11:45

Die Uhr zeigte elf Uhr fünfundvierzig an.

Zugleich sah Op Oloop sich in der Introspektion als ein Monster aus Melancholie und Mitleid. Die drei doppelten Glockenschläge hallten in seiner Einfriedung wider. Nachdem er sich in einer mechanischen und abwesenden Operation fertig angekleidet hatte, nahm er Handschuhe, Hut und Stock und trat hinaus.

Dort warteten die Bademeister auf ihn und täuschten irgendwelche Verrichtungen vor, die ihr Interesse an einem Trinkgeld verhehlen sollten.

Mathematisch, nüchtern, wie bei gleichem Anlaß in den vergangenen Jahren, überreichte der Statistiker jedem der vier fünfunddreißig Centavos, zusammengesetzt aus Münzen zu zwanzig, zehn und fünf.

Die Angestellten nuschelten jeder für sich ein Dankeschön und blinzelten sich zu.

Das Trinkgeld blieb nie aus. Und immer in dieser Form: fünfunddreißig Centavos pro Nase, zusammengesetzt aus Münzen zu zwanzig, zehn und fünf. Die Routine verliert sich nicht. Sie haftet einem an wie Filzläuse. Reproduziert sich in jeder Haltung und jedem Härchen. Nur Wahnsinn oder Fieber kann sie ausrotten.

Er sah glänzend aus. Das Bad hatte seinen Teint rosig gefärbt. Wie jemand, der eine Vertraulichkeit von sich geben wird.

»Kommen Sie mal her«, rief er sie geheimniskrämerisch zusammen.

Die Angestellten wunderten sich über einen so schnellen Umschwung. Sie mutmaßten, daß seine »Attacke« schon vorüber war, und näherten sich.

»Ich werde Ihnen einen nützlichen Ratschlag geben. Doch Vorsicht! In meinem Mund hat das Schweigen eines Pygmäen Platz. Auf daß in Ihrer Brust die Verschwiegenheit eines Riesen Platz finde!«

Der Fußpfleger kam heran.

Er musterte ihn von oben bis unten.

Es entstand eine haßerfüllte Pause.

Die Umstehenden sahen sich an, wiegten bedächtig die Köpfe und schwatzten fast simultan, ohne den Sinn zu verstehen: »›In meinem Mund hat das Schweigen eines Pygmäen Platz. Auf daß in Ihrer Brust die Verschwiegenheit eines Riesen Platz finde!‹«

Eine augenfällige Verwirrung nagte bereits an ihnen. Da rückte Op Oloop entschlossen vor. Sein Ruf gebot ihm, die von seinem ungehörigen Verhalten verursachten schlechten Eindrücke zu konfiszieren. Er war wachsam, wußte er doch, daß sich das Irreguläre im Oberstübchen der einfachen Leute besser einprägt als das Korrekte. Wußte er doch, daß sich die Meinung des gemeinen Volks wie Staub im Wind verbreiten und durch Anhaftung den Kristall des Ruhms trüben würde. Und um den seinen zu säubern, indem er die Erinnerungen dieses Morgens auslöschte, hob er an: »Jawohl, Muchachos, ich werde Ihnen einen nützlichen Ratschlag geben. Einen gewissen juristischen Ratschlag. Mussolini schaffte das Trinkgeld neunzehnhundertzwanzig ab. In Spanien tat das Gesetz vom ersten Oktober neunzehnhundertdreißig ein Gleiches. Von achtzehnhundertzweiundachtzig an, als Von Ihering sich mit dem Trinkgeld beschäftigte und ihm eine psychologische und kritische Studie widmete, bis hin zu Pierre Mazoires Werk »Usage et evolution du pourboire«, Paris neunzehnhunderteinundreißig, interessierten sich viele Leute für dieses Thema. Ich bin verpflichtet, in dieser Angelegenheit, wie in vielen anderen, auf dem aktuellen Stand zu sein. Nicht ohne Grund bin ich von Beruf Statistiker und habe einen Karteikasten der Rechtskunde für Akademien, Seminare und Studenten erfunden! … Lassen Sie sich von Ihrem Chef nicht übers Ohr hauen! Mir ist bekannt, daß Sie lediglich fünfzig Pesos im Monat verdienen. Hören Sie es ein für allemal: das Trinkgeld ist Bestandteil des Lohnes. Wenn Sie morgen einen Arbeitsunfall haben, dürfen Sie keine Entschädigung gemäß Ihrer geringfügigen Vergütung akzeptieren, sondern müssen auch eine Aufbesserung durch die Kunden erzwingen, gerade deswegen, weil der Arbeitgeber darauf spekuliert. Das ist die Theorie, die Sachet und die gesamte französische Rechtsprechung verfechten. Seien Sie nicht dumm! Vereinigen Sie sich! Von fünfzig Pesos kann niemand leben. Dadurch, daß ich Ihnen jedes Mal eins vierzig an Trinkgeld gebe, mache ich mit meiner Großzügigkeit die Ungerechtigkeit Ihres Chefs wett. Deshalb habe ich das Recht zu rufen: Vereinigen Sie sich! Richten Sie in jeder Einrichtung, jeder Stadt, jedem Land ein Trinkgeldkontrollbüro ein! Seien Sie nicht dumm! Formieren Sie sich zur Internationalen des Trinkgelds!«

Op Oloops Stimme erreichte zum Ende hin den majestätischen Höhenflug eines Propheten. Er machte eine ausladende Gebärde zum Gruße und ging auf die Straße hinaus.

Die anderen blieben nachdenklich zurück. Selbst ihre langen Barfußläuferschritte hatten sich verkürzt. Der Erguß, die Vehemenz, niemals in ihm wahrgenommener Ausdrucksformen, waren mit neuartiger Arglosigkeit über seine Lippen gesprudelt wie Wasser in der Einöde aus einem artesischen Brunnen. Die Absicht war plausibel: seine Ehre wiederherzustellen. Doch er war in die Ungeschicklichkeit verfallen, das fremde Fassungsvermögen zu überfordern: einen Wall, den man notwendigerweise respektieren muß, da das Wissen sonst zur Beleidigung wird. Op Oloop überschritt dieses Maß. Die Kultur ist eine krankhafte Erscheinung für die, deren Fähigkeiten auf den niedrigen Stufen des Geistes verharren. Und selbst die Sympathie wird verdächtig, wenn sie den erlaubten Rahmen verläßt. Schade um ein so argloses Durcheinander von Absichten!

Von allen Seiten sprudelten Kommentare hervor:

»Was zum Teufel ist mit dem Typen los? Mein Lebtag hab' ich ihn nicht so gesehen.«

»›ln meinem Mund hat das Schweigen eines Pygmäen Platz.‹ Habt ihr das gehört? Und was für einen Humbug er über das Trinkgeld gefaselt hat!«

»Ob ihm nicht in der letzten Kammer das Hirn eingeschmolzen ist?«

»Merkwürdig war, daß er stocksauer geworden ist, weil ich seine Füße angesehen habe; ohne irgendeinen Anlaß, einfach so … Ich mache ihm seit vier Jahren die Füße, bis heute …«

»Mich täuscht er nicht. Er hat Flöhe im Blut. Syphilis. Nicht ohne Grund hat er gesagt: ›Mein Kopf ist eine Taschenbuchausgabe der Hölle‹ …«

Auch die Jockeys trugen ihre übereinstimmende Meinung bei, denn sie hatten unter der anmaßenden Miene gelitten, mit der er sie beäugt hatte.

Der fettleibige Badegast, der das Stimmengewirr einen halben Meter von seinem Bauch entfernt hörte, urteilte abschließend, indem er pomadig wiederholte: »Zweifelsohne. Wenn er nicht verrückt ist, ist er nahe dran …«

Wie schwierig ist es, das Warum einer aufgeschreckten Seele zu klären, zu erhellen! Die Psychiatrie – eine wahrhafte Geographie der Unordnung – sucht die Geistesverwirrungen des homo sapiens durch dafür geschaffene Formeln zu lokalisieren. Und gerade weil dieser entrückt und sich auf Streifzüge in Gebiete von dunkler und tierhafter Urwüchsigkeit begibt, gelingt es dem von der Gesundheit aus seine Koordinaten ziehenden Psychiater oftmals, in Abhandlungen Probleme des Temperaments und der Vererbung festzulegen. Doch nicht immer. Die Gehirnhemisphären, verwickelte Labyrinthe, wenn sie die Schädelhöhle auf übliche Weise anfüllen, sind dies umso mehr, wenn sie sich in den beiden Fleischklumpen der Hinterbacken ansiedeln. Denn es ist so: Es gibt Personen, deren Gehirn am Rande der Anallinie sitzt. Dann verstopft der Verstand und der psychopathologische Gestank wird so groß, daß der Akademiker unweigerlich zurückweicht.

Op Oloop gelangte im Handumdrehen zur Avenida de Mayo und bog scharf nach Westen ab.

Er schritt weit und verwegen aus und entbot jedem, der ihn ansah, mit großzügigen Armbewegungen voller Euphorie einen Gruß.

Der Wahnsinn macht behende. Er weckt den willensschwachen Menschen auf und ölt das an die Apathie des Melancholikers gewöhnte Getriebe. Doch in ihm entbehrte diese ungewöhnliche Gewandtheit jeglicher Erklärung. Jeder systematische Mensch vervollkommnet sich in der Tat in sich selbst. Er wird immer prachtvoller und kompakter, immer weniger glänzend und äußerlich. Wie kam es also in diesem flüchtigen Zeitraum zu den Aussetzern, die die Körpersäfte eines stets korrekten Wesens verklumpen lassen; wie kann man die abrupten oder subtilen Schwankungen jenes Wesens erklären, wenn es in ihm sonst das Gleichgewicht und die Ruhe eines äquinoktialen Wohlbefindens gegeben hatte?

Der Gruß Op Oloops wurde vom Fahrer eines Omnibusses als Entscheidung ausgelegt, diesen zu besteigen. Er hielt an. Und zu seiner eigenen Verwunderung legte Op Oloop einen Sprung hin, der eines Zeitungsjungen würdig war. Sein Körper schwankte beim plötzlichen Anfahren, dann klomm er die Stufen zu den freien Plätzen hinauf. Dort befanden sich mehrere Basketballspieler. Er erkannte das nicht, sah sie auf andere Weise. Und bereits gegenüber von Rodins »Denker« streckte er den Arm aus wie ein cicerone und rief: »Caballeros, das ist ›Der Denker‹ von Rodin. Ein Fragment des ›Höllentors‹. Er steht schlecht dort, wo er steht. Er sieht wie ein Verkehrslotse aus. Ich protestiere. Ich protestiere mit aller Gewalt!«

Die jungen Männer ließen die Haltegriffe los und sagten dem Schaffner Bescheid. Als dieser kam, um Op Oloop zum Aussteigen zu mahnen, wiederholte er voller Gram: »Wie wenig macht ›Der Denker‹ vom Fenster eines Omnibusses aus gesehen her!«

Gegenüber dem Kongreß, mitten auf der Straße, wurde seine Aufmerksamkeit vom zweispurigen Gegenverkehr in Anspruch genommen und seine kraftvolle Gestalt löste sich unter dem Ansturm der Hupen und Hörner und der Gefahr von Vollbremsungen und heranrasenden Autobussen in wilden Sprüngen auf. Welch trauriges Schauspiel! Er, für gewöhnlich so gefällig und gesetzt, erweckte den Eindruck eines zerlegten mechanischen Spielzeugs. Auf einen Schlag warf die Bedrängnis der unseligen Zwangsläufigkeit einen Schatten auf sein Gesicht. Und wie vor den Kopf geschlagen, als suchte er die Lösung in einer übernatürlichen Anstrengung, bestieg er hastig ein Taxi.

»Fahren Sie weiter. Rund um den Platz.«

Er setzte sich nicht, er zerfloß auf dem Sitz und schloß besiegt die Augen.

Das menschliche Material ist brüchig und vergänglich. Das war ihm bekannt. Mencken hatte es ihm gesagt: »Alle Fehler und Inkompetenzen des Schöpfers erreichen ihren Höhepunkt im Menschen, dem unzulänglichsten Mechanismus, der Lachs und Bakterium als gesunde und effiziente Maschinen erscheinen läßt.« Doch er glaubte, der heroische Architekt seines Schicksals zu sein. Und gereift in der Ordnung, komfortabel eingerichtet in den Annehmlichkeiten des Systems, beharrte er auf dem andauernden Masochismus der Selbstbezwingung. Wofür? Dafür? Um die Schande zu erleiden, zusammenzubrechen? Um die Schmach zu beweinen, zwischen seinen eigenen Ruinen daherzuhumpeln?

Ein erbittertes Unbehagen begann sich in seinem Inneren zu rühren. Mit den stärksten Konzepten des Lebens hatte er seine intellektuelle Kraft auf der Grundlage des Scheiterns errichtet. Dort lag es, sein klares Scheitern, und zeigte die erlesenen Vorurteile und die Kraftlosigkeit seiner Vorhaben auf; zeigte auf, daß er Arabesken aus eitlen Bestrebungen konstruiert hatte statt feste Fundamente; zeigte auf, daß alles eine Orgie des Selbstwertgefühls gewesen war, anstelle einer wirklichen Etappe der Selbstbeherrschung. Und gerade weil er das Theatralische haßte, wurde er von der Qual fortgerissen, die Seele einer pochade zu haben, eine von denen, die andere zum Lachen bringt, wenn die Intrigen und der Lauf der Welt sie auf der Bühne dessen, was sie sein wollten, zeigen, wie sie wirklich sind.

Derart in Unbehagen und Leid versunken, begann unversehens das Rumoren der Motorzündungen in seine Gedanken einzugreifen. Die Ideen zerstreuten sich hinter diesem Dunst aus Klang. Das Geräusch wurde nach und nach deutlicher, bis es die Schärfe eines aufdringlich feindseligen Klapperns erlangte. Seine Hände wollten es vertreiben, indem er sich die Ohren zuhielt. Doch das Klappern war dort drinnen. Das Gefühl hielt an und wurde auf neckische Art sogar noch schlimmer – wie eine Abfolge von Winden aus Hohn und Spott.

Der Statistiker spürte daraufhin einen unbestechlichen Ekel vor seiner Kultur. Nichts hatte es ihm genutzt, sein Empfinden in der Kargheit des Phlegmas und sein Temperament in der Harmonie der Kinästhesie erzogen zu haben. Wer sich wie er damit gebrüstet hat, ein Superneutrum zu sein, das heißt ein durch Angleichung und psychologischen Absolutismus höchst neutrales Neutrum, der erkennt in solch kritischen Momenten die Lächerlichkeit aller Wissenschaft angesichts der Ungewißheit der Materie.

Der Chauffeur hatte im Rückspiegel die merkwürdigen Gebärden des Passagiers wahrgenommen. Er drehte den Hals und fragte ein wenig übellaunig: »Wie lange soll ich noch im Kreis fahren?«

»Fahren Sie weiter im Kreis!«

Er trat das Gaspedal durch.

In Wahrheit war die Unterbrechung ein Linderungsmittel; denn während er die Frage verinnerlichte, drang die Avenida de Mayo mit all ihrem Glanz in seinen Geist, in Übereinstimmung mit dem gewöhnlichen Erscheinungsbild dieser Verkehrsader. Dieser Wiedergewinn des Bildes von einem, der seine Aufmerksamkeit in viele Facetten hatte abgleiten lassen, bedeutete die Rückkehr zur Normalität, einen ritorno al'antico. Er wußte das zu schätzen und atmete mehrmals begierig das Glücksgefühl ein, sich wieder gefangen zu haben.

Doch im Geist gibt es Avenidas, Straßen, Gassen … Wundervolle Viertel mit opulenten Geschäften. Finstere und schmutzige Sektoren. Düstere und tragische Gegenden. Genauso wie draußen! Neben den Einkaufsstraßen, strahlend vor Luxus und Wollust, verrufene Klitschen, wo das Übel sprießt und der Instinkt gärt. In der Nähe der illustren Kunstzentren, der Spielbank und der großen Welt, Elendshütten mißratener Berufungen, Willenlose, die im Armenviertel nächtigen, und niemals erschöpfte Kräfte, die sich im Unglück wälzen …

Op Oloop verließ den glatten Asphalt bald … Die Bilder, die für einen kurzen Moment durch seine Sinne geschlüpft waren und diese mit der Reinheit vormaliger Realität wuschen, begannen sich erneut zu verwickeln. Schon konnte er nichts mehr ausmachen als eine große verworrene Stille. Und in dieser großen verworrenen Stille gab es nichts anderes als ein hartnäckiges Summen, das sich entfernte und näherte; das hinter dem Kristall seiner Augen herumstrich und ihn zwang, sie zu schließen; das von außen um seine Ohrmuscheln herumstrich und ihn zwang, sie zu öffnen, wie um aus dem umgebenden Getöse ein großes erlösendes Geräusch zu gewinnen.

Das Summen setzte keinen Moment lang aus. Höchstens wurde die Empfindung in jeder Kurve zurückgeworfen und flatterte ein wenig herum; doch bedrängte sie ihn daraufhin erneut – ein Falke auf Beizjagd – und verfolgte sein Gehirn.