01:30

»Schon ein Uhr!«

»Nein. Halb zwei.«

»Verdammt, ich müßte …«

»Sie, Ivar, bewegen sich nicht von hier weg. Das hier ist kein Rotarier-Essen mit Plunder aus Zahnrädern, ›US‹-Hymnen und Aktionsgehämmere. Hier gibt es keine Taxameter. Weder greift irgendeine Bruderschaftsparodie, noch wird das Ideal des Dienstes mit sauberem Hammerschlag normiert. Der Wert dieses Dinners liegt in seiner substanzreichen Konversation und seiner pluralistischen Freundschaft. Bleiben Sie.«

»Gewiß, doch ich muß morgen früh um sieben im Studio sein. Ich mache die Tonaufnahmen für den Lunfardo-Streifen, den die Fonofilm gerade dreht. Eine wahrhafte Marter! Die hiesigen Schauspieler sind ebenso wie die Spanier Stümper. Aufmachung, nicht Eleganz. Arroganz, nicht Können. Nun gut, Sie werden es selbst schon gesehen haben … In den Liebesszenen sind sie übrigens unschlagbar kitschig. Sie bringen einen zum Platzen vor Lachen. Die Dämchen, komplett ›marlenisiert‹, sprechen nicht, sie quengeln. Die Galane scheinen Schüler von Pina Menichelli oder der Bertini zu sein … Sie machen Fischaugen und sagen ihren Text mit schmieriger Stimme auf, abstoßend. Offen gefragt: Was zum Teufel bedeutet die Liebe in diesem Land?«

»Liturgie.«

»Schweiner … hick.«

»Tabu.«

»Geschäft …«

»Romantizismus.«

»Scheiße!«

»Die Liebe ist der große Heroismus. Heroe, das kommt von Eros.«

»Sie lügen! Sie ist die große Feigheit. Liebe = Sex – Köpfchen.«

»Die Liebe formt die Person und verfeinert die Persönlichkeit.«

»Bah! Sie ist anpassungsfähig und käuflich und schrumpft unweigerlich. Ein einfaches Beispiel. Ich hatte eine Frau:

Sie war meine Geliebte, MI AMADA,

dann meine Gattin, MI AMA,

heute … nicht mal mein, nicht mal MI-A.«

»Darin liegt der Fehler: die Liebe mit dem Zusammenleben zu verwechseln, oder mit der Ehe.«

»Ja … Heirate, dann hast du eine Frau und kannst ihr an den Hintern packen, und nach einem Monat ist es, als ob du deinen eigenen anpackst …«

»Genau aus diesem Grund heiraten die Kinostars und lassen sich dann wieder scheiden!«

»Sie diffamieren. Die Ehe formt und heiligt den weiblichen Körper.«

»Ja … Und darin liegt der Vorteil des Ehebruchs: die Arbeit des Ehemannes auszunutzen, die ihn arrogant und süß gemacht hat …«

»Gerede …«

»Gerede? Das Eheleben ist die Summe dreier Lügen: sie belügt ihn, er sie und alle vier die Welt.«

»Ich hatte eine›zweifach bearbeitete‹ Frau …«

»Eine zweifach bearbeitete Frau?«

»Ja, bearbeitet vom Ehemann und vom Liebhaber. Sie bettelte um ein Kind. Vor dem Koitus bekreuzigte sie sich und sprühte Weihwasser auf das Bett, auf ihren Schlitz, auf mich … Und mitten im Orgasmus erstarrte sie, mit den Augen nach oben gerichtet, als ob sie einen Heuschreckenschwarm vorbeifliegen sähe.«

»Sie hat wohl Gott angefleht, die Arme!«

»Nichts besonderes. Eine mystische Form der Erotomanie. Die Liebe ist vielseitig.«

»Sie kann so vielseitig sein wie sie möchte, was mir am besten gefällt, ist die einschläfernde Kraft des Koitus.«

»Die einschläfernde Kraft des Koitus?«

»Ja. Ich werde es Ihnen erklären.«

Op Oloop, weit entfernt und gegenwärtig, zeichnete eine Handbewegung in dieses Fintenspiel. Alle blickten ihn gespannt an.

»›Charme de l'amour qui pourrait vous peindre?‹, rief der reinste aller Liebenden aus. Und seine Frage klingt noch heute nach. Constant gelang es nicht, sie im heiteren Erguß des ›Adolphe‹ zu beantworten. Goethe ist in den Labyrinthen des ›Werther‹ vom Weg abgekommen. Stendhal skizzierte sie unbarmherzig mit seinem in ›Rot und Schwarz‹ getauchten Pinsel. Proust war nichts als ein exquisiter Weissager seiner krankhaften Neigungen. Freud hat sich darauf beschränkt, die unbekannte Tiefe des Unterbewußtseins auszuloten … »Zauber der Liebe, wer könnte dich schildern?«!

»Niemand. Die Liebe läßt sich von der Wirklichkeit nicht greifen. Widersetzt sich der Logik. Lehnt sich gegen die dichterische Begeisterung auf«, unterstrich Peñaranda.

»Dennoch versuchen die Unwissenden, sie Normen zu unterwerfen, sie im Gesetz zu kanalisieren und im Dogma zu fixieren. Vergeblich. Als Feuer, Wasser und Luft des inneren Lebens wird sie fortbestehen und bis zur Agonie der letzten beiden Seelen Freiheit verkünden …«

Gastón Marietti deutete seinen Unglauben an. Er schlürfte ein wenig Grand Marnier und schlug zurück: »Je nachdem, Op Oloop. Die menschliche Spezies ist zur Bisexualität zurückgekehrt. Sie hat die Kurve der Evolutionsparabel umgebogen. Wir befinden uns bereits in einer neutralen Phase, in der es bald – in x Jahrhunderten – weder Männer noch Frauen geben wird, sondern Männer-Frauen. Personen von hermaphroditischer Gestalt werden immer häufiger. Ein englischer Chirurg hat das Phänomen in der medizinischen Zeitschrift ›The Lancet‹ betrachtet und postuliert die mehr oder minder nahe bevorstehende Vereinigung der Fortpflanzungskräfte in einer einzigen Person. Das ›Individuum‹ – trügerisches Wort – wird seine ursprüngliche Beschaffenheit des in diviso zurückgewinnen. Und die absurde ›Eigenliebe‹ wird dann eine vitale Notwendigkeit von großer Bedeutung im Bereich der Erotik sein. Im übrigen zeigen die in den hochentwickelten Ländern nur zu zahlreichen ›Laborkinder‹, daß die heterosexuelle Liebe weder interessiert noch überzeugt; denn ist das Rätsel der Biologie einmal überwunden, ist die Chemie der Seelen nicht unbedingt nötig. Damit im Zusammenhang: Die Verlangsamung des Heiratsverlangens, von der Pubertät auf das Erwachsenenleben herausgeschoben, bringt es mit sich, daß die Liebe als sexuelle Verpflichtung hinausgezögert wird, das heißt, daß ihr Erleben abgeschwächt wird oder sich langsam im kollektiven Bewußtsein abschwächt. All dies beweist, daß die gegenwärtigen Quellen des Lebens dabei sind, zu versiegen. Und daß, wenn wir wieder zu dem, was wir ursprünglich waren, geworden sind – nämlich zu reinem Sein –, dies den Genuß des göttlichen Privilegs beinhalten wird, in uns selbst geboren zu werden, in uns selbst zu sterben und in uns selbst unsere eigene Nachkommenschaft zu haben.«

Diese Replik sorgte für allgemeine Bestürzung.

Op Oloop murmelte lediglich: »Gastón, es ist entsetzlich, die Zukunft zu kennen!«

Doch Erik Joensun schaffte es nicht, sich zurückzuhalten: »Dann wird man also nicht mehr masturbieren müssen, ha, ha …

Dann wird man sich also selbst schwängern können und gebären, ha,ha …«

»So ist es.«

»Und Sie vertreten das: ein Zuhälter!«

»So ist es.«

»Demnach erwartet Ihren Beruf ja eine schöne Zukunft!«

Das Gesicht von Gastón Marietti drückte Mitleid aus.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Solange die Liebe von der geltenden Moral als Tabu erachtet wird, solange diese die Triebe – die schon aufwachen und versuchen, sich selbst zu versorgen – unerreichbar begräbt, werden wir, die Mädchenhändler, noch eine messianische Rolle haben …«

»Sie, ein Messias! Ha, ha …«

»Jawohl, Kapitän, ein Messias. In jeder Hure steckt eine enttäuschte Frau. Sie verkauft sich als Reaktion auf die Enttäuschung einer fehlgeschlagenen reinen Liebe. Wir Zuhälter handeln immer auf der Basis der Ernüchterung von enttäuschten Frauen. Und sie lieben uns. Sie lieben uns magdalenenhaft. Jesus war auf gewisse Weise ein Vorreiter …«

Schwerelos, burlesk genoß der Gastgeber den Groll seines Landsmannes. Um ihn noch mehr anzustacheln, fügte er hinzu: »Jawohl, Erik. Jesus war ein Vorreiter von Gastón. Jawohl, von Gastón, diesem doppelzüngigen Korsen, der neben ›Henri-la-musique‹ und ›Coco-le-coiffeur‹ in der La Cannebière erzogen wurde … Magdalenenhaft traten ihm Tausende von enttäuschten Frauen in den Weg, und um sie zu erlösen, verschiffte er sie nach Kairo, Bangkok, Dschibuti oder Batavia. Seine Apostel: Anwerber, Schieber, Kuppler, erledigten das übrige: den Schmerz der Frauen in ihrer wollüstigen und lukrativen Resignation auszunutzen. So wie du ihn da siehst, von der Hand des Schicksals geleitet, entdeckte Gastón die ›Meile von Buenos Aires‹. Begreifst du das? Es ist ein internationaler Siegeszug. Im Gegensatz zu unseren Vorfahren, den Wikingern, die mit ihrem Puritanismus etwas Zotiges mitbrachten, brachte er der Pampa – weites Brachland aus Wichserei und Durst – die weibliche Zierde Frankreichs. Magdalenen aus Dunkerque, mit wasserfarbenen Augen, für die Spröde der Provinz San Luis; Magdalenen aus Lourdes, knackig und süß, für die windige Einöde Patagoniens; Magdalenen aus Lille, schlank und rüstig, für das abgerissene Flachland von La Rioja .., Etcetera. Und für den stehengebliebenen Motor von Buenos Aires den sinnlichen Magneten von Paris. So genossen und genießen dank seines Einsatzes Tausende Orte die Nähe der Frau, nach der sie sich voller Sehnsucht verzehren, weil sie den Gegensatz zu ihnen verkörpert. Und die linkischsten Leute können die Wirklichkeit ihres Traumes berühren und sich an einer auf andere Weise fast unerreichbaren Glückseligkeit laben. Ich bringe ihm hiermit meine Huldigung dar. Die tariflich geregelte Liebe, die mir dieser große Bankier des Geschlechtsverkehrs zugänglich gemacht hat, ist mir Göttertrank für tausend bittere Stunden gewesen. Stoßen wir auf Gastón an, den edlen Wohltäter des Landes.«

Der Toast wurde geteilt aufgenommen.

»Es scheint mir nicht plausibel«, führte der Luftfahrtkommissar aus, »ein Motiv dieser Art zu feiern. Die Prostitution ist das Verderbnis …«

»Und Madame Noélie Maynard? Hick. Und ihr Haus für massage-curiosités? Hick. Und unsere Orgien mit confort moderne? Hick. Hi…pokrit.«

»… die Prostitution ist das Verderbnis der Liebe. Wenn es sie nicht gäbe, würde unsere Jugend nicht zu siebzig Prozent in den medizinischen Untersuchungen als untauglich für den Militärdienst erklärt werden.«

»Wunderbar! Selbst darin ist sie von Vorteil! Die Prostitution hält den Krieg auf Distanz, indem sie die Truppenstärke des Heeres schmälert. Niemals ist eine Nation friedlicher, als wenn sie schwach ist!«

»Deine Worte ekeln mich an, Op Oloop. Ein krankes Volk einem arroganten Volk vorzuziehen!«

»Jawohl. Natürlich mache ich das. Die Krankheit läßt sich besser aushalten. Sie zieht gütige und weise Freunde an, die nie an Trost und Aufmerksamkeiten sparen. Die Arroganz hingegen weckt Haß und vernichtenden Wetteifer …«

»Oh, ich kann es nicht mehr hören! Du lobst das Laster wie irgendein Taugenichts. Wo ist deine Ehre geblieben?«

»Ich hatte ein Hündchen, das Ehre hieß.«

Der Einwurf des Studenten, nur aus dem Grunde hervorgebracht, um etwas zu sagen, war durch seine Unerwartetheit noch lustiger. Alle lachten und kommentierten ihn nach ihrem Geschmack:

»Ich hatte ein Hündchen, das Ehre hieß!«

»Ich hatte ein Hündchen, hick, das Ehre hieß …«

»Ich hatte ein Hündchen, das Ehre hieß und am Eingang der Kathedrale und des Regierungssitzes ebenso sein Bein hob wie vor dem des Jockey Clubs und der Staatsbank …«

»Entschuldigen Sie, Op Oloop, im Jockey Club habe ich Sie nie gesehen.«

»Richtig. Ich hatte ganz vergessen, daß Sie Mitglied sind.«

»Sie, ein Zuhälter, Mitglied im Jockey Club!«

»Ja, Erik. Zähmen Sie Ihr Erstaunen. Ich bin es aus eigenem Recht. Meine berufliche Abstammung weicht nicht von der der anderen ab. Sie ist ihnen gleich. Ich bin nur eine Speiche im Rad, wie so viele in diesem Kreis von … Gewinnlern des Finanzwesens, der Politik und der Bestechung. Die käufliche Unzucht ist kein Verbrechen: sie ist ein Geschäft. Der Frauenhandel – nach der vom Völkerbund verwendeten Bezeichnung – ist auch eine Frage der élevage. Meine eigenen Statistiken zeigen auf, daß vierzig bis sechzig Prozent der Huren aus den niederen Berufsklassen stammen: Dienstmädchen, Näherinnen, Revuegirls, die den kultivierten und galanten Umgang mit Männern, die saubere Trickkiste des Toilettentisches und die Annehmlichkeiten von Lust und Luxus für ihren ›Aufstieg‹ nutzen wollen. So, mein Freund, erreiche ich die Verdienste, die meine Klubkollegen durch den Import von guten Zuchtstuten erlangen, durch den Import schöner Stutfohlen …«

»Eigentlich gibt es wirklich keinen Unterschied zwischen dem ›cafisho‹ von Pferden und Frauen!«

»›Cafisho‹? Was ist das, Robín?« fragte Ivar Kittilä eilig, der darauf bestrebt war, jedes Wort zu verstehen, mit dem Lunfardo, dem Argot von Buenos Aires, jedoch nicht vertraut war. »Also, ausbeuten, ein ›cafisho‹, ein Zuhälter sein.« »Gewiß«, schaltete sich Op Oloop ein. »Doch ursprünglich war ›cafisho‹ die Verballhornung eines italienischsprachigen Einwanderers für das Wort stockfish. Vielleicht ein Lebensmittelhändler, der nach einer Beleidigung suchte …«

»Mensch, Sie haben recht! Auf die gleiche Weise entstand vielleicht aus der Beleidigung einer ›francesa‹, einer Französin, für einen zauderhaften Kunden, einen flaneur, das Wort ›franela‹ für anheizende Liebkosungen. Der Lunfardo ist eine interessante Angelegenheit. Jetzt fällt mir ein, daß ›cafiolo‹ vielleicht einer ähnlichen Etymologie folgt. Ob es nicht von einer despektierlichen Wortverkürzung kommt, ausgestoßen gegen einen dieser Bordell-Luden, die von café au lait leben?«

»Es ist wahrscheinlich, Gastón. Sie werden gehört haben, daß man hier singt:

Mambrú ist in den Krieg gezogen ich weiß nicht, wann kommt er zurück … und derart das uns bekannte Kinderlied abändert: Marlborough s'en va-t-en guerre Il pleut, il pleut, bergère …«

»In der Tat.«

»Gut. Dieses Merkmal des hochmütigen Aufgreifens und der schamlosen Wortverkürzung kann den Lunfardo an unvorhergesehene Grenzen des lexikographischen Ausdrucks führen.«

»Mir gefällt er deswegen. Seine Ungeniertheit erlaubt ihm in diesem von Einwanderern überschwemmten Land, sich in alle Sprachen hineinzudrängen, sie auszuplündern und aus feierlichen Begriffen Wendungen zu machen, die durch ihre burleske Bedeutung bissig sind. Seit ich hier bin, erfahre ich am eigenen Leib die Russifizierung von maquereau. Woraus mag der ›makroff‹ oder ›macrof‹, der Lunfardo-Ausdruck für Zuhälter, entstanden sein? Oftmals frage ich mich das. Das ›Diccionario de Argentinismos‹ von Don Tobías Garzón sagt nichts dazu. Ich glaube, daß beim Verhör irgendeines polnischen Kollegen dessen Aussprache und die Ignoranz des Polizeibeamten das Wort aus der Wiege gehoben haben.«

»Ob sich ›makrof‹ nicht von der griechischen Vokabel makros, gleichbedeutend mit lang, groß, hoch, ableitet?«

»…«

»›Macrof‹ wird noch zu einem erhabenen Wort werden!« knurrte Erik.

»Hören Sie! Ich hab's! Von Makrophage, Makroph-age! Die Bedeutung – ein weißes Blutkörperchen, das eingedrungene Fremdstoffe auflösen kann –, ich leugne es nicht, paßt sich dem Gewerbe an. Sie schlingen in sich hinein …«

»Also bitte, Op Oloop! Würde ich auf identische Weise vorgehen, könnte ich aufzeigen, daß maquereau aus dem Lateinischen kommt: von machaera, Hackmesser, Krummsäbel, Machete. Und ich benutze nicht einmal ein Federmesser …«

»Uff! Sie nerven schon, hick.«

»Das hier ist nicht die Sprachakademie.«

»Regen Sie sich nicht auf, Caballeros. Ich habe die Pflicht, die Technik meines Berufs und die universale Semantik der Unterwelt zu kennen. Wenn hier die gleichen Bezeichnungen: souteneur, thôlier, tenancier, wie in meinem süßen Frankreich verwendet würden, wäre die Sache einfacher. Doch noch mangelt es an einem Émile Chautard, der über den Lunfardo ein dem ›La vie étrange de l'Argot‹ vergleichbares Werk schreiben würde. Wenn wir es besitzen werden, werde ich mich mit dem Partikel ›mac‹ zufriedengeben, dem Zufluß von wöchentlichen Wechseln und meinem täglichen Glas picon-grenadine.«

Die Arbeit der Kellner, die den Tisch nach dem luxuriösen Auftragen der Nachtische abräumten, war geräuschvoll, obschon diskret, und brachte eine erzwungene Unterbrechung in der allgemeinen Unterhaltung mit sich.

Slatter nutzte den Augenblick, um zum water-closet zu gehen.

Erik, das Gesicht immer glänzender und geröteter, tuschelte mit Ivar, dessen glatte und runde Züge durch den Kontrast noch bleicher erschienen. Allem Anschein nach ging es um Op Oloop, denn als dieser sich eine Zigarette anzündete, beobachteten beide eifrig, wie er mit müden Augen versunken die Flamme des Streichholzes betrachtete; mit müden Augen, die von weit entfernten inneren Horizonten zurückkehrten.

Es gibt perfekte Wesen, die – vielleicht aus Verdruß über ihre Tadellosigkeit – Gefallen daran finden, sich mit ungeschlachten Individuen zu umgeben oder deren Freundschaft zu suchen. Ist dieses Phänomen wohl eher der Gefühlswelt zuzuschreiben oder einem Ausgleich der Natur? Darüber dachten sie nach und gaben ihre Kommentare ab. Gastón Mariettis Persönlichkeit stieß ihnen sauer auf. Seine unausweichliche Logik in der Unlogik und seine unerschütterliche Treue zu den absurdesten Perversionen erschien ihnen von ungesundem Einfluß auf ihren Freund. Ihre Moral, einfach und von nackter Schönheit, erlaubte weder eine Komplexität dieses Ausmaßes noch einen derartigen Gebrauch von Zerstückelungen und Paradoxien. In den mitleidsvollen Gesichtern, die sie ihrem Landsmann zuwandten, zeichneten sich ihre Qual und ihre Besorgnis ab. Rebellion und Blasphemie sind dem Mund des Schüchternen näher als dem des Wagemutigen. Doch das wußten sie nicht. Und während sie sich an den jugendlichen Op Oloop erinnerten, in sich gekehrt und diszipliniert, nahmen sie väterlich Zuflucht zu der Erklärung einer bösartigen Ansteckung durch »die schlechte Gesellschaft« des Zuhälters.

Gastón Marietti nahm mit einem Blick intuitiv den Unbill dieser Überlegungen wahr. Er wollte seine Erbitterung herausbrechen lassen, doch er hielt sich zurück. Die Anstrengung zog ihm den Magen zusammen und ließ ihn aufseufzen. Verdrießlich schob er einen Aschenbecher aus englischem Silber zwischen die Flüsternden, um das Getuschel zu unterbinden. Die fast inquisitorische Haltung, die seine Geste hervorrief, bestätigte die Abneigung der beiden Finnen. Um seine wahre Absicht zu verschleiern, teilte er ihnen mit: »Die Zigarren kommen.«

Und er löste den bitteren Ausdruck von seinem Mund.

Der maître bot dem Studenten die erste Zigarre an und besänftigte so, mit heuchlerischer Ehrerbietung, dessen Verärgerung vom Beginn des Dinners. Slatter nahm bei seiner Rückkehr im Vorbeigehen die zweite. Und alle außer Op Oloop und Gastón brachen Marken, Siegellack, Bauchbinden und Zollverschluß auf, packten die riesige Havanna aus ihrem Glashangar und ließen sie umgehend zwischen ihren Lippen einrasten.

Eine Atmosphäre, die den Duft von Korduan und Zimt, das Aroma von Sandelholz und Kaffee ausatmete, breitete sich um den Tisch aus. Der Qualmvorhang – die übrigen Lichter des grill room waren bereits gelöscht – nahm im Halbdunkel die real wirkende Erscheinung von Tüll an. Und durch den Kontrast des vom Lampenschirm auf das Eiland der Tischdecke projizierten Lichtkegels, bildete sich ein magisches Szenario mit fünf karminroten Brennpunkten. Op Oloop, dessen müde Blicke von weit entfernten inneren Horizonten kamen, erfreute sich an dieser Verzauberung, in der die seidenen Bordüren für ihn zu einer seltsamen Lianenkette wurden und die durchsichtige Bauchflasche zum seichten Wasser eines Weihers.

In Gedanken versenkte er sich ganz in diese Vorstellung. Und während er zum Zuhälter blickte – dem einzig Finsteren – sprach er, ohne sich zu hören, mit sich selbst, was die beste Art ist, jeden zuhören und keinen etwas verstehen zu lassen.

»Franzi? ... Ja, mit mir ....... Oh, Franzi! ........... Sehr schlecht ....... Wer hätte das gedacht? .......... Verloren .... Absolut verloren .......... Nichts da mit nein ..... Doch. Und der Schlüssel liegt in dem Biß ............ Im Biß! ................ Was für Arme du hast! ....... Saftig ... Aus saftigem Birnenfleisch ............... Oh, nein! ........... Absolut nicht ....... Keine Schmeichelei ....... Du gefällst mir so ........... Größe 1,62, Hals 32,4, Oberweite 82, Taille 58, Hüfte 86,4, Oberschenkel 44,4, Wade 28,8, Knöchel 18, ahhh! ....................... Ja, auswendig ....... Die perfekten Maße! ..... plusquamperfekt ....... einer noch nicht aus den Träumen gerissenen Venus ................. Ja, klar ...... Doch mehr noch, wenn du für mich allein daheim in deiner grazilen Nacktheit prangst .............. Pst! .... Niemals! .... Das liegt daran, daß du meinen Schatten nicht gesehen hast ... zerfetzt ... geflickt! ............. Oh, mein Schaaat-ten! ....... Übel zugerichtet von fürchterlichen Krokodilsbissen ............... Ich versichere dir, nein .... Er scheint gleich, ist aber anders ............ Ich habe ihn mit Gemsenfragmenten restauriert ........... Und er zieht an mir, verlangt nach mir und macht Schimpansensprünge ................ Niemals! .... Es ist schrecklich! ....... Ich möchte den Schatten deines Diamanten im Wasser nicht trüben .......... Ich möchte nicht ..... Dein Schatten würde leiden ..... Denn, weißt du: die Schatten leiden ............ Deine Absichten schmerzen mich ebensosehr wie ein physischer Schmerz ............ Mein Schatten wird schon farblos in der Epidemie von verblaßten Niederlagen ...... Nein! ... Laß mich! .......... Ich muß wimmern .......... Auch ich predige mir von der Herzkanzel aus Trost .......... Doch es ist vergeblich! .... Ver-geb-lich ........ Ich bin ein verdammter Priester .......... Hui! ... von unerbittlichen Bissen gebissen ................ Nichts, nichts! ... Ich muß mich von Stille nähren ........... Von der nahrhaften Stille des Todes ........ Ja, Franzi, my baby! denn deine arrogante Unschuld ist schlimmer als die Perversität ............. Und mich selbst beißen ......... hui! ....... der logische Dämon einer logischen Hölle ........... hui! ............ wie eine umkehrbare Hyäne ............ deren aus der Fiktion herausspringendes Bild .......... huuuuiiii! ...... huuuuuuuiiiiiii! ..... ewiglich meine Seele beißen wird ................ Aaah!«

Die Verwunderung brachte den Lidschlag zum Stillstand und ließ die Münder halb offenstehen. Die Zigarren lagen – einige erloschen – zwischen den schlaffen Fingern.

Niemand wollte auch nur ein Wort sagen.

Op Oloops Psyche begann aufs neue in seine Epidermis einzufließen. Während er das Gemälde seines Traumes entwarf, marterten delirierende Götter aus unerforschten Regionen sein Gesicht in einem heimtückischen und schäbigen Hexentanz aus Grimassen, Wehgeschrei und Gejaule. Die Bitterkeit jener Abwesenheit der Seele war in seine Physiognomie eingeschrieben. Er spürte ein Verlangen zu weinen. Und da es sich nicht in Klagelauten äußerte, plagte ihn die Kümmernis immer hinterhältiger. Diese Anmutung des Opfers, eines noch bedrängten Opfers, hielt ihn lange gefangen. Das Bewußtsein war noch ausgeschlossen, eine verkrüppelte Masse, die zwischen den Trümmern der eigenen Persönlichkeit dahintaumelnd den Pfad des Verstandes suchte.

Das Stillschweigen seiner Gäste war eine verständliche Feinfühligkeit. Jeder Satz hätte in diesem Moment in dem leeren Gehäuse seiner Tierhaftigkeit widergehallt. Und vielleicht einen wachen Moment oder das Bewußtsein seiner geistigen Umnachtung hervorgerufen; in welchem Fall die Erkenntnis seines krankhaften Zustands und seine Hilflosigkeit ihn in Schluchzen und Verzweiflung hätten ausbrechen lassen: ein trauriger Umstand, der dem Sarkasmus des Verrückten, der sich nicht für verrückt hält, an Pathos noch überlegen ist.

Das Zurückfließen des Geistes überschwemmte daraufhin seinen Körper. Und seine in zarten Tönen schillernden Augen – die gerade die dunklen Fragmente seiner Seele enthüllt hatten: diesige, von sentimentalen Wesen bewohnte Rätselhöhlen; schwer symbolisch zu identifizierendes Traumgesindel; Vorstädte voller makabrer Impulse und Kataloge von dandyhaften Empfindungen, die aus Snobismus verborgen bleiben – seine Augen eroberten die nahe Umgebung des Lebens und der Menschen zurück, als wäre nichts geschehen.

»Wie bitte, sie rauchen nicht?« fragte er in ruhigem Tonfall. »Rauchen Sie. Ich kann Ihnen versichern, es sind die besten Zigarren, die man in Buenos Aires bekommt. Es handelt sich um eine Ausnahme-Manufaktur, in Zusammenarbeit mit den Protokollchefs der wichtigsten Staaten der Welt. Als ich in Kuba war, hat Enrique José Varona, ein ausgezeichneter Kenner von Tabakplantagen und Quellgründen und ein Experte für Anbau und Herstellung von Zigarren, mir diese Marke als ein exquisites Privileg empfohlen.«

»Und Sie, warum rauchen Sie nicht?« warf Robín ein, während er seine Zigarre anzündete.

»Ich habe mit zwei Zigaretten am Tag genug. Und ich halte den ägyptischen Mischungen die Treue – Dimitrinos, Matoussian, Senoussi – auf der Basis von Tabak aus Makedonien …«

Der natürliche Tonfall seiner Worte, in Verbindung mit der Frische seines Gedächtnisses, brachte alle zu der Überzeugung, daß Op Oloop aus dem schwierigen Moment würdevoll herausgetreten war. Nur Gastón nicht, denn da es ihm vor Augen führte, daß die Zeit für seinen Freund nicht verstrich, bezeugte gerade der Rückgewinn seiner Sinne die Schwere der Anomalie; die Aussetzer in ihrem mentalen Mechanismus, die eine Person nicht wahrnimmt, sind es, die unvermeidlich zur Katastrophe führen.

Sein Scharfsinn gebot ihm daher, das Gespräch samariterhaft anzuregen, um Op Oloop aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Doch Ivar unterbrach zuerst die zunehmend peinlichere Stille.

»Sie waren also in Kuba. Was für ein großartiges Land, eh? Von Maiami, in Flórida …«

»Von Miamí, in Florída … Spanische Worte in spanischer Aussprache.«

»… bin ich dreimal auf die Insel geflogen, um Szenen mit Kubanern zu drehen.«

»Ich kenne nur La Habana. Auf der Durchreise: eine Woche. Ich kam von New York, oder besser gesagt, von Washington, wo ein vom Direktorium des ›American Graves Registration Service‹ verursachter Zwischenfall mich dazu veranlaßt hatte, zur Wahrung meiner Ideen und meiner Selbstachtung zu kündigen. Der Funktionär der Traurigkeit, der makabre Stratege hat damals sein ruhendes Heer verlassen!«

»Was sollen all diese Jeremiaden wegen zehn oder zwölf Millionen im Krieg gefallener Kerle! Ich wünschte, es gäbe einen neuen, damit Preis und Nachfrage für Weizen stiegen!«

»Erik!«

»Der Zufall ließ mich auf den Tabakhändler aus Kentucky treffen, dessen Sohn von soviel Feiern des Waffenstillstands inzwischen an delirium tremens gestorben war. Durch ihn bekam ich einen Posten im Kontrollbüro des ›Chadbourne-Plans‹, der, um den Aktionären höhere Gewinne zu sichern, darauf abzielte, die Zuckerimporte aus Kuba zu beschränken. Ich hielt es drei Tage lang aus. Genug, um festzustellen, daß der Volksmund irrt, wenn er sagt: ›Kuba ist aus Kork: es kommt immer wieder an die Oberfläche.« Die Yankees – Rabtone, Root, Morrow, Rockefeller, Guggenheim etc. – haben die ›Perle der Karibik‹ mit ihrer Plünderei und Habgier verpestet. Ihre Freiheit und ihr Territorium sind verschleudert worden. Das Platt-Amendment und die trusts zermalmen Martís Ideale. Um die Dividende wachsen zu lassen, sind sie nicht zimperlich mit den Mitteln: sie verbannen die einheimischen Anführer ebenso in Gegenden ohne Widerhall, wie sie Schwarze aus Haiti und Jamaika für die Zuckerrohrernte importieren. Und die Bürger von Kuba verhungern zwischen Siesta- Mattheit und Rumba-Tobsucht … Ich hielt es drei Tage lang aus. Und reiste ab. Niemals hat meine Wissenschaft sich in den Dienst der Schändlichkeit gestellt. Wenn ich irgendwann einmal Despotismus ertragen habe, dann geschah es, um ihn zu verdammen, indem ich die Unordnung, das Verbrechen und die Ungerechtigkeit klassifizierte.«

»Ach ja. Ich kenne deine Taktik. Um sich zum Freund des Arbeiters zu machen, reicht es aus, den Aufseher zu beleidigen …«

»Erik! Bitte …«

»Dann, zum Statistiker bei der Kemmerer-Mission ernannt, hatte ich Gelegenheit, mit exakten Zahlen die Halsabschneiderei, die Mißwirtschaft und die Betrügereien verschiedener südamerikanischer Nationen auszuwerten, den Amtsmißbrauch und die finanzielle Ruchlosigkeit von Diktaturen und Freistaaten zu vergleichen, und anhand von Zahlen die soziale Revolution wie einen vorbeugenden Folgesatz vorauszusagen, kaum daß das Volksbewußtsein die es umgebende Fäulnis wahrnehmen würde.«

Der Kapitän ertrug seine Ungeduld nicht länger. Dieses geschickt komponierte »Abendmahl« brachte ihn zum Toben.

»So-zi-ale Re-vo-lu-tion … Ein hübscher Ausdruck … Und danach?«

Op Oloop überwand die Störung gelassen und beschränkte sich darauf zu flüstern: »Danach: nichts. Nur ein Vers von Robert Louis Stevenson:

 

Ich bin bergab gestiegen und bergauf;
Ich litt und war rührig für und für;
Ersehnte alles, gab die Hoffnung auf;
Und ich lebt und liebt, und schloß die Tür.«

 

Der letzte Vers war kaum zu hören.

Ein unsichtbarer charme voll schmerzlicher Schönheit parfümierte seine Worte. Dann wurden sie von seinen Qualen zerstreut, und er schloß mit einem Seufzer, der eher seinen gesenkten Augenlidern als seinem Mund entsprang.

Entgegenkommen: Das Mitgefühl mit den Empfindungen der anderen bis zum Mitleid zu senken, war keine von Eriks Stärken. Seine Unterbrechungen – jähe Schlaglöcher in der Heiterkeit des Banketts – waren so zahlreich, daß sich der Gastgeber nicht einmal mehr an sie erinnerte. Er wußte, daß die Freundschaft seines Landsmannes treu, wenn auch bissig war. Und das reichte ihm. Eine Freundschaft mit versteckter Strömung, von der Art, die sadistisch versucht, das Gehör zur Verzweiflung zu treiben, um von dem reinen Gefühlsfluß abzulenken, der tief innen verläuft!

Nun äffte er brummelnd nach: »›Ich habe gelebt, geliebt und die Tür geschlossene … Bah, bah, bah! … Du hast nie geliebt …«

»Mir ist bekannt …«

»… wenn du geliebt hättest ›wie es sich gehört‹, hättest du nicht so viele Grillen und so viel Gram.«

»Laß mich sprechen«, scholt Ivar. »Mir ist bekannt, daß Op Oloop in Minna Uusikirkko verliebt war, die Tochter des Literaturlehrers am Gymnasium von Oulu. Ich war sein Vertrauter. Er sagte mir seine Verse und Delirien auf. War es nicht so?«

Der Tabaktüll umhüllte ein Lächeln.

»Genau.«

Der Moment war günstig. Gastón Mariettis Stimme glitt seidenweich herbei: »Mir ist es auch bekannt. Op Oloop war und ist einer der feinsten Kenner ›unserer Importprodukte‹. Sein Expertenbuch weist sicherlich viele interessante Notizen auf … Nicht wahr, mein Freund?«

Der Qualmvorhang glitzerte vor Spitzbübigkeit.

»Genau.«

»Die Liebe ist etwas anderes. Die Liebe weilt nicht im Puff. Sie verstehen nichts davon.«

»Welche Unwissenheit, Kapitän! Die Liebe ist allgegenwärtig und pantheistisch. Sie ist überall und in allen Dingen. Sie verwechseln die maisons d'illusion mit den Pißbecken. Ihre Ansicht erstaunt mich. Sie ist identisch mit dem, was eine gewisse pharisäische Moral predigt, den Blick nach außen gerichtet, zu Lasten der verrosteten Zensoren im Inneren. Die öffentlichen Häuser beherbergen mehr Zärtlichkeit, Liebkosung und Liebe als viele »respektable« Heimstätten von verschlagener Geilheit und heuchlerischer Zügellosigkeit. Die weibliche Belegschaft eines Freudenhauses liebt unendlich viel mehr als die einer Munitionsfabrik oder eines Klosters der Barmherzigen Frauen. Die Leidenschaft – die der Großzügigkeit gleich ist – beschränkt sich in ihnen weder darauf, den Schrecken des Todes zu produzieren, noch verpflichtet sie dazu, Grauen vor dem Leben zu empfinden, vielmehr ist sie losgelöst und überschüttet den Durst der Männer mit ihrer Gabe. Die Freigebigkeit des Lasters ist demnach eine legitime Tugend, an der es den Scheinheiligen mangelt, die heimlich masturbieren. Sonst nichts.«

»Mir scheint, daß Sie das Pferd beim Schwanz aufzäumen«, kommentierte Peñaranda. »Der Frauenhandel wird die Spezies vernichten, da er die Krankhaftigkeit einer biologischen Anomalie verbreitet.«

»Absolut nicht. Verwechseln Sie das luftigleichte Leben nicht mit dem in die Luft gehenden Leben … Der Luftverkehr ist tödlicher als der Liebesverkehr …«

»Ich bin der gleichen Meinung. Ich bin Mitarbeiter im Ausschuß zur Erforschung und Bekämpfung der Syphilis. Statistiken zufolge, die uns vorliegen, verursacht die Syphilis in den Ländern, die die Prostitution abschaffen wollen, größere Verwüstungen als in denen, die sie reglementieren.«

»Bravo, Robín! Ihre Daten begeistern mich!« brach Op Oloop heraus. »Sie stimmen mit meiner persönlichen These überein. Die Prostitution ist Hemmungslosigkeit, nicht Verbrechen. Als solche, als eine Bewegung, die die Seele entspannt, kann sie geläutert und durch einen Objektwechsel der erotischen Neigung selbst in eine Kraft verwandelt werden, die die immer verbreitetere sexuelle Apathie zügelt und umkehrt. Unsere Organisation der Liebe ist furchtbar schlecht. Die Griechen strukturierten das sexuelle Leben der Bürger in drei parallellaufende Kategorien. Sie hatten die Ehefrau im Gynaeceum, für die Fortpflanzung; die Hetäre im Symposion, für die geistigen Ergehungen; und die Dicteriade im Bordell, für die Verlustierung der Triebe. Ich glaube an die Dreiphasen-Liebe. Die gegenwärtige Herangehensweise an das Problem ist lachhaft. Die Prostitution verdient als eine Facette die Untersuchung ihrer inneren und äußeren Ursachen sowie Respekt für ihre soziale Bedeutung. Die Sowjets befinden sich durch und durch auf dem Irrweg in ihrem Verlangen, sie unterdrücken zu wollen. Was folglich angemessen wäre, ist, die Huren auf den rechten Weg zurückzubringen, bis hin zu ihrer Weihung durch die Mutterschaft. Die Verachtung der Vagina wird durch das Gebären aufgehoben. Nie habe ich Mütter gesehen, die mehr auf die Seelenreinheit ihrer Kinder bedacht gewesen wären, als die, die Prostituierte waren.«

»Ein Hoch! Dann werden wir ›Hurensohn‹ rufen können, ohne daß man uns das Gesicht einschlägt … Hoooch! Hick.« Der Luftfahrtkommissar war entrüstet. »Ihre Heterodoxie verwundert mich, Op Oloop.« »Heterodoxie? … Uterodoxie!« »Was für eine Schande!«

»Ich wüßte nicht warum, Erik. Das heutige Datum ist für mich ein großer Tag. Ich gedenke just einer fast tausendfachen Erfahrung rund um die Liebe. Vom siebten August neunzehnhundertvierundzwanzig an, an dem ich meinen Fuß auf amerikanischen Boden setzte, bis zum heutigen Tage habe ich regelmäßigen, systematischen Kontakt – zweimal pro Woche: mittwochs und sonntags – mit Aphrodite Pandemos, der volkstümlichen Venus, Bordellschwester, Straßenschwalbe oder Illegalen, gepflegt. Ich sage fast tausendfache Erfahrung, weil …«

»Auf den Punkt, auf den Punkt.«

»… es neunhundertneunundneunzig sind …«

»Wie bitte! Du möchtest also andeuten, daß diese Einladung:

 

›Hochwohlgeborener Ivar: Ich werde Dir zutiefst verbunden sein für die Dienste, die Du meinem Geist durch Deine Anwesenheit an der Tafel erweisen wirst, die ich heute abend um 21.30 Uhr im Grill del Plaza decken zu lassen gedenke.‹

 

nichts geringerem unterliegt, als deine neunhundertneunundneunzig ›Schäferstündchen‹ zu feiern?«

»…!«

»…!«

»Nein: die tausend. Heute nacht bin ich dran …«

»Ein schöner Anlaß!«

»Das nenne ich eine Schamlosigkeit!«

»Jawohl, schön und rühmlich. Die menschliche Natur zwingt uns unsägliche Verpflichtungen auf, die man bei der Strafe, in psychomoralische Fehler zu verfallen, beachten muß. Unser hormoneller Hintergrund gibt sich weder mit Dogmen noch mit Ratschlägen zufrieden. Er verlangt danach, zu lieben. Und man muß ihn zufriedenstellen; denn die Liebe ist wie ein Geschwür, das man künstlich öffnen und erhalten muß, um die Geschwüre der Seele durch die Drainage der Körpersäfte zu heilen. In diesem Sinne habe ich niemals auf den heiligen Paulus gehört, wenn er predigt: ›Bonum est homini mulierem non tangere‹ - ›es ist gut für den Mann, keine Frau zu berühren«. Vor die Wahl gestellt zwischen dem konvertierten Juden von Tarsus, der das Maklergeschäft des Christentums im mare nostrum übernahm, und irgendeinem modernen Weisen: Kretschmer, Jung, Pende, die allerorten die Psalmen der Wissenschaft verbreiten, ziehe ich dem Erstgenannten alle übrigen vor. Daher habe ich, dem Apostel entgegenhandelnd, so viele Frauen berührt, wie ich nur konnte …«

»Neunhundertneunundneunzig! Eine vortreffliche Heldentat!«

»Es kommt darauf an. Die Heldentat läge in der Überwindung des Überdrusses. Die unbefriedigte Libido ist von lebhafter Vorstellungskraft. Sie offenbart sich in Träumen, die an den Koran denken lassen, mit offenherzigen Huris oder in fleischlosen Koiten mit reizenden Sukkuben. Im Gegensatz dazu bereitet der methodisch gestillte Durst die Unterdrückung des Durstes vor. Die überdrüssige Funktion wird mechanisiert. Und unterbrochen. Ich habe das selbst festgestellt. Sorgfältig, umsichtig, wurde meine Begierde von Anfang an von meiner Neigung zu den Zahlen gehemmt. Die maskuline Liebe, von Natur aus mit einem schlechten Gedächtnis ausgestattet, ich habe sie in permanenter Erinnerung systematisiert. Welch enorme Tragödie! Ich habe das genaue Gegenteil von Don Juan, Ihrem ruhmreichen Landsmann, getan …«

»Don Juan, ein Korse?«

»Ja. Unterbrechen Sie ihn nicht. Lesen Sie die Biographie von Don Miguel de Mañara.«

»… der liebte und vergaß. So hat sich meine erotische Genauigkeit in bedrückendes mathematisches Streben verwandelt. Ich habe die Frauen besessen, um ihre Karteikarten zu besitzen. Der ›Besitz‹ hat sich vom Fleisch in die Statistik verlagert. Und ich weiß nicht, welchen seltsamen Zauber ich darin fand, den Geschlechtsverkehr an die Zahl zu koppeln, so daß ich den Genuß der Kopulation verschob und ihn erst in der Glückseligkeit der Berechnung wiedererlangte. Ich sollte Sie nicht mit dem Bericht dieser langen Rundreise durch die tariflich geregelte Liebe belästigen. Ich legte an jeder sinnlichen Mole mit aufgerichtetem Bugspriet an …«

»Es lebe der Bugspriet von Op Oloop! Hick.«

»… und stach sofort wieder befriedigt und mit eingezogenen Segeln in See.«

»Die männliche Liebe ist nichts weiter: ›Eingezogenheit‹ nach dem Orgasmus und Befriedigung dadurch, sich der Sehnsucht hinzugeben …«

»Prächtig, Robín! Der Alkohol verfeinert Sie … Voller Zärtlichkeit setzte ich also auf diese Weise ein extravagantes Logbuch auf, in dem die Wahrheit sich mit der Ausschweifung und der Poesie paart. Es ist das einzig Schöne, was ich in meiner Laufbahn gemacht habe. Hier haben Sie es. Lesen Sie!« »Lesen Sie selbst.«

»Nichts lieber als das. Anfangspunkt: der Tag meiner Ankunft in Amerika: der siebte August neunzehnhundertvierundzwanzig. Ich werde auf die Spaltenüberschriften verzichten:

 

BIRDIE, 17 Jahre. Blond, »cheveux de lin«. Revuegirl bei Ziegfeld. Was für Brüste! Meine Hände höhlen sich noch immer aus.

SOLANGE, 38, »brünette«, Französin. »Veteranin«. Vier Schwestern, auch Prostituierte. »Chiqueteuse«. Fünfzehn Dollar!

MERKEL, 26, Litauerin, fast Albino. Narbe von einer Kaiserschnittoperation. Schwammig. Ranziger Schweiß. Abstoßend.

DOLORES, 25, Andalusierin, schwarz wie eine Olive. Eine Murillo-Schönheit vor makabrem Hintergrund, eines Valdés Leal würdig.

MARITZA, 42, Wienerin, unauffällig. Eine Freundin von Strauß, dem von »An der schönen blauen Donau«. Sieben Abtreibungen. Der Walzer geht weiter …

FAY, 18, Tochter eines Japaners und einer Mexikanerin. Ölig glänzendes, gescheiteltes schwarzes Haar. Ein Bibelot aus Bronze. Hätschelei und Grausamkeit.

KLYMENE, 31, Griechin, tizianblond. Dürr wie eine Bohnenstange. 19 Jahre »dabei«. Kultur und Koitus stechend.

SHEILA, 22, Marokkanerin aus der Kasbah von Oran. Kupferfarben. Sandige Haut. Affektiert. Selbstsüchtig.

TANKA, 14, Indiomädchen aus dem Cuzco, zitronengelb. Impenetrabel. Argwöhnischer und spitzer Blick eines durch eine Ritze einfallenden Sonnenstrahls.

GWILY, 29, Yankee, rotblond. Ex-Sekretärin der Legation in Quito. Alkaloide. Gewisse Drogen …

COLUMBA, 16, Honduranerin, negroid. Tropisch heiße Scheide. Schlangenhafte Zuckungen. Übelriechend.

DENDERAH, 25, Ägypterin, eine Haarpracht ähnlich wie die von Nofretete. Glubschaugen und Khol. Rasiertes Schamhaar.

LUDMILA, 38, Russin, dunkelhaarig. Tänzerin aus der Truppe von Nijinskij. (?) Enormer Hintern. Hüftschwung einer Gondel.

BEBA, 23, argentinische Mestizin, schwarzglänzendes Haar. Teint »bois de rose«. Sehr eingebildet, aber unbeschreiblich!

 

»Es reicht, es reicht! Abstoßend, soviel … Statistik.« »Wirklich, Op Oloop … Halt ein.«

Verschlagen, diabolisch hörte der Gastgeber auf zu lesen und pflichtete abwechselnd dem U-Boot-Kapitän und dem Luftfahrtkommissar bei.

»Verzeihen Sie mir. Ich erkenne meinen Mißbrauch. Sie so sehr über und du so sehr unter diesen Dingen! … Von den Wolken aus muß die Liebe etwas Unbedeutendes sein; denn die Höhe verkleinert und löscht. Und vom Grund des Meeres aus etwas Monströses; denn die Wassermasse fungiert als entstellende Linse. Nehmen Sie meine Entschuldigung an. Da wir anderen jedoch auf Straßenhöhe laufen, erlauben Sie mir gerade einmal zwei Worte der Erklärung. Mein Notizbuch ist ein Werk der Erfahrung, nicht der Lust. Es ist weder ein ›Guide-Rose‹ für den Gebrauch der maquereaux noch eine galante Anleitung für den Gebrauch von Grünschnäbeln. Die tausend Huren, die ich physisch und erotisch verglichen habe, haben mir geeignetes Material für unzählige Analysen und Ableitungen geliefert. Auf ihrer Grundlage könnte ich Ihnen im Handumdrehen eine Nomenklatur der Rassen, Nationen und am meisten prostituierten Zonen des Planeten nennen; die Altersindexe der Verführung, Zeit der Berufsausübung und der Enttäuschungsphase der Opfer des Umschlagplatzes; die Statistiken, die sich auf den gesundheitlichen Aspekt des Problems beziehen und seine ethisch-sozialen Gefahren; den Prozentsatz der begünstigenden Faktoren: Elend, niedrige Löhne, Faulheit, schlechte Vorbilder, Luxusleben etc.; die Übersichtstafel der biologischen Ursachen: Vererbung, Erblasten, Degeneration; den durchschnittlichen Verdienst von Händlern, Kupplern und Dirnen; die unterscheidenden Merkmale zwischen der ›Meile von Buenos Aires‹ und der ›Meile von Shanghai‹; der internationale Lebensstandard der Freudenmädchen; und sogar die Vorlieben, die auf dem Markt durch die Wahl ihrer Namen und Spitznamen hervorgerufen werden.«

»Mensch, he, Sie sind ja genial!«

»Wirklich, außergewöhnlich!«

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß er in der Lage ist, uns den Index für die universale Ansteckung mit Filzläusen zu nennen!«

Der Chef des Amtes für Wasserversorgung hickste schon nicht mehr: »Mal sehen, könnten Sie mir den Prozentsatz an Lulus, Toscas und Margots sagen, den die argentinischen Bordelle hergeben? Ich kann mir keines ohne Hürchen mit diesen Namen vorstellen.«

Op Oloop begann in seinem Buch herumzublättern. Er strahlte vor Wohlgefallen. Die Vertiefung in sein Handwerk versetzte ihn in eine sofortige und lebendige Euphorie, die ihn von allen Sorgen befreite. Die Komplexität seines Denkens erreichte in diesen Momenten ihren Zenit. Man sah, daß die Zahl der ergebene Freund seines Verstandes und die Methode der unverzichtbare Berater seines Bewußtseins waren. In solchen Augenblicken gab es nichts anderes mehr für ihn. Selbst die Liebe, die der feindliche Mieter seines Inneren war, verschwand!

Diese Freude behagte Erik und Ivar nicht. Sie steckten ihre Köpfe zusammen und versenkten sich in ein verletzendes Flüstern, in dem sich Spötteleien, Gebärden und funkelnde Blitze abwechselten. Der Zuhälter, der sofort eine despektierliche Absicht gegen sich witterte, beschloß, das Gespräch zu unterbrechen. Und er sagte ohne irgendeine unschickliche Haltung, die seine Vortrefflichkeit beeinträchtigt hätte: »Mein lieber Op Oloop, Ihre Landsmänner zeigen Anzeichen der Ermüdung. Ich halte es für angebracht, Sie daraufhinzuweisen. Denn vielleicht lassen sie Sie sitzen, während Sie noch Ihre Daten durchsehen.«

Der direkt gefahrene Angriff rief bei beiden Verwünschungen hervor.

»Mischen Sie sich nicht in fremde Angelegenheiten ein!«

»Sie tun sehr schlecht daran, voreilig zu urteilen!«

»Ich mische mich weder ein, noch urteile ich voreilig – ich bestätige.«

»Sie bestätigen was? Na los, sagen Sie es!«

Der kurze Wortwechsel verwirrte den Statistiker. Er ließ die Zufriedenheit über Slatters Frage und die technische Zufriedenheit, sein Können zur Schau zu stellen, hinter sich. Und sich selbst hinter sich lassend, schlug sein Rücken mit hängenden Armen gegen die Stuhllehne. Das Gesicht bereits verzogen, schien er vor der Unnachgiebigkeit des Kapitäns zu kapitulieren: »Na los, sagen Sie es!«

Gastón war perplex und sagte kein Wort.

Es entstand eine Pause, die gewissen meteorologischen oder mentalen Phänomenen vorangeht. Diese Verdutztheit, die den Himmel von vorbeiziehenden Vögeln säubert, und den geistigen Horizont von vorbeiziehenden Gedanken. Diese Lähmung, die den Trotz der Natur oder der Menschen in einem Abschnitt des Firmaments konzentriert oder in der Dachkammer der Impulse.

Der Zuhälter horchte in sich hinein, und ohne aufzusehen, spürte er auf seinen Wangen die Güte der freundlichen Blicke und die Krallen der Abneigung. Er hätte schreien sollen, die Meute seiner Nerven loslassen, der Raserei, die ihn erstickte, freie Bahn geben; doch er tat es nicht. Er hatte die Standhaftigkeit, sich zu überwinden, sich seinem Phlegma zu ergeben. Seine geheimen Schlußfolgerungen ließen ihn vor Scham brennen. Er prustete. Schnaubte. Und breitete seine Seele über langatmigem Keuchen aus: »Gestatten Sie mir, daß ich am Strand ruhe wie ein Schiffbrüchiger. Ich habe gerade ein fürchterliches Unwetter durchquert. Wenn Sie, Caballeros, die Turbulenz meines inneren Meeres kennengelernt hätten, dann hätten Sie es wie viele Ketzer doch auf einen Versuch ankommen lassen und sich vor Schreck bekreuzigt. Ich … Sie sehen ja selbst. Ich kam in Korsika zur Welt, der Insel der größten Vulkane der Menschheit: Napoleon und Don Juan … Damit ist das Feuer meiner Leidenschaft beschrieben. Denn ich habe es, Señores – mit Ihnen beiden spreche ich – so groß, so unersättlich wie jene. Brüsten Sie sich nicht damit, mich zum Schweigen gebracht zu haben. Es gefällt mir zu schweigen. Ich bin es, der sich unterdrückt und überwindet. Darin besteht mein Triumph. Wenn ich im Laufe meines Lebens meine Leidenschaft nicht abgesenkt hätte, um sie zu mäßigen – so wie Sie es mit dem Unterseeboot machen, um aus dem Hinterhalt Torpedos abzuschießen – wäre meine Karriere gescheitert. Der Erfolg liegt darin, dieses Feuer gebändigt zu halten, damit es andere verbrennt, ohne einen selbst zu verbrennen, so wie man Hunde zum eigenen Schutz und zur Abschreckung anderer abrichtet. Wir, die Zuhälter mit Stil, üben uns in der Strategie des selfcontrol. Was hätte ich dadurch erreicht, Sie der Untreue gegenüber Op Oloop zu bezichtigen und des schlechten Benehmens mir gegenüber? Nichts. Die Lachhaftigkeit eines Strohfeuers in der Januarhitze. Nun hingegen hören Sie mir zu; und beim Zuhören werden Sie gerügt.«

»Was sagen Sie da?«

»…!«

»Ich spanne das Pferd nie hinter den Wagen … So wie die gangster und Schmuggler beharrlich dafür kämpften, das Prohibitions-Gesetz aufrechtzuerhalten, da die »Trockenheit« ihre Einkommensquelle darstellte, akzeptieren wir Zuhälter mit Stil …«

»Kein Zuhälter hat Stil!«

»… akzeptieren wir wohlgefällig die Verspottung der aktuellen Ordnung … Wir wissen, daß es in einem Zustand der perfekten moralischen und ökonomischen Ordnung weder Händler noch Kuppler gäbe. Und daß wir schließlich dazu gezwungen wären, die Ehrverletzung der Arbeit über uns ergehen zu lassen … Eine derartige Perspektive flößt der Zunft Angst ein. Sie erzieht uns zu schlauem Konformismus, zwingt uns, aus Vorsicht für Tadellosigkeit im Milieu zu sorgen, und läßt uns die Unterstützung von Politikern und Obrigkeit suchen, dank derer das Geschäft weiter läuft und floriert … Kein Zuhälter ist extremistisch, kein Zuhälter ist aufbrausend … In meiner Rechtgläubigkeit gefalle ich mir darin, diese Gedanken sachte zwischen kultivierten Personen zu äußern, die aus dem offensichtlichen Zynismus meiner Rede die untergemengten Netto-Wahrheiten herausfiltern können. Doch gelegentlich täusche ich mich. Vor allem, wenn es jenen Personen am nötigen Scharfsinn mangelt und sie das Verständnis mit ihren Vorurteilen verwirren. Hier, zum Beispiel. Diese Herren erachten meine Anwesenheit als verderblich und verdächtigen mich sogar der Schändlichkeit, den Geist von Op Oloop infiziert zu haben!«

»Das hat niemand gesagt!«

»Sie phantasieren.«

»Ich brauche den Beweis der Worte nicht, ob Sie es gesagt haben oder nicht. Ich habe Ihre Absichten abgewogen und das reicht mir. Es gibt so unheilträchtige Gedanken, daß sie die Augen schwanger gehen lassen. Ich habe die Ihren gesehen, angeschwollen vor Schreck und Prüderie. In Ihrem ständigen Getuschel ließ die Anstrengung, diese Gedanken zu übermitteln, Sie die Zähne zusammenpressen, als ob Sie bei der Niederkunft litten. Andere Male, wenn die Beleidigung zerbröckelte, schien der schnelle Wimpernschlag darauf abzuzielen, das Gleichgewicht wiederzugewinnen … Ich bin nicht auf den Kopf gefallen, Caballeros. Wenn meine Gesellschaft Sie stört, seien Sie so freundlich und gehen Sie. Ich fühle mich sehr wohl so wie ich bin.«

»Und ich …«

»Kapitän, Sie trinken keinen ›Kaffee‹, nicht wahr?«

»Seien Sie still. Das hochtrabende Geschwätz dieses … Herrn hier interessiert mich nicht die Bohne. Wir hatten uns schon entschlossen zu gehen, doch um Sie zu ärgern, werden wir das Vergnügen haben zu verweilen.«

Op Oloop, mit dem Schwung der Euphorie, sprengte seine abgezehrte Zerschlagenheit: »Endlich, Erik, endlich! Dieser schamlose Satz bringt dich vor der Tafel zu Ehren. Hüllenlose Nacktheit, egal ob elegant oder abstoßend, das ist es, wonach wir mit unserem ideologischen Nudismus streben. Ich habe vorhin gesagt, daß wir sieben Variationen über ein Hauptmotiv des Zynismus darstellen. Erst jetzt sind wir es. Du hast hartnäckig darauf bestanden, dich zu verkleiden, das zu sein, was du scheinst, und nicht, was du bist. Dadurch, daß du deinem Herzen auf diese Weise Luft gemacht hast, alter Brummbär, hast du eine Ehrlichkeit an den Tag gelegt, die das tägliche Leben nicht kastriert.«

»Bah, wenn man immer sagen würde, was man denkt …«

»Schlimmer ist, es zu denken und nicht zu sagen, denn das steckt an und verätzt.«

»Ich verstehe. Doch bin ich so vergiftet, daß ich, um die anderen nicht anzustecken, das Wappenschild der reinsten Prinzipien zur Schau trage …«

»Du tust gut daran, selbstverständlich, doch nicht hier. Uns, die wir das Leben vom Bühnenhimmel aus betrachten, stößt der übertriebene Nachdruck der Dummköpfe ab. Du hast uns verdrehtes Theater vorgeführt. Gib es zu.«

»Mensch … In Wahrheit … ja.«

»Du weißt gar nicht, wie dankbar ich dir bin. Du bist schlagartig in meiner Hochachtung gestiegen. Ich wußte, daß du ein schüchterner Mensch bist, also ein gefährliches, hellsichtiges Individuum, das seine Gedanken panzert. Aber du hast deine Rüstung bereits zerschlagen. Wir Schüchternen schleppen unsere Melancholie mit uns herum wie ein tragbares Grammophon. Und wenn es in der Einfriedung einer ebenso hellsichtigen Freundschaft ertönt, dann klingt sein Lied rauh und ungeschlacht. Du wirst uns deine Platten noch vorspielen … Doch lerne: Wie es der Zufall will, hat Gastón die Zweckmäßigkeit gerühmt, in nichts ein Abweichler zu sein, um aus allem Nutzen schlagen zu können …«

»In der Tat, ich bin in nichts ein Abweichler. Und wenn die Herren mir einen Gefallen tun wollen, können Sie mit dem Ärgernis fortfahren hierzubleiben …«

Der Kalauer sorgte für Heiterkeit.

Die Gesichter der Gäste schmückten sich mit Lachen und Ivar Kittilä drückte die Hand des Zuhälters.

»Pardon. Ich nehme das Gedachte zurück.«

»Und ich das Gesagte …«

»E viva! Tutti siamo amici.«

Der Gastgeber klatschte mehrmals kräftig in die Hände.

Der maître eilte herbei und verbeugte sich tief.

»Warum sind die Champagnerkelche nicht voll?«

»Vite, vite, Cordon Rouge Monopole!«

»Ich bitte Sie, meine lieben Freunde, daß Sie über die Mängel dieses Dinners hinwegsehen. Diejenigen von Ihnen, die mich bei den vorherigen mit Ihrer Anwesenheit beehrt haben, kennen meine sorgfältige Überwachung der tadellosen Korrektheit von menú und Wein.«

»Gewiß«, bestätigte der Student. »Ich habe, wenn ich mich recht entsinne, an den Feierlichkeiten der Teilabschnitte teilgenommen: siebenhundert, achthundert, neunhundert … Ohne soviel Tand und Sößchen haben wir besser gegessen. Man stelle sich nur vor, uns cocktails mit Blütenblättern zu reichen! Bei nächster Gelegenheit wird er uns Hostien mit Schlagsahne, Steaks aus Schmetterlingsflügeln und Lilienkompott anbieten.«

»Sehen Sie, sehen Sie.«

»Sei unbesorgt. Ich habe auch Essen gegeben. Mir ist die Wahrheit des Jesuiten bekannt: ›Zur Stunde des Essens sind die Freunde Bandwürmer, und zur Stunde der Hilfe Schnecken«.«

»Erik!«

»Bravo Erik!«

Gastón Marietti streckte dem Kapitän zeremoniös die Hand hin: »Meinen Glückwunsch. Es gibt Personen mit eingefallenem Magen. Robín beweist, daß er ein eingefallenes Herz hat. Gut, daß Sie ihn in Schande haben fallen lassen!«

»Fahren Sie nur fort. Auch Ihnen werden noch die Schuppen aus den Haaren fallen …«, drohte der Student spaßend.

Op Oloop erhob sich. Seine Statur eines homo duplex zog die wachsame und gespannte Aufmerksamkeit aller auf sich. Der Alkohol hatte die Ohren gerötet, weshalb sie nun begierig den Balsam seiner Rede erwarteten. Er ergriff seinen bis an den Rand gefüllten Kelch und sagte mit lauter Stimme: »Auf Ihr Wohl.«

Und trank ihn in einem Zug aus.

Die allgemeine Erwartung wurde enttäuscht. Eine so unpassende Ernsthaftigkeit, gerade als sich erneut die Fröhlichkeit auszubreiten versprach, verwandelte ihre Neugier in einen undefinierbaren Widerwillen. Daher kämpften jene, die sich aufs Zuhören vorbereitet hatten, nun darum, selbst zu Wort zu kommen.

Sureda, kühn wie immer, bestieg das Rednerpult als erster. Die daraufhin auf ihn niederprasselnden Sticheleien dienten ihm als Sprungbrett: »Señores, ich weiß sehr wohl, daß Freunde wie automatische Feuerzeuge genau dann nutzlos sind, wenn man sie braucht. Ich bin von klassischer Nutzlosigkeit. Wenn man mich nicht gerade für Dummheiten und Abenteuer braucht! Darin bin ich ein Meister … Ich habe mehreren Typen, die heute auf der Straße leben – ohne daß ihnen mehr geblieben wäre als das Silber ihres Mate-Bechers und das Gold ihrer Zähne –, dabei geholfen, ihr Vermögen zu verschleudern. Ich trete zu einigen Prüfungen an und zu allen Streiks und Unruhen an der Universität. Ich kann boxen, ergo fluchen; denn wenn meine Beleidigungen nicht wären, hätte ich niemals eine Gerade oder einen upper-cut gelandet … Das Bewegende meiner Freundschaft mit Op Oloop liegt daher in der gegenseitigen Gleichgültigkeit, die uns vereint; denn wenn mir die Statistik nichts bedeutet, kann er meinen Kinnhaken nichts abgewinnen. Nichtsdestotrotz, was gäbe ich heute abend nicht, um bis zu seinem Herzen vorzustoßen und ihm zu sagen: Hier ist meine Solidarität, im guten ebenso wie im schlechten. Ich kann nicht erklären, welche seltsamen Kräfte ihn unterdrücken und wieder freisetzen, welche geheimen Geister ihn erhabene und idiotische Dinge aussprechen lassen. Ich bin ein schwer zu knackender Typ, mit rauher Schale, aber weichem Kern und hoher Sensibilität. Entschuldigen Sie das Eigenlob. Von Beginn an habe ich das Unglück dieses Mannes bemerkt und ich leide, da ich nicht mit ihm leiden kann. Bevor wir gehen, schlage ich einen Toast vor, der die Narbe seines Kummers auslöscht.«

»Sehr gut. Peñaranda soll sprechen.«

»Nein, jeder ein paar kurze Worte. Es soll, wie es rechtens ist, ein Landsmann beginnen.«

Op Oloops Augenbrauen – der Umriß zweier im Gleitflug auf die Stirn begriffenen Schwingen – bildeten einen Knoten zwischen den Augen. Das Faltenhäufchen ließ seinen Blick zusammenlaufen. Er schielte fast vor soviel Grimmigkeit. Er schaute nicht, er spähte.

Zerbrechlicher Genuß! Das Dinner stellte sich als reichhaltig an temperamentbedingten Schwankungen heraus und als trügerisch durch abrupte Anfälle der gegensätzlichsten Gefühle. Der Orientierungssinn wachte behutsam über den rechten Kurs. Zerbrechlicher Genuß!

Ein Ellbogenstoß von Erik brachte den ehemaligen Mitschüler des Gastgebers zum Aufstehen: »Wenn ich mich in Chaplin verwandeln könnte, würde ich vielleicht die Mimik und Sprache erreichen, die in diesem Moment vonnöten sind. Op Oloop gehört zu einer Art von Personen, die in der menschlichen Nomenklatur nur selten auftritt. Da er tiefgreifend tragisch ist, verlangt er nach einem Ausdruck der Groteske, dem einzigen, der sich auf sarkastische Weise an das Verständnis seines strengen Wesens annähern kann. Von klein an hob er sich durch Feinfühligkeit, Schweigsamkeit und Zärtlichkeit ab: hoch entwickelte Eigenschaften, die nachdenklichen Menschen zu eigen sind. Für uns, die wir eine Kindheit als Raufbolde und Springinsfelde verlebten, war soviel Abwägen unecht. Kinder sehen ein Kind, das sich wie ein Großer verhält, als komisch an, ebenso wie die Erwachsenen den Erwachsenen, der sich wie ein Kind benimmt. Jener Zustand, den wir nun umgekehrt beobachten können, verletzte uns damals. Wir machten ihn zur Zielscheibe von Tausenden von Witzen und Streichen. Doch er kam durch! Die Zeit zeigt mir, daß seine vitale Substanz sich nicht verändert hat. Nichts als die Perspektive ist anders. Das Mann-Kind war konvex. Der Kind-Mann ist konkav. In jenem lief alles zusammen. In diesem entflieht alles … Wenn man in der menschlichen Seele wie in einem akustisch isolierten Raum das Lautregister der Leidenschaft überprüfen könnte, die hörbare Reichweite der Instinkte, die das Bewußtsein reflektierenden Klangwellen, dann könnte ich mit Ziffern und Koeffizienten die technische Lösung für die Unruhe feststellen, die dich bedrängt. Doch unmöglich. Die Wissenschaft traut sich noch nicht so viel zu. Du wirst leiden müssen. Deine Seele hat einen Sprung. Die Schalldämpfung ist zerstört. Und durch ihre Ritzen hindurch heulen schmutzige Bestien, die die Luft deiner geistigen Atmosphäre verpesten und die Ausstrahlungen eines so melodischen Herzens, wie es das deine ist, behindern.«

Die Worte wurden aufgenommen, die Gedanken eingeatmet.

»Es reicht! Genug der Zerlegung«, rief er. »Ihr beunruhigt euch ohne Grund und sorgen sich im Übermaß. Ich bin kein abtreibendes Schiff … Ich habe das Steuer jederzeit fest in der Hand!«

»Nein, Op Oloop. Ihre Steuerung läuft Gefahr. Sie werden den bürgerlichen Frieden von vormals nicht mehr genießen. Ein Extremist ist aufgetreten. Ein Extremist, der alle inneren Kontrollen revolutioniert und übertritt. Ein Extremist: die Liebe!«

»Die Liebe, ach was. Für mich ist die Liebe Zahl, Karteikarte, Berechnung.«

»Bis tausend. Doch die tausendundeins … Franzi …«

»Nein, NEEIN, NEEEIN!«

Op Oloops Raserei vergrößerte in fortschreitendem Maße das Kaliber seines Mundes und die Lautstärke seiner Stimme. Die Schande, die ihn überschwemmte, mußte riesig sein, wenn der Strahl der Verneinung soviel Abwasser hervordrängte.

»Nein, nein, nein«, wiederholte er noch einmal, bereits ohne Betonung, erleichtert. »Wie Sie die Dinge durcheinanderwerfen, mein Freund! Das eine sind Vereinigungen des Fleisches. Das andere Vereinigungen des Geistes.«

Er war bleich, verschwitzt.

»Entschuldigen Sie. Ich wußte nicht …«

»Gut, wissen Sie es. Franziska: zweiundzwanzig Jahre, baby-face, fünf Sprachen, Apfelhaut, Waise mütterlicherseits, Tochter von Quintin Hoerée, Arm aus Birnenfleisch, Expertin für Konsulatsfinanzen, die einzige Frau, die es auf Erden gibt!«

»Wie bitte! Die Tochter von Quintin Hoerée, dem Schichtholzimporteur? In sie hast du dich verliebt!«

»Ich habe mich verlobt.«

»Ver-lobt? Du bist doch doppelt so alt und doppelt so groß!«

»Wie auch immer, sie ist die einzige Frau, die mir in meinem Erdkreis wert und teuer war. Durch ihren Besitz werde ich den lebendigen Schlüssel zur ewigen Algebra haben.«

Seine Qual, bis zu diesem Augenblick seidenweich und matt, verhärtete sich plötzlich. Seine vom Fieber verhangenen Augen verschleuderten aggressive Blitze.

Alle entschieden sich zu schweigen. In dieser Situation hätte jede Abschweifung einen Mangel an Fingerspitzengefühl bedeutet. Wie beim Höhepunkt einer Zirkusnummer, wo die Konzentration des Publikums so massiv wird, daß sie den Artisten in der Luft hält und seinen Sturz verhindert, so hielt Op Oloop sich auf sechs Säulen aus Schweigen.

Für kurze Zeit.

Eine stärkere Gravitation riß ihn nach unten. Und als er zerschellte, explodierte er in einem Zornausbruch von tückischer Redseligkeit: »Es gäbe nichts zu beanstanden. Die Funktion des Verwerflichen ist es, seine Verwerflichkeit zu preisen. Doch die Geste geschieht notgedrungen. Eine Geste, die der jenes französischen Dandys ähnelt, der einen Rüpel zum Duell aufforderte, da er die Jungfrau beleidigt hatte, nicht so sehr aus Religiosität als aus Höflichkeit, ist die Jungfrau doch eine schwache Frau … (Herausfordernde Geste in die Runde.) Nun gut, Franziska, me voici. Die eng mit der Ernsthaftigkeit verwandte Dummheit hat den Verdacht geäußert, daß du eine Karteikarte mehr bist, daß du in der dankbaren Neigung der Wollust ein Konkubinat eingegangen bist, daß du die Ethik des Zusammenlebens eingeebnet hast, während du die beiden weltlichen Insignien schwenktest, die Leidenschaft und den Wagemut. (Schräger Blick zu Peñaranda.) Du, der du mit Schüchternheit in die ›Bekenntnisse‹ des Jean-Jacques gebissen hast, so wie man in einen Scherzkeks beißt, ich weiß wohl, daß du, bei diesem Bankett, das Bonbon der Schmährede mit wahrhaftigem, mit unsäglichem Genuß lutschen würdest. Du kennst mehr als jeder andere das tiefe Vergnügen, das im Erfassen der fremden Torheit liegt. Jener bezaubernden Torheit, die sich für gewöhnlich über ihr eigenes Unverständnis erzürnt und dank trügerischer Spiegelfechtereien versucht, allen mit ihrem Groll eine Lektion zu erteilen. (Despektierliche Grimassen in Eriks Richtung.) Hier, Franzi, sind die Leute noch auf dem Niveau von Don Juan. Sie loben ihn und verwöhnen ihn wie Höhlenmenschen. Sie sind von ebenseiner niedrigen spirituellen Machart. Daher betreten sie im geheimen boudoir der Vorstellungskraft und zwischen Impotenzängsten aufs neue den mit Niederlagen gepflasterten Pfad ihrer tolpatschigen Sinnlichkeit. (Gegen Sureda eingefädelter Ekel.) Sie wissen nicht, daß ich über der Ironie ihres Schicksals eine Ästhetik der Liebe aufgebaut habe, grundlegend verschieden von der Triebmechanik, die ich zur Schau trug. Sie wissen nicht, daß der ›Lehrsatz des Don Juan‹ eine Gleichung miteinschließt, die von der Psychiatrie gelöst wird. Sie wissen nicht, daß er ein kaninchenhafter Mann war, scheu und schwächlich, der nie geliebt hat. (Sarkastische Anspielung auf Cipriano.) Wir dürstenden Wesen, die wir unseren Durst nie stillen, werden auf alle Zeiten unsere Nostalgie pflegen, um die Monotonie der Dämmerung zu verschönern. Doch die, die den Kelch schlürften und in ihn urinierten, die, die ohne Durst zu viel tranken, die werden nicht sehen, wie sich in Charons Boot ein Astwerk aus Frauenarmen aufrichtet und wie Trostblumen ein Herz zeigt. (Schwerer Vorwurf an Ivar Kittilä.) Ebenso wie ein Faun im Ruhestand werde ich in der duftenden Erinnerung an die Rosen leben, die ich pflückte. Süchtig nach Ronsard besuchte ich alle Gärten, um einen Katalog grand luxe der Liebe aufzustellen. Und noch in voller Entrückung wird mein mit Zahlen einbalsamiertes inneres Ambiente seine fleischliche Metapher genießen, aus demselben Grund, aus dem das Gläschen mit der Essenz die Metapher für den Blumengarten ist. (Grollende Bewegung gegen Gastón.) Die Hedonisten, die ungeschlachten Anführer der Herde der Lust, werden mich nie verstehen. Während ich Casanovas Größe teilte, hatte ich nie seine Niedrigkeit. Sie werden mich in die schmutzige Nachbarschaft des Arezziners rücken, auf das Regalbrett direkt neben Ovid und Martial. Daher lege ich soviel Nachdruck in dieses Bestreben, zu überzeugen. Dieses Bestreben, das dafür eintritt, den Grund des Geistes mit mehr Wirkungskraft zu versehen als die Empfindsamkeit der Schleimhäute. Obgleich mich die Erhabenheit der vergeblichen Bemühungen blutleer zurücklassen mag! (Mitleidsvoller Blick an alle und Rückzug nach innen.)«

Er war weiterhin blaß und verschwitzt.

Die Introspektion riß Gesichtsfarbe und -muskeln mit sich und verfeinerte sein Gesicht auf diese Weise. Das matte Oval zeigte das V aus Falten zwischen den Augen an, das umgekehrte T der Nase und das breite und hervorragende U des Kinns. Auf dem Kopf – ein Helm aus Fieber – hatte sich das Haar in kastanienbraunen Wellen aufgestellt.

Die Gäste nutzten seine Abwesenheit zum Spionieren, wie gewisse neugierige Nachbarn, die die Gartenmauer, die verbotenen Gemächer und die unzugänglichen Räume erforschen. Sie sahen nichts. Ein hartnäckiger Schleier umhüllte ihn. Dann legte jemand vertikal einen Finger über die Lippen. Es gab barmherzige Blicke und kopfnickende Zustimmung. Durch ein schweigendes Übereinkommen vereinbarten sie, die Streitlust seiner Attacke unerwidert zu lassen.

Lediglich der Luftfahrtkommissar kritisierte diese Haltung: »Ich habe keinen Grund, den Mund zu halten. Weit davon entfernt, ihn zu beleidigen, habe ich ihn verteidigt. Ich muß diese Beleidigung nicht hinnehmen. Es ist eine Vermessenheit.«

Der Zuhälter erkannte in seinem Unwillen eine Mischung aus verletztem Edelmut und alkoholisierter Starrköpfigkeit. Und er wiegelte vorsichtig ab: »Pst! Haben Sie Geduld. Wenn ein introvertierter Mensch aus der Klarheit seines Gefängnisses flieht, stellt die Welt für ihn einen so schattigen Aspekt dar, daß er überall Ränke sieht. Leichte Anspielungen wie die Ihre, Peñaranda, gänzlich frei von bösem Willen, nehmen eine beträchtliche Bedeutsamkeit an. Gewohnt daran, logische Mikrometer zu messen, verwandelt sich seine normale Empfindsamkeit, sobald er hinaustritt, automatisch in eine krankhafte Empfindlichkeit; denn die Maßstäbe, die das innere und das äußere Leben messen, sind nicht identisch. Das Delirium folgt dann wie eine logische Konsequenz. Denn das Delirium ist nichts anderes als die Annahme der eigenen Wahrheit oder Lüge gegen die von der Allgemeinheit abgesegnete Wahrheit oder Lüge …«

»Sehr schön. Doch es ist eine Vermessenheit!«

«… Ich bekenne, daß ich von vielen Paranoikern Ideen von so perfektem Sinn gehört habe, daß genau darin die Anomalie lag: sie in einer Umgebung zu vertreten, die sie, bereits korrumpiert, wegen ihrer Korrektheit zurückweist. Wenn wir Op Oloops katilinarische Rede rekapitulieren, müssen wir einsehen, daß sein Ansatz uns vielleicht deshalb deformiert erscheint, weil wir den Begriff vom Gleichgewicht der Wirklichkeit verloren haben und uns vom falschen Anschein leiten lassen. Daher, nicht ein Wort!«

»Wie auch immer. Es ist eine Vermessenheit!«

Genau wie ein Pendel kam und ging das Wort in Peñarandas Hirn.

Während des Banketts hatten die Gäste, ohne sich von ihrem Platz zu rühren, die Positionen gewechselt; denn das Gespräch, der Tabak und der Alkohol sind Reizmittel, die die Persönlichkeit allmählich verlagern. Der einzelne ist sich dessen nicht bewußt. Das Scharnier, über das sich die Sinne drehen und die Hebel, die den Verstand in Schwung bringen, entgehen dem wachsamen Ich. Die Eingeladenen präsentierten so eine andere Maske, mit unterschiedlichen oder ähnlichen Einprägungen des Benehmens. Erik war nun sanft und Peñaranda heftig. Der Zuhälter war der einzig Beständige. Die Fassade seines Charakters – wenn auch vom Ärger mit einer leichten Patina versehen – war wie immer golden und ruhig.

Der Luftraum, den jeder mit seiner fleischlichen Masse ausfüllt, vergrößert und verformt sich in solchen Notlagen. Und wenn ein unbesonnener Astralkörper – grüngelb mit fahlen Streifen – aus dem Häuschen seines Hohlraums gerät, sprengt er ektoplasmatisch die vormals passende Form des Seins. Man braucht keine besondere Hellsichtigkeit, um festzustellen, daß die Seele der innere Anzug der Materie ist. Ein Anzug, der den Moden des Intellekts und dem Klima des Temperaments unterliegt, die wir, ohne es zu wollen, zur Schau tragen. Ein Anzug, der sich abnutzt, erneuert und sogar verschwindet. Ein Anzug, der uns in Dandys verwandelt oder unser Elend mitträgt, je nachdem, ob gerade Saison für Haß, Liebe, Verachtung oder Wohlgefallen ist.

Der in dieser Hinsicht leicht bekleidete Luftfahrtkommissar zitterte. Er fühlte die eisige Kälte des Vorwurfs. Und schneidend, ganz ein Eiszapfen, beharrte er noch einmal: »Ich sehe nichts ein! Es ist eine Vermessenheit!«

Op Oloop, der innerhalb weniger Stunden die reiche Vielfalt seiner psychischen Garderobe an- und abgelegt hatte, befand sich nackt in der Einsamkeit der Introspektion. Endlich hallte das Wort dort wider. Und nachdem sein Rückzug einmal unterbrochen war, griff er nach dem nächstbesten »Ausgehrock«, um sich darum zu kümmern, was in der Außenwelt geschah. Zuerst öffnete er ein Auge. Dann strich er mit einer Hand die Falten auf seiner Stirn glatt. Bereits von einem Nimbus der Gelassenheit umkränzt, begannen die beiden im Flug begriffenen Schwingen seiner Augenbrauen wieder herabzugleiten. Die Vorsichtsmaßnahme hatte seine Stellung gefestigt. Dann sprach er: »Vermessenheit … Haben Sie auf die Schönheit dieses Wortes geachtet? Ver-mes-sen-heit! Wer hat das gesagt? Seine Melodie und sein Klang ertönen wundervoll. Das Wort ist so schön, daß es fast akzeptabel wäre, die schlimmste Vermessenheit zu begehen!«

Peñaranda biß sich auf die Lippen. Spröde und nervös wie er war, schoß ihm die Scham ins Gesicht. Er machte eine Geste voll mitleiderregendem Zorn und würgte den bereits als Schrotschuß aus Schmähungen zur Explosion vorbereiteten Satz herunter.

Gastón Marietti applaudierte ihm verstohlen: »Sehr gut, mein Freund. Eine Erbitterung gegen Op Oloop zu tilgen, bedeutet, die Freiheit seines Geistes zu gewinnen. Sehen Sie ihn an. Er ist erhaben! Sie hatten vor, ihn zu beschimpfen, und er gibt Ihnen das Wort in Unschuld eingewickelt zurück. Nur ein Wahnsinniger, der unter der Verwüstung der Kultur und der Güte leidet, ist dazu fähig.«

In der Zwischenzeit hatte Op Oloop den Füllfederhalter hervorgeholt, und gefangen von graphischer Raserei kritzelte er eine Reihe von Tabellen und Formeln nieder, deren esoterischen Sinn er mit geheimem Genuß auskostete.

»Vermessenheit! Was für ein außergewöhnliches Wort! Man kann daraus Buchstabenrätsel, Geheimschriften und Zahlencodes von exquisiter Schwierigkeit bilden. Wer ist darauf gekommen, es auszusprechen?«

»Ich«, gab der Angesprochene fast zaghaft zu.

»Mensch, ich beglückwünsche Sie von ganzem Herzen! Es gibt Wortkenner, wie es Weinkenner gibt. Das Wort ist eine göttliche Schöpfung: ein sephiroth. Sie schnappen diese Begriffe auf. Ich werde schon meinen Grund gehabt haben, als ich sagte, daß Sie furchtbar wohlerzogen sind. Sehen Sie nur, uns eine so spirituelle Substanz wie Vermessenheit zu bringen!«

Jemand erhob sich geräuschvoll und lädierte seine Begeisterung: Robín.

»Gestatten«, fragte umgehend ein weiterer: Erik.

Und beide gingen hintereinander in Richtung der Herrentoilette.

Der Gastgeber sah mit eingefallenem Mund zu, wie sie sich entfernten, und spürte auf einmal das stechende Unbehagen von etwas unmittelbar Bevorstehendem. Er sprang mit einer Abruptheit auf, die alarmierend war, und balancierte seinen schweren Leib mit riesigen Schritten in dieselbe Richtung.

Der maître gab ein Zeichen seiner Ehrerbietung, als er vorüberging. Ohne sich dazu herabzulassen hinzusehen, hatte Op Oloop es registriert.

Während er bereits die Tür durchschritt, schrie er ihm zu: »Bringen Sie die Rechnung.«

Die Übrigen drängten sich daraufhin zusammen, um Op Oloops Geschreibsel zu untersuchen.

»Was für ein einmaliger Typ! Er kann sich gleichzeitig an alles erinnern und alles vergessen.« »In der Tat. Vor allem vergessen. Alles in ihm neigt zum Vergessen. Deshalb erinnert er sich an so viel!«

Ivar stimmte bewegt der Meinung des Zuhälters zu.

»Er war immer so. In der Schule nannten wir ihn wegen seiner Statur und seiner Größe den ›Zyklopen‹. Er hat sich kein bißchen verändert. Er hat noch dasselbe Selbstvertrauen, ohne dreist zu sein, und dieselbe melancholische Weisheit. Heute, nichtsdestotrotz …«

»Ja. Heute ist er nicht …«

»Vielleicht der …«

»…«

Keiner traute sich, das Unvermeidliche auszusprechen. In dieser Stille lag eine großmütige Stärke. Jeder zog es vor, sich innerlich zu verbrennen und im Schmerz zu läutern, anstatt die Vorahnung herauszuraunen, die sie gefangenhielt.

Als die anderen zurückkamen, hatte die Beständigkeit der Intuition die ernsten Mienen verhärtet. Sie versteckten sie, indem sie die Zettel betrachteten.

Op Oloop fragte feierlich: »Verstehen Sie?«

»Nicht im geringsten.«

»Wenn es Pläne für die Kanalisation wären …«

»Nun, Señores, Vermessenheit! Nichts weiter als die Vokabel von Peñaranda, versteckt durch das Rätsel und vergeistigt durch die Zahl.«

Auf einem Silbertablett hatte der maître die Rechnung auf den Tisch gleiten lassen.

Die Ziffernansammlung zog Op Oloop mit unüberwindbarer Verführungskraft an.

Instinktiv rechnete er jede Summandenreihe aus, ebenso wie ein Provinzler die Stockwerke der Wolkenkratzer in der Hauptstadt zählt. Erst als er deren Richtigkeit bestätigt hatte, wurde er gewahr, was dort addiert wurde. Infolgedessen prüfte er erneut die item. Und als er alles verglichen hatte, ließ er seinen Blick in Erinnerung an das Mahl dahingleiten.

Er konnte nicht von der Kontrolle lassen. Sie war eine unbestechliche Manie. Ohne die Augen zu heben, sah er den Verzehr durch, stellte die Marken gegeneinander, bestätigte die Preise. In besagte Operation legte er mehr als alles andere professionelle Sorgfalt. Als er sich aufrichtete und den maître neben sich sah, lächelte er ihm wie einem gewissenhaften Untergebenen zu: »Sehr gut. Es ist sehr gut: zweihundertachtundneunzig und fünfzig.«

Er strahlte vor Vergnügen.

Wenn er ein armer Teufel gewesen wäre, einer von jenen, die in ähnlichen Fällen die hochmütige Lässigkeit von Millionären an den Tag legen, hätte er ohne ein Wort zu sagen gezahlt; denn sie sind so töricht, daß sie sich wie jene bestehlen lassen, deren Nachsicht nichts als simple Rückerstattung ist …

Er war großzügig, aber genau.

Demzufolge holte er Feder und Brieftasche hervor. Er addierte zehn Prozent als Trinkgeld und deponierte drei Hunderterscheine, zwei Zehner, einen Fünfer und drei Einer auf dem Tablett.

Bei diesem Stand der Dinge kam es zu einer peinlichen gaffe. Der maître, der sah, wie Op Oloop Feder und Brieftasche einsteckte, beeilte sich, nach dem Tablett zu greifen.

»Warten Sie!« schrie er, eher bekümmert als autoritär. »Es fehlt noch etwas.«

Und er griff nach seiner Geldbörse.

Er hatte nur dreißig Centavos. Er legte sie hinzu. Dann zog er aus der Innentasche seines Jacketts sein Schreibetui. Er suchte eifrig darin herum. Und zu guter Letzt legte er auf die Hunderterscheine das rote Fleckchen einer Fünf-Centavo-Briefmarke und bedeutete genußvoll: »Nehmen Sie. Die Summe ist komplett.«

Keiner war mehr überrascht. Die Gäste beobachteten die Zahlszene mit einem »Was geht mich das an« und plauderten dabei miteinander. Eine Exzentrik mehr, was heißt das schon, wenn das Syndrom einmal aufgetreten ist?

Die Lustlosigkeit begann den Anstand aufzuweichen. Ivar gähnte. Slatter ließ seine Gelenke knacken. Op Oloop fühlte sich belästigt: die Harmonie des Tisches, in Form eines Konzertes aus Worten und Manieren, geriet seiner Auffassung nach in Unordnung. Genauso, als würden sich in einem Gemälde von Watteau durch irgendeinen Kunstgriff plötzlich vulgäre Szenen abspielen. Er gab sich daher in seiner Freundlichkeit noch größere Mühe, behielt den Rüffel für sich und hob an: