtet, es zu leben. Doch wenn sich die Falschheit der immerwährenden Werte herausstellt, ist es eine Feigheit zu leben. Richte mich nicht. Nur der Tod richtet über das Leben. Dies ist mein Urteilsspruch.

Stille! Eine Blume aus Zärtlichkeit sei das Verständnis Deines Lächelns. Und eine Sonne, die den Abgrund meiner Todesstunde erhellt, die verkleinerte Sonne, die im lichten Punkt Deiner Pupillen erstrahlt. Die Sonne, die in Deinen Tränen hinunterkullert.

Stille! Warum der fruchtlosen Erinnerung an mich so viel Wert beimessen? Behalte sie und nichts weiter. Auch Du bist ein Ergebnis Deiner Erinnerungen … Mögest Du diese Erinnerung niemals von der Liebe erwecken lassen! Die Erinnerung an die Zukunft, die Du im Traum ersannst, würde Dich erleuchten. Das ist fatal.

Stille! Du weißt, daß mein Egoismus widerlegt hat, was er nur konnte, und daß ich nun ›das höchste Prinzip aller Pflicht‹ widerlege. Du weißt, daß ich, während ich mich in den Freitod stürze, über Gott lache. Gut, schweig und sei nachsichtig.

Stille! Breite Dein Mitleid nicht wie einen Mantel über meinen Leichnam. Folge nicht der dummen Philosophie des guten Beispiels, jeder ist ein trauriges Beispiel an Unbeholfenheit in jenem von Paradoxien freien Leben, das man im Grunde seines Wesens lebt.

Stille! Das tragische Schweigen eines entstellten Gesichts. Mein Atem kehrt zur Luft zurück, mein Feuer zur Sonne, mein Schatten zur Erde. Und all mein Geschwätz zur wesentlichen Stummheit der Welt. Nicht ein Wort. Es gibt ein ungeheures Risiko. Du könntest Dich hören …

Stille! Ich bin eine Seele, die viele Tode hinter sich hat. Das macht mich stolz. Es ist das einzige Vermögen, das zählt … Aus der posthumen Ferne werde ich kommen, Deine Freundschaft zu suchen, die der große Fund meines Lebens war. Schon bald werden wir an der Schwelle des Mysteriums miteinander plaudern.

 

Hosianna, Piet!

OP OLOOP

 

Er las den Brief mit kalter Nüchternheit. Er handelte im Einvernehmen mit einem Plan, den sein Unterbewußtsein für ausgereift erklärte, da er sich ohne großen Gefühlsaufruhr durchführen ließ. Er nahm mehr Papier und schrieb:

 

Gastón,

Kustaa Iisakki, »die Schwedin«, die Sie mir angewiesen haben, ist niemand Geringeres als meine geistige Tochter. Wenn ich auch den Traum nicht materialisiert habe, klagt ihre Realität mich doch an. Um der Liebe willen, die ich für ihre Mutter empfand: Minna Uusikirkko – Tochter des Literaturlehrers am Gymnasium von Oulu – bitte ich Sie, mit Piet und Franziska in der edlen Aufgabe zusammenzuarbeiten, ihre Seele zu retten.

Ich vertraue auf Sie, wie ich es immer getan habe,

OP OLOOP

 

Trübsinnig lächelnd trocknete er die Tinte. Seine Schrift war sauber, sicher, kühl stilisiert. Als nächstes, ohne Zögern, setzte er auf: Ich, Optimus Oloop, Junggeselle, neununddreißig Jahre alt, geboren in Oulu, Finnland, erkläre mit diesem meinem eigenhändigen Testament: Erstens: Daß ich keine Pflichterben habe. Zweitens: Daß ich niemandem etwas schulde und daß niemand mir etwas schuldet. Drittens: Daß mein Erbgut aus dem Mobiliar dieser Wohnung und achtundzwanzigtausend Pesos auf der Banco Anglo Sud Americano besteht. Viertens: Daß ich das Mobiliar mit seinem ganzen wissenschaftlichen Material dem Zentralamt für Statistik vermache, und den Rest der Einrichtungsgegenstände meinem valet. Fünftens: Daß ich das Geld zu gleichen Teilen Minna Uusikirkko, Kustaa Iisakki, Piet Van Saal und Franziska Hoerée vermache. Sechstens: Daß, da erstere im Irrenhaus für Frauen von Helsinki interniert ist, Piet Van Saal über die Summe verfügen soll, um für den Wiedergewinn ihrer Gesundheit Sorge zu tragen. Siebtens: Daß, da zweitere sich als Freudenmädchen chez Madame Blondel in dieser Stadt befindet, Franziska Hoerée über die Summe verfügen soll, um ihre Rückkehr in die Gesellschaft zu bewirken. Achtens: Daß mein Leichnam verbrannt werden und meine Asche vom Luftfahrtkommissar Don Luis Augusto Peñaranda über dem Rio de la Plata verstreut werden soll, in der Nähe des Ortes, wo die Abwässer der Metropole einmünden, während gleichzeitig der Chef des Amtes für Wasserversorgung, Don Cipriano Slatter, diesen Epitaph in den Sand schreiben soll:

 

HIER RUHT OP OLOOP.
FÜR IHN WAR NICHTS SCHWER
AUSSER DER LIEBE.
DAHER HAT ER SO SEHR
DIE LEICHTEN MÄDCHEN GELIEBT!

 

Neuntens: Ich ernenne als Testamentsvollstrecker zur Erfüllung dieser Verfügungen Don Gastón Marietti, meinen treuen Freund, dessen Reichtum und Kultur über Gut und Schlecht hinausgehen. In Buenos Aires, am dreiundzwanzigsten April neunzehnhundertvierunddreißig.

OPTIMUS OLOOP

 

Die Gleichgültigkeit zerbrach, als er das Testament unterzeichnete. In seiner frühesten Jugend hatte er schamhaft die Verkürzung von Optimus beschlossen, in dieser melancholischen, unumgänglichen Zeitspanne, die von den ersten Stürmen des Lebens geziert wird, in der man alles verachtet, angefangen bei einem selbst. Seither unterschrieb er nur bei offiziellen Akten oder Feierlichkeiten mit seinem vollen Namen. Dem Ausdruck seines letzten Willens kam für ihn nicht die geringste Bedeutung zu. Er war das letzte Aushängeschild seiner Sorgfalt. Sonst nichts. Doch als er dieses Dokument unterzeichnete, gewann der Name Optimus den in seiner Etymologie eingeschlossenen Sinn von Überlegenheit im guten zurück. Und er, der sich daran gewöhnt hatte, diesen Sinn im Leben zu unterdrücken, war stolz darauf, ihn im Tode auszustellen.

Er schrieb Gastóns Adresse auf einen Briefumschlag. Und ohne die Logik dessen zu bedenken, was er tat – von der Gewohnheit getragen, die Korrespondenz auf dem Schreibtisch liegen zu lassen, damit der valet sie am Morgen abschickte – plazierte er die entsprechenden Briefmarken auf den Brief an Van Saal. Als er ein gleiches mit dem Testament machen wollte, stellte er ungeduldig fest, daß er nur Marken zu einem Centavo hatte. Er verzagte nicht. Ein roter Rand zierte den Umschlag für Marietti. Und da der Tarif für Einschreiben die freie Fläche auf der Vorderseite überstieg, klebte er den Rest peinlich genau auf die Rückseite und setzte unter den Rand diese hilfreiche Inschrift:

 

»Die Frankierung geht auf der anderen Seite weiter.«

 

Der Statistiker handelte in einem fast stummen Automatismus. Die Entscheidung, auf verworrene Weise durchdacht, machte Worte überflüssig.

Er stand auf. Versuchte zu laufen. Doch durch die Gefühlsaufwallung waren ihm Fesseln angelegt. Er konnte so nicht gehen. Seine von einer undefinierbaren Lust zu weinen aufgeweichten Augen taten ein übriges.

Er setzte sich wieder hin und schrieb:

 

Meinem Tod geht die Verwüstung der Liebe voran, ihr Wunderwerk hat die endgültige Zerstörung meines Geistes organisiert.

Erzürne Dich nicht, Franzi.

Die Männer, die die Liebe lieben, fliehen vor den Frauen, aus keinem geringeren Grund, als daß sie die Frau suchen. Mein Fall. Als ich jedoch Dich fand, zerschlug sich mein vormaliger Frieden in Unglück.

Protestiere nicht, Franzi.

Ich sterbe praktisch an der Liebe. Was für eine sonderbare Erfahrung! Die Vorzüglichkeit der Liebe zerstörte das Glück, das sie erzeugt.

Bereue nicht, Franzi.

Das Leben ist ein Gleichgewicht aus Stützen, die das Gewicht des allgemeinen, zahllosen Todes abstützen. Der Zerfall eines Menschen ist so harmlos wie der Einsturz einer Säule. Der Einsturz einer Säule der Liebe bringt den Himmel nicht zum Einstürzen.

Leide nicht, Franzi.

Die Liebe ist wie die Schwerkraft. Wenn die Materie sie nicht mit ihren Schwächen zurückhalten würde, versenkte sie sich ewiglich in der Seele.

Wimmere nicht, Franzi.

Ich gehe in die Totenwelt mit der Illusion ein, zusammen mit Dir zu leben; denn wenn Du meine Abwesenheit träumst, wirst Du an meiner Seite erwachen.

Quäle Dich nicht, Franzi.

Verzeihe mir. Ich, der ich die schlimmsten Schicksalsschläge überstanden habe, kann die Reinheit Deiner Liebe nicht ertragen.

Weine nicht, Franzi.

Nur ich habe das Recht zu weinen …

OP OLOOP

 

Eine herbe Tränenflut rollte über seine Wangen. Von jähem Schrecken ergriffen, bemerkte er, daß sein Herz aufs heftigste von mysteriösen Rufen bestürmt wurde. Dann sah er zwei ihm entgegengestreckte Arme voll weinerlicher, flehender Milde.

»Nein. Nein. Nein. Es ist zu spät! Unmöglich!« schrie er aus Furcht, dem Leben zu unterliegen.

Während er sich aufrichtete, steckte er den Brief in die Tasche. Er öffnete die Balkontür sperrangelweit. Und aus der Tiefe des Zimmers, ungestüm wie ein Badegast, der die Umnachtung des Schicksals im Tod zerstreuen will, stieß er sich auf der Schwelle ab und tauchte kopfüber ins Leere.

Gleichzeitig, von unruhiger Benommenheit gefangen, stieß Franziska einen herzzerreißenden Schrei aus. Für ihre schlaflosen Verwandten war es eine Spirale des Schmerzes in der Stille. Für Op Oloops Seele, die Klangbahn seines Untergangs.

Der Sprung war exakt, mathematisch. In der anfänglichen Flugbahn – den Kopf zwischen den gestreckten, sich allmählich wie zwei Flügel aufspannenden Armen – lag die Anmut einer Taube.

Dann riß die Geschwindigkeit seine Gliedmaßen auseinander. Sein Körper lag auf dem Pflaster, der letzte Stern auf dem Dunkelrot seiner Krawatte erstarrt. Den Schädel an der Bordsteinkante zerschmettert, zerfloß die Gehirnmasse. Sein verrenkter rechter Arm präsentierte die Hand auf einem Häuflein Hundedreck. Die Armbanduhr schien unbeschadet. Doch die Uhr – sein Leben – und sein