03:30

Es war halb vier.

Ungeduldig, doch würdevoll, klopfte Op Oloop mit den Knöcheln gegen die Tür. Da man sich mit dem Öffnen Zeit ließ, klopfte er noch einmal. In diesem Vorgang lag etwas Verbotenes und etwas Komplizenhaftes, das ihn den Atem anhalten ließ; aber auch etwas, das ihn reizte, sich romantisch auf das Abenteuer einzulassen. Als er im Halbdunkel Schritte vernahm und mit dem Aufschwingen der Tür eine sich vor dem Lichtstreifen abzeichnende Figur sah, erfüllte ihn das mit Glückseligkeit. Er flüsterte seinen Namen durch den Türspalt. Während er auf Antwort wartete, nahm er Haltung an. Und als ihm Zutritt gewährt wurde, füllte sich der leere Gang mit seinem Körper und dem gewinnenden Lächeln der Patronin, die kam, um ihn zu empfangen.

»Sie! Zu dieser Stunde!«

»Ja! Was gibt es daran Besonderes?«

Sie antwortete nicht, machte eine zweideutige Gebärde und lud ihn zuckersüß zum Eintreten ein.

Madame Blondel hatte ihre Tätigkeit darauf beschränkt: den gerade Angekommenen anzulächeln und ihm den Weg in den zentralen Salon zu weisen. Ah, und beim Hinausgehen um ein Trinkgeld für die Pförtnerin zu bitten! … In dieser Wohnung befand sie sich in der letzten Etappe ihrer Laufbahn und träumte in den Momenten der Rast von der Zurückgezogenheit eines Häuschens am bretonischen Meer, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte. Währenddessen sammelten sich all ihre Lebenserinnerungen in ihrem von Aneurysmen angegriffenen Herzen an; all ihre Tränen lagen unter einem verzweifelnden maquillaje und all die Juwelen ihrer »Schätzchen« häuften sich auf ihrem Kleid aus schwarzem Taft, sittsam bis zum Halse geschlossen. Ihr Doppelkinn hing schlaff und die Muskeln ihrer Brust waren eingefallen. Das Fleisch lügt nicht … Sie war noch immer aufmerksam und freundlich; doch mit einer gewissen mütterlichen Verbitterung, obschon sie nie Mutter gewesen war, vielleicht aus unüberwindbarer Sehnsucht nach der Mutterschaft.

Ein Kunde war auf dem Weg hinaus.

Da Op Oloop die für sie typischen eigennützigen Schmeicheleien kannte, fing er sie ab, als sie bereits dabei war, sich zu entfernen. Auf Französisch, fast herrisch, stellte er seine Frage.

»Madame Blondel, où est la suédoise?«

»Maintenant elle est occupée.«

Auf sein Gesicht trat eine Grimasse tiefsten Widerwillens. Seit der Zuhälter ihm die Information geliefert hatte, war das Bild der Schwedin in seinem Geiste mit der Inbrunst einer virtuellen Schöpfung zu Fleisch geworden. So betrachtete er sie nach seinem Geschmack, in seinen Lieblingsposen, mit der Stimme, dem Gesicht und den Manieren ausgestattet, die man den Wesen zuschreibt, die, da sie zu sehr intuitiv erfühlt oder geliebt werden, schließlich einem selbst ähneln. Die Verfinsterung dieser Perspektive durch die Wirklichkeit störte ihn überaus. Er knirschte mit den Zähnen. Brummelte seinen Verdruß vor sich hin. Ohne sie gesehen oder mit ihr verkehrt zu haben, klagte er sie, die sie nichts weiter getan hatte, als seine Illusion zu zerstören, der Untreue an. Er konnte nicht verstehen, daß sie, die sie in seinem Geiste derart gegenwärtig war, ihn genau dann hintergehen sollte, als seine Sinne im Begriff standen, ihrer tatsächlichen Existenz gegenüberzutreten.

Die Patronin, fertig mit ihren Schmeicheleien, setzte sich neben ihn.

»Was halten Sie davon, Op Oloop, wenn wir einen Whisky trinken?«

»Machen Sie, was sie wollen. Ich trinke mit.«

Das Gewinnstreben in ihr war größer als jegliche Empfindlichkeit. Sie ließ daher den schroffen Ton der Antwort unberücksichtigt. Und, mit der höheren Einnahme kalkulierend, trug sie der Pförtnerin auf: »Ramona, zwei Canadian Club mit Tonic Water.«

Als sie den Kopf zurückwandte, um das Gespräch fortzusetzen, konnte sie es nicht. Das Gebaren des Statistikers schüchterte sie ein wenig ein. Er hatte die klassische Haltung seiner Vorfahren in kritischen Momenten eingenommen. Die Haltung, in der Soren Oloop auf dem Gemälde von Van Ostade zu sehen ist. Die Haltung, die stärkt und verteidigt, die die Zugänge vor Eindringlingen verschließt und die Oberhoheit der Stille bekräftigt. Starr, am äußersten Rand des Sofas sitzend, stützte er seinen linken Ellbogen auf die Armlehne. Legte die Mulde der Hand um den Auswuchs des Kinns. Streckte den Zeigefinger der Nase entlang empor, um dem finsteren Blick der Augen das I-Tüpfelchen aufzusetzen. Schloß mit dreifachem Fingersiegel die Schießscharte des Mundes. Verhakte den Daumen unter der Kinnlade, als ob er ein Sperriegel für ein geheimes Vorhaben sei und verweilte so eine Zeitlang.

Der Block seines Stillschweigens war so kompakt, daß die Schläue die Patronin zum Besten anleitete, was sie tun konnte: ihm keine Beachtung zu schenken. In ihrer langen Odyssee durch Bordelle und Hurenhäuser hatte sie Typen jeden Schlags getroffen: gleichgültige und feurige, undurchdringliche und gesprächige. Es lohnte nicht, sich wegen der mysteriösen Reaktionen weitere Gedanken zu machen. Sie schenkte ein. Während sie ihm sein Glas hinhielt, forderte sie ihn auf: »Trinken Sie. Die Schwedin wird gleich kommen.«

»Die Ssssschwe-din!«

Op Oloop sprach nicht. Er ließ die Buchstaben despektierlich zwischen den Fingern hindurchsickern, die seinen Mund verdeckten. Seine Verachtung war eisig. Er nahm das Glas nicht. Machte nicht die geringste Bewegung.

Ein derartiger Mangel an Antrieb reizte Madame Blondel. Gehässig wiederholte sie: »Na los, trinken Sie. Vergessen Sie Ihre Angelegenheiten. Die Schwedin wird gleich kommen …«

Es war eine anfallartige Veränderung. Als ob eine Statue sich in weitausholenden Gestikulationen belebte, löste der Statistiker die klassische Haltung seiner Vorfahren auf. Nicht einmal er selbst wußte, welch dramatischer Wirbelwind ihn geißelte. Er stand auf. Schüttelte sich. War Opfer heftiger Anfälle, bis er sich erneut setzte. Dann griff er nach dem Glas. Und während er mit starrem Blick durch den Whisky stierte, wie man in eine Zauberkugel hineinschaut, brachen dieselben Worte aus ihm heraus, diesmal mit gepreßter Stimme, als trage er eine verwerfliche Zusammenfassung vor: »Die Schwedin!«

Er schwitzte.

Der Haß ließ ihn dunkle Verwünschungen hervorstoßen.

In diesem Moment überdeckte ein frohlockender Jubelschrei seinen Ausspruch.

»Sehen Sie! Dort haben Sie ja die Schwedin!«

Die Benommenheit ließ ihn erzittern.

Madame Blondel nahm ihm das Glas ab; eher um zu verhindern, daß er den Inhalt auf den Teppich verschüttete, als aus der Fürsorglichkeit, ihm beim Aufstehen zu helfen.

Op Oloop war nun bewegungslos, den Unterkiefer heruntergeklappt, das Gesicht zu einer Holzmaske erstarrt.

Während er ohne ein Blinzeln die junge Frau herannahen sah, stocherte er in Gedanken hartnäckig in seinem Gedächtnis. Etwas klang in seinem Inneren an. Dann, mit einem Wimpernschlag, erfaßte er sie in Großaufnahme wie mit einer Blitzlichtkamera. Ihr Abbild wich von dem ab, das er ersonnen hatte; doch war es einem anderen ähnlich oder vergleichbar, das er in den unergründlichen Galerien seiner Erinnerung aufbewahrte. Fiebernd, wie ein Schnüffler im entscheidenden Moment der Identifizierung, durchstöberte er sie. Und auf einmal erhitzte er sich: »Wie bitte! Ist es denn möglich!«

Er hatte gerade die bekannten Gesichtszüge beobachtet, den vertrauten Anschein, die gleiche Manier einer anderen ihm teuren Frau. Dann ließ das frisch geweckte Interesse seinen Blick klar werden. Mehr noch: er wurde scharf und pervers. Und während die Schwedin die Patronin um Wechselgeld für fünfzig Pesos bat, verwandelte sich das Erstaunen des Statistikers in Analyse. In schamlose und unerbittliche Analyse.

Seine Verdächtigungen waren wohl zahlreich, verstärkten sie sich doch bis zur Dreistigkeit.

»Du bist keine Schwedin«, warf er ihr in jener Sprache an den Kopf.

Der Schreck des Mädchens ließ ihre der Poesie beraubte Figur zusammenfallen, kraftlos und schlaff.

»Du bist keine Schwedin«, unterstrich er mit gewaltsamem Nachdruck. »Warum lügst du? Wie heißt du?«

Den Kopf mißmutig neigend, sah das Mädchen ihn ohne ein Wort zu sagen an. Sie litt unter diesem Ansturm der Wahrheit und schwieg. Viele Male hatte sie den Glanz der Wahrheit überwunden, indem sie ihn mit der Asche eines undurchlässigen Schweigens bedeckte. Und sie schwieg und schwieg. Nahm die Geldscheine, die Madame Blondel ihr hinhielt, und ging.

Op Oloop versuchte sie von hinten zurückzuhalten und heftete seinen Blick an ihren Körper. Er nahm so die Beschaffenheit ihres Ganges auf, die lustlose Anmut ihres schlanken Leibes, die Wellenbewegung ihrer Hüfte. Es waren viele übereinstimmende Eigenarten. Er drehte sich zur Patronin um und fragte: »Wie heißt sie?«

»Kustaa.«

»Kustaa? Habe ich es Ihnen nicht gesagt … Sie ist keine Schwedin! Sie ist eine Landsmännin, sie ist Finnin.«

Die Freude über seinen Treffer verflüchtigte sich in einer Art mimischer Lachsalve. Seine in lächelnde Blicke eingehüllten Atemzüge flogen durch die Empfangshalle. Es näherten sich zwei weitere Freudenmädchen. Madame Blondel reichte ihm den Whisky: »Also gut. Trinken wir auf das Wohl Ihrer Landsmännin …«

Er wollte ihn schon hinunterkippen, da setzte er das an die Lippen geführte Glas im Zeitlupentempo wieder ab. Gleichzeitig verfinsterte sich sein Ausdruck so sehr, daß er, als er es zurückgab, kaum noch wiederzuerkennen war. Sein Gesicht wurde überschattet von großer Qual und Furcht.

Es gibt Personen, die die Leidenschaft über die Prinzipien stellen. Op Oloop gehörte nicht zu ihnen. Der mentale Stoßtrupp ging immer vorneweg. Als er Landsmännin sagte, war das Wort ihm auf natürliche Weise als ein geographischer Ausdruck entsprungen, doch als die Patronin es im spöttischen Tonfall wiederholte, erzeugte sein Widerhall in ihm Unbehagen. Er hatte kein Vaterland. Er glaubte nicht an ausschließliche Güte, die an den Grenzen eines jeden Staates aufhört, sondern an die Böswilligkeit aller, bevor sie nicht vom heiligen Feuer und dem Weihwasser der Revolution gereinigt wurden. Und da er von der Universalität des Geschlechtstriebs ausging, ohne sie auf Regionen oder Orte zu beschränken, bliesen die im Bewußtsein Wache stehenden Skrupel zum Aufstand und verlangten nach einer Berichtigung jener patriotischen Beteuerung. Der Tumult wuchs an, bis er ihn vollends beherrschte. Er hörte das einem ironischen Horn gehorchende Gedankenwirrwarr. Sein Charakter litt unter jener Verspottung seines Irrtums. Doch er setzte sich durch, definitiv. Sein Patriotismus war das Mark, das auf synthetische Weise nach der Entfaltung einer großen universalen Liebe gewonnen wird. Er erinnerte sich, diesen Gedanken bei verschiedenen Anlässen gehegt zu haben. Bei dieser Gelegenheit wiederholte er ihn und zerstreute wie durch Zauberei den Schandfleck, der sein Antlitz umwölkte.

Er stand auf.

Schlürfte langsam zwei Schluck Whisky.

Er war gelassen.

Eine porteña von plastischer Schönheit, in einen enganliegenden Anzug aus Silberlamé gezwängt, bemerkte, daß der Wiedergewinn seiner Kräfte ihn zugänglich machte. Die Absicht, ihn zu erobern, ließ sie ihren lasziven Pomp übertreiben. Sie glitt tänzelnd heran. Ihr Schlafzimmerduft bestrich sachte die Nasenlöcher des Statistikers. Durch wollüstigen Chic und verführerisches Spielen mit ihrem Gaze-Kragen deutete sie ihre Werbung an. Ihre Ohren warteten achtsam auf den Ruf …

Der dennoch nicht erfolgte.

Sofort, kaum daß er ihrer Finten gewahr wurde, klassifizierte Op Oloop ihren Mangel an Stil, ihre Natur einer derben Venus, verschönert durch die Verliebtheit einiger Dummköpfe. Er verachtete diesen Frauentyp, der seinen ganzen Stolz in eine hübsche Verpackung legt. Die Dummheit macht sich die camouflage der Schönheit zunutze. Und ohne zu wissen warum, wandte er den Blick von ihrer strahlenden Eitelkeit ab.

Unglückseligerweise.

Die Betrübnis wurde noch größer. Seine Aufmerksamkeit landete im schattigen Türrahmen von Kustaas Zimmer, dessen Licht gerade erloschen war.

Der Anblick des Galans störte ihn über alle Maßen. Ekel und Haß. Es war ein kleines und kantiges Individuum, das sich im Gehen die Weste zuknöpfte. Seine zitronengelbe Haut trug den Glanz des noch nicht getrockneten Schweißes der Sinnlichkeit. Und seine Augen eine zufriedene Süße! In der Absicht, sich seine Gesten anzueignen, folgte Op Oloop ihm Schritt für Schritt mit dem Blick. »Die Landsmännin« interessierte ihn schon nicht mehr, in einer Ecke dahingeworfen, mit offenem blonden Haar, das über die eine Hälfte ihres Gesichts und den Ausschnitt fiel. Er dachte nicht einmal an sie. Er dachte an ihn. Besser gesagt, er schien die Psyche des Galans durchlöchern zu wollen und rang darum, die Beschaffenheit seines Glücks zu erkennen, das Warum seines gnadenvollen Lächelns und der Kräfte, die seinen siegreichen Kolben bewegten. Das Ergebnis der Untersuchung entsprach nicht seinen Bemühungen. Das einzige, was es bestätigte, war die Aussage, daß jene die besten Liebhaber sind, die äußerlich am wenigsten von der Natur gesegnet sind. Und während er derartige Sinnenlust in diesem mickrigen Körper beglaubigte, preßte er sein Kinn gegen die Brust, um sich selbst anzusehen und seine eigene Trostlosigkeit zu messen.

Ein flötenartiges Stimmchen ließ ihn auffahren: »Nun gut. Bis bald, Madame.«

Und während der Galan in Richtung des Ganges wackelte, befiel ihn ein Gefühl der Hemmnis, das ihn fest und stumm dastehen ließ, genau wie einen im Dienst eingeschlafenen Rekruten der Wache.

Man merkte, daß er litt. Durch seinen Schmerz von allem abgegrenzt, was nicht Schwermut war, erdrückte ihn zu guter Letzt die Beharrlichkeit seines unglückseligen Schicksals. Augenbrauen und Mundwinkel waren nach unten gebogen. Eine pessimistische Maske. Sein mattweißer Teint schien sich mit feinem Nebel zu überlagern.

Durch die Lider sah man die unablässige Bewegung seiner Augen. Sie blickten nach innen. Vielleicht untersuchten sie das Paradox seiner Inbrunst für Kustaa und den darauffolgenden Reinfall, sie in den Armen eines beliebigen anderen zu wissen. Vielleicht erforschte er das Rätsel, warum der Mensch sich in seinen Traum verliebt und warum die Wirklichkeit ihn soweit zugrunde richtet, ihn als Hahnrei seiner eigenen Illusion erscheinen zu lassen. Vielleicht …