21:00

Die Nacht versank in kaltem Nebel. Es war neun Uhr. Die bewegte Luft, die wie ein langer Talar wehte, legte sich starr um das Blattwerk der Bäume. Scharfe Böen beschleunigten den Fall der Herbstblätter.

Op Oloop war ein Schatten.

Ein Parkwächter, der seine abendliche Runde drehte, näherte sich ihm. Er nahm Notiz von seinem gleichmäßigen Atem, seinem vornehmen Habitus und der unbequemen Positur. Gewöhnt daran, Betrunkene hinauszubefördern, Arbeitslose wegzujagen und Selbstmörder in spe zu verschrecken, war er verwirrt. Er wußte nicht, welche Vorgehensweise er anwenden sollte. Er hustete. Hustete noch einmal. Nichts! Nachdem er in seiner Absicht, ihn zu wecken, gescheitert war, betätigte er sich als Samariter. Setzte ihm den Hut auf. Schob seine Beine zusammen. Hob einen herunterhängenden Arm an. Und während er ihm leicht auf den gekrümmten Rücken klopfte, fragte er: »Stimmt etwas nicht mit Ihnen, Señor?«

Er erhielt keine Antwort.

Seine Stimme und die Klapse wurden stärker: »Stimmt etwas nicht mit Ihnen, Señor?«

Der Statistiker stellte augenscheinlich die Bemühung an, sich aufzurichten. Doch er sackte in dieselbe Position zurück.

Dem Wächter schwante wohl Außergewöhnliches, denn er sah davon ab, ihn erneut zu belästigen. Er trat einige Schritte zurück.

Op Oloop war von dem Traum versiegelt. Der Mechanismus seines Geistes verweigerte sich den äußeren Reizen. Etwas zog ihn magnetisch nach innen. Sein Inneres bestand noch aus ruhigen Gewässern von wundervoller Substanz. Als er sich erneut hineinstürzen wollte, empfand er ein schroffes und heftiges Gefühl der Zurückweisung, als wäre das ruhige Wasser zu Stein geworden.

Der Bruch des Traumes nahm in Franziska telepathisch seinen Widerschein. Sie hatte die Anwesenheit des Wächters als eine seltsame Störung wahrgenommen. (Die Bilder gerieten durcheinander.) Sein Husten bedeutete einen ungemütlichen Streifwind. (Die glückliche Stimmung bewölkte sich.) Sein Klapsen mit der flachen Hand zog ein haarsträubendes Dröhnen nach sich. (Aller Zauber verschwand.) Dann ergriff eine undefinierbare Beklemmung von ihr Besitz. Und im selben Augenblick, in dem Op Oloop sich aufrichtete, verursachte der Abbruch der Hypnose bei ihr Wehklagen.

Die Gouvernante, die ihr kraftloses Daniederliegen überwachte, eilte unverzüglich herbei. Sie sah Franziska mit gesenkten Lidern daliegen und glaubte, daß es nichts sei. Doch schnell änderte sie ihre Meinung. Franziska wand sich verzweifelt, und als dränge sie auf einen Dialog, stieß sie zahlreiche Aufforderungen an einen imaginären Gesprächspartner aus: »Brich nicht ab! BRICH NICHT AB! BRICH NICHT AB!«

Der Konsul schüttelte seinen kurzgeschorenen Kopf: »Ich glaube, Quintin, es ist das beste, sie in ein Sanatorium zu bringen. Jetzt gleich …«

Es ist schwierig, die Wahrhaftigkeit der Vorstellungskraft aufzuheben, vor allem bei von Besessenheit befallenen Personen. Die surrealistische Atmosphäre, in der sie ihren Traum leben, bleibt für sie die einzige Umgebung, in der sie atmen können. Gerade weil sich die innere Welt nach ihren Wünschen richtet und die Erscheinungen und Geister symbolisch den Schlüssel zu einer nach ihrem Maß gemachten Wirklichkeit darstellen und verkörpern, erstickt die äußere Atmosphäre sie, sobald sie aufwachen, und die rohe Wirklichkeit, die sie umgibt, ruft in ihnen Widerstand hervor.

Franziska wollte nicht wahrhaben, was ihre Sinne bezeugten. Weder konnte sie auf den Bilderreichtum verzichten, noch gelang es ihr, die Ordnung zu sprengen, die die abrupte Grenze des Wachzustandes mit sich brachte. Sie warf sich mit einem Schwung herum und vergrub sich bäuchlings im Bett.

Op Oloop lief bereits und stolperte wie ein betrunkener Schatten vor sich hin.

Der Wächter eilte ihm zu Hilfe, stützte ihn und wiederholte seine Frage: »Stimmt etwas nicht mit Ihnen, Señor?«

Bevor Op Oloop antwortete, musterte er ihn mit inquisitorischer Abneigung: »Ja, etwas stimmt nicht mit mir … Mit mir stimmt nicht, daß ich wieder in meinem Körper stecke … Wegen Ihnen … Aufs Neue in meinem Anzug aus Fleisch … Wegen Ihnen … Ich schwamm nackt dahin, ein Bündel aus Licht in einem Ozean aus Licht, und Sie sind gekommen, um mich zu belästigen … Wer sind Sie?«

Der Wächter entzog ihm seinen Arm. Er dachte unweigerlich an einen Verrückten. Und seine Position herauskehrend, ernst und mit dem Mut von drei Metern Entfernung, las er ihm die Leviten: »Ich bin Wächter des Nachtdienstes. Ich belästige niemanden. Ich erfülle meine Pflicht. Es ist hier verboten zu schlafen, Geschlechtsverkehr auszuüben oder Selbstmord zu begehen. Verschwinden Sie.«

Op Oloop begriff seine Worte nicht vollends, den Befehl aber wohl, und schlug einen schmalen Schotterpfad ein. Seine Schritte waren gelöst, wenn auch etwas wankend. Aphrodites Hinterbacken verbreiteten zwischen den Böschungen aus Rainweiden Mondeshelle.

Über ihnen spähten die Pinien nach deren Reizen wie eine Reihe von Mönchen mit kugelförmigen Kutten.

Op Oloop irrte sich in der Wegrichtung.

»Sie gehen falsch, Señor. Halten Sie sich rechts«, schrie ihm der Wächter nach.

Er hörte es nicht oder wollte es nicht hören. Mit großen Sätzen schritt er aus und fraß sich mehr und mehr in das Halbdunkel des Pfades. Sein Schatten hob sich kaum zwischen den schweren Schatten der Bäume ab.

»Dieser Verrückte wird mir noch Kopfzerbrechen bereiten!« dachte sich der Parkwächter und folgte ihm mit dem festen Vorsatz, ihn aus dem Botanischen Garten zu entfernen.

Sinnestäuschungen und die bemerkenswerte Hartnäckigkeit, mit der sich erotische Ideen festsetzen, sind typisch für das systematisierte Delirium. Romantische Liebe oder bis zum äußersten getriebener Platonismus machen den Antrieb des ziehenden Ritters oder die süße Berufung des Troubadours aus. Oder ihrer modernen Entsprechungen. In diesem speziellen Stadium zersetzen Manie und Fieber die Wirklichkeit. Kleine Gesten einer Frau werden maßlos überinterpretiert. Unschuldige Bezeugungen guten Benehmens bringen den Glauben an eine erhabene Liebe zum Erblühen. Die Beziehung ist rein halluzinativ und gerade deswegen von unübertrefflicher autosuggestiver Kraft.

Op Oloop war kein Paranoiker dieser Art, doch eine Spur davon war ihm in jener Nacht zu eigen. Anscheinend bei gutem Verstand, zwang ihn die Unvollkommenheit seiner Gefühle zu widersprüchlichen Haltungen. Es bestand kein Zweifel, daß er im Traum gefangen war. Ein anderes, vielleicht klareres Bewußtsein der Ereignisse war in ihm erkeimt. Und seine Persönlichkeit spaltete sich, um abwechselnd zwischen seinem Normalzustand und dem den Umständen entsprechenden Zustand hin und her zu schwanken, deren Einfluß er unterlag.

Bei diesem Stand der Dinge erschien ihm Franziska an seiner Seite. Ein derartiges Wunder entfachte seine inneren Stürme. Er drückte sie an sich, schob sie von rechts nach links, hielt sie wie ein Schild vor sich. Zweifelsohne, die Vegetation nahm für ihn entsetzliche Züge an. Die Zweige erschienen ihm wie liederliche Arme. Die zitternde Erregung der Blätter, eine infame Sarabande.

Der Wächter überraschte ihn bei seinem Scheingefecht. Er konnte sie sich nicht erklären und schritt demnach unter größter Vorsicht weiter.

Der Statistiker wurde von Paramnesien bedrängt, einer Perversion des Gedächtnisses. Das Bild der Realität war von ungeheuerlichen Reminiszenzen »zugedeckt«. Die Illusion der Erinnerung verfälschte seine Urteilskraft. Und da ihm die Klarheit zur Unterscheidung fehlte, kamen die Empfindungen seiner Phantasie den authentischen der wirklichen Welt zuvor.

Als der Wächter ihn zu erreichen drohte, floh Op Oloop in ein von Laternen erhelltes Blumenbeet. Er war geblendet. Die vormals unter der schattigen Wölbung des Blattwerks absurden Verrenkungen erstarrten nun zu einer harten und forschenden Haltung. Er suchte Franziska. Suchte sie in der Luft, um sich herum, im Widerschein, ohne sich dabei von der Stelle zu bewegen. Seine Halluzination war so wahrhaftig gewesen, daß ihm ihr Verschwinden wie Magie vorkam.

Den Wächter bemerkend, fuhr er ihn an: »Wo ist Franziska? Übergeben Sie mir Franziska!«

Doch plötzlich berichtigte er sich: »O nein, nein! … Entschuldigen Sie … Ich habe Unsinn geredet. Der Mensch verfällt oftmals Täuschungen … Der Geist trägt die Schuld daran … Wenn das Fleisch in Schlaf gefallen ist, gefällt es dem Geist, zum Streichespielen aufzubrechen … Kehrt er rechtzeitig in sein Haus zurück, legt ihm keiner die Streiche zur Last … Doch bei gewissen Gelegenheiten erwacht das Fleisch zu früh … Dann kann der Geist nicht eintreten … Das ist es, das ist es! … Mein Geist ist außer mir … Entschuldigen Sie!

»Sie sind entschuldigt, Señor. Aber begleiten Sie mich. Ich werde Sie bis zur Plaza Italia führen. Dort können Sie ein Taxi oder die Straßenbahn nehmen, um nach Hause zu fahren und sich auszuruhen.«

»Nach Hause? Schön wär's! Heute gebe ich ein Bankett …«

»Dann also zum Bankett …«

Er gehorchte.

Sein Schritt paßte sich dem des Wächters an. Entgegen dem typischen Verhalten eines Melancholikers reagierte Op Oloop mit Energie, egal ob es sich um einen förderlichen oder einen hinderlichen Auslöser handelte. Vielleicht hatte seine kraftvolle Statur Einfluß darauf. Von Kindesbeinen an im Sport gestählt, verhinderten seine Kraftreserven die Transformation seiner Persönlichkeit in einen dieser bemitleidenswerten gehenden Karyatiden, die introvertierte Menschen verkörpern. Als an einem Kreuzweg Licht durch die Blätter fiel, betrachtete der Wächter ihn aus den Augenwinkeln. Er sah zufrieden aus; die Bedrängungen aus dem Gesicht gebügelt, sprühte er vor guter Laune wie ein Prüfling nach bestandenem Examen. Dies verleitete den Wächter, den Druck auf Op Oloops Tempo zurückzunehmen und löste seine Zunge.

»Der Abend ist nicht besonders schön, was soll man sagen … es geht ein Lüftchen …«

»Er ist wundervoll. Man merkt, daß Sie den Nordwind des Arktischen Eises nicht kennen …«

»In der Tat … Ich komme aus San Juan. Ich kenne nichts weiter als den glutheißen Atem des Zonda-Windes. Dieses Flußlüftchen macht mich kaputt. Wären meine Frau und die Kinder nicht, ich würde diese Arbeit zum Teufel schicken.«

»Sie arbeiten?«

»Was denken Sie denn, was ich hier gerade mit Ihnen mache?«

»Ah, ja. Entschuldigung!«

Op Oloop brach in ein nasales Lachen aus.

Die Gesundheit ist ein Zustand der inneren Hygiene. Die Krankheit eine Verunreinigung der Seele, mit dem Schmerz als ihrem Schmutzrand. Der Marsch und das Lachen taten ihm gut. Ein großer Bereich wurde dadurch gereinigt.

»… Vor allem sonntags, wie heute, haben wir regelmäßig eine Mordsarbeit. Eine Vielzahl von armen Teufeln, die im Hippodrom verloren haben, schleichen sich hier ein. Sie haben Angst davor, abgebrannt nach Hause zu kommen. Kaum geben wir einmal nicht acht, lassen sie Pflanzen mitgehen. Sie möchten ihre Frauen einwickeln … Und dann Besoffene, Dichter, Pärchen … Uff! Sie wissen schon.«

»In der Tat, ein verdächtiges Völkchen.«

»Wem sagen Sie das! Und es bleibt uns nichts anderes übrig, als wachsam zu sein, die ganze Nacht zu patrouillieren, um zu sehen, daß die Ordnung eingehalten wird.«

»Welche Ordnung?«

»Die Ordnung, die es untersagt, auf den Bänken zu schlafen, im Gestrüpp Geschlechtsverkehr auszuüben und sich im Botanischen Garten das Leben zu nehmen.«

Das Gespräch schlug um. In Op Oloop stiegen selbstanklägerische Zweifel empor. Er übertraf sich selbst, als er von seiner Besorgnis ausgehend eine verwerfliche Zusammenfassung aufstellte. So wies er sich die unwahrscheinlichsten Verfehlungen zu, deren Tragweite ihn bedrückte. Mit einer fahrigen Geste und tiefer Diapasonstimme ließ er anklingen: »Guter Mann, sagen Sie mir offen, ob ich …«

»Seien Sie unbesorgt. Sie sind ein anständiger Mensch. Kommen Sie einfach her, wenn Ihnen danach ist.«

Sie hatten den Gehsteig erreicht.

Der Statistiker fühlte eine Art von Kribbeln im Geist. Sein Denken wurde ungenau, unbeständig. Er wußte nicht, wie er die Einladung des Wächters auslegen sollte. Einige Sekunden lang errötete er beim Gedanken an die aufgetretenen Zwischenfälle. Einige Sekunden lang bemühte er sich, die Myriaden von Neuronen zu beruhigen, die in seinem Kopf arbeiteten. Im Grunde war er naiv, leidenschaftlich naiv. Er war nahe daran, erneut in ein Delirium zu fallen. Schuld und Selbstanklage durchfurchten sein Hirn; denn das Unbedeutende erregte ihn ebenso wie das Bedeutsame. Doch dann erleuchtete ihn ein genialer Geistesblitz. Er steckte die Hand in die Tasche, zog zwanzig Pesos heraus und übergab sie dem Wächter unter Beteuerung seiner Unwürdigkeit und Demut: »Nehmen Sie, mein Freund. Ich werde Sie nie wieder in Verlegenheit bringen.«

Der Mann aus San Juan traute seinen Augen nicht. Seine Gefühlsregung war so groß, daß er kein Wort des Dankes fand. Als er sich besann, war es zu spät. Op Oloop überquerte bereits die Straße und öffnete die Tür eines Autos. Und das Auto, gedrängt vom Verkehrsfluß, verlor sich im Tumult aus Hupen und quietschenden Reifen.

Der Chauffeur fuhr um die Garibaldi-Statue herum und fädelte sich in Richtung des Denkmals der Spanier ein.

Der Wächter war noch immer verdattert. Die Schnelligkeit der Szene weckte seinen Argwohn. Vor Konzentration legte er den Kopf schräg.

»Welch Eile! … Sie werden ja wohl nicht falsch sein?«

Er näherte sich einer Laterne und hielt die Scheine gegen das Licht. Sah die Wasserzeichen. Und indem er sie für echt erklärte, beglaubigte er seinen noch frischen Undank.

Währenddessen genoß Op Oloop die Wollust der Unterwerfung, die es bedeutete, gefahren zu werden.

Die Geschwindigkeit drückte immer mehr Luft ins Innere des Wagens. Und der Passagier drückte wie ein Yogi immer mehr Luft in seinen Brustkorb. Derart gestärkt, schien er gefühlsmäßig bei sich selbst anzugelangen. Er war im Laufe des Tages so abwesend gewesen, daß ihm nun die Versöhnung mit seinen Sinnen wie eine Liebkosung erschien. Er steckte den Kopf zum Fenster hinaus. Mit Sternen überzogen wie ein rubinbesetzter Chronometer, entriß ihm das himmelblaue Uhrwerk Seufzer der Bewunderung. Die Genauigkeit war der Kult seines Lebens! Während er seufzte, umhüllte ein harziger, balsamgleicher Geruch seine Brust. Die Baumreihen, die die Avenida säumten, beschworen sofort seine Sympathie herauf. Er meditierte eine Weile über ihre unerschütterliche Disziplin und ihre gutmütige Ehrerbietung, ohne einen anderen Lohn zu erhalten als die Axt der Stadtverwaltung und den Urin der kleinen Jungen … Und während er an ihnen vorbeifuhr, breitete er seine Zärtlichkeit über sie aus wie ein besiegter General über sein übel zugerichtetes Heer. Als er sich schon dem Ende der Allee näherte, bemerkte er, wie die Hitze der übermäßigen Beleuchtung das Laubwerk austrocknete und es in Perlmutt- und Zelluloid-Tönen färbte. Er war vor Rührung überwältigt. Dachte daran, daß sie bald beginnen würden, Knospen zu treiben, um im Sommer Schatten zu spenden, ohne einen anderen Anreiz, als neues Vogelgezwitscher für ihre winterliche Trostlosigkeit zu sammeln. Diese Eigenschaft, sich einfach so zu geben, aus angeborener Güte und wesenhaftem Gebot, berührte ihn im tiefsten Herzen. Seiner Meinung nach war es die höchste Eigenschaft. Er persönlich rühmte sich damit, ebenfalls ein Baum zu sein, der ohne die Absicht, Dank zu ernten, oder das Streben, sich hervorzuheben, Blüten und Früchte abwarf.

»Geben, geben, aus innerem Drang heraus, bis ich mich ganz geben kann und verschwinden werde! Dem Leben Geist und dem Tod Materie geben, damit sie Duft und Humus der Menschheit seien! Geben! Sich geben!«

»Sprechen Sie mit mir, Señor?«

»Ja. Biegen Sie rechts ab. Fahren Sie mich zum Plaza Hotel.«

Die Stimmigkeit der Lüge rief ein freundliches und schmerzliches Lächeln auf seinen Lippen hervor.

Obschon sie vonnöten gewesen war, bekümmerte ihn die Lüge. Doch seine Laune verbesserte sich schlagartig, als er den Ursprung seines Hilfsmittels bedachte. Nun erfüllte ihn dieselbe Ausflucht mit Befriedigung, zeigte sie doch den Wiedergewinn seiner Geistesfähigkeiten, die durch Ironie und Spontaneität eines Südländers würdig geworden waren.

Er war fast zufrieden. Fast, denn die Unruhe des Tages hatte seine Pünktlichkeit beeinträchtigt. Er kam nirgendwo pünktlich an. Ein unheilvolles Vorgefühl beschlich ihn. Die Schicksalhaftigkeit verhöhnte eine Qualität, die er mit einer Sorgsamkeit pflegte, wie man sie Stecklingen angedeihen läßt; denn pünktlich zu sein, ist eine Art, sich sicher in den Stamm der Zeit einzupflanzen.

Zum Glück dauerte seine Beschämung nur kurz an. Der glatte Boden der Avenida Alvear bereitete ihm ein Gefühl der Gesetztheit, das er an diesem Sonntag umso mehr vermißt hatte, als es charakteristisch für ihn war. Er verwandelte sich daraufhin wieder in den reinen, ernsten und starken Mann, der er sonst war, kompliziert vor übermäßiger Einfachheit. Er griff erneut zu der Formel: Gleichgewicht von Kunst und Fleiß, von dichterischem Überschwang und Geld, als die er seinen Lebenswandel begriff. Und scharfsinnig wie er war, nahm er in der geistreichen List Zuflucht, alle latenten Sorgen mit dem unmittelbaren Bevorstehen seines Banketts zu überdecken.

Seine Gewohnheit, für Kreise von geschätzten Freunden Dinners zu geben, war eine Gewohnheit mit geheimen Wurzeln. Seine Beweggründe riefen stets Neugierde hervor, umso mehr, da er weder Feste besuchte noch irgendeine Einladung annahm. Die gemächlichen und reichhaltigen Mähler – seinem Aphorismus angepaßt: Die Kunst des gourmand besteht darin, viel zu probieren und nichts zu essen – verzeichneten nie auch nur einen Abtrünnigen; denn seine Freunde schätzten an Op Oloop das im Triumph verborgene Feingefühl und applaudierten mit ihrer Anwesenheit jedes Mal einem erzielten Sieg.

Gemäß den Einladungen, die er selber am Morgen aufgesetzt hatte, sah er sie bereits um den Tisch sitzen, der, da er rund war, jeden rangmäßig nach seinem fröhlichen Bezug zum Grund der Feier plazierte. Ausgenommen Ivar Kittilä, der zum ersten Mal an einem seiner Essen teilnahm, fühlte er intuitiv, daß die übrigen Gäste seine Verspätung verzeihen würden, so wie wahre Freunde verzeihen, ohne ein Wort zu sagen und, als ob nichts wäre, auf dem Teppich der vergehenden Zeit auf- und abmarschieren.

Der Beweggrund dieses Abends war gewiß erstaunlich. Er war bereit, ihn zu enthüllen, immer vorausgesetzt, daß die von ihm vorhergesehene Tragödie nicht zu schmerzhaft werden würde. Für Op Oloop stellten seine Bankette ein Linderungsmittel dar. Sie ließen ihn nicht den Erfolg vergessen, sondern die arbeitsame Qual, ihn zu erlangen. Daher bemühte er sich, sobald er seinen Platz eingenommen hatte, die geistigen Distanzen auszulöschen und nivellierte das Gespräch in einem ungezwungenen und gutmütigen Ton. Manchmal übertraf er alle an Aufrichtigkeit oder Kühnheit, um eben diese seine Überlegenheit zum Verschwinden zu bringen.

Bei diesem Stand der Dinge überkam ihn ein Vorgefühl. Und dieses Vorgefühl mischte sich mit dem – bereits unbezwingbaren – Gefühl von Sarkasmus, daß er, der Gastgeber, die Verspätung hervorrief … Unruhe und Ehrgefühl senden Schwingungen aus, die das Temperament reizen. Er war ihnen erneut zum Opfer gefallen und sein Gesicht begann sich wieder zu verfinstern. Die Unbeständigkeit seines inneren Klimas störte ihn. Er sah diese Aufregungen als Gewitterwolken an, dennoch lösten die Blitze des Begriffsvermögens sie nicht auf. Daher hielt er es für dringlich, die innere Umgebung durch umfassendes Vergessen aufzuheitern. Und sich auch von außen herauszuputzen, um das Verhalten an sein gewöhnliches Auftreten anzupassen.

Er konnte sein Vorhaben nicht mehr in die Tat umsetzen.

Das Automobil fuhr bereits auf die Plaza San Martín ein.

Als es anhielt, stieg er so ernst aus, daß sein finsterer Gesichtsausdruck noch dunkler wurde.

Er richtete seine Schritte direkt zur Toilette. Zu seinem Glück war niemand sonst da. Als er in den Spiegel blickte, bemerkte er die Masken dieses Tages, die zu einem Ausdruck wahrhaftiger Qual zusammengeschmolzen waren. Er tränkte das Handtuch in kaltem Wasser, frottierte seine Haut ab und brachte mit Kölnisch Wasser die durchscheinenden Grimassen zum Verschwinden. Nachdem er damit fertig war, schloß er mit seinem Verdruß ab, indem er die rechte Handfläche von der Stirn bis zum Kinn herunterstrich, wie jemand, der die Metallrollos eines schlecht laufenden Geschäftes herunterläßt.

Es war fast ein Wunder.

Der Spiegel warf ein völlig anderes Bild zurück. Seine geordnete, stattliche Erscheinung wurde erneut von Eleganz gekrönt. Und das Gesicht stellte die Firnis des Lebens zur Schau, die der matten Epidermis für gewöhnlich von der Schamesröte oder der Heftigkeit hinzugefügt wird.

Während er seine Krawatte richtete, rief er nach innen hinein: »Welche Gesichter muß ich heute gezeigt haben! Ich habe gelebt, ohne mich zu sehen. Es ist schauderhaft, sich mit eiserner Disziplin versenkt, bezwungen, ergeben, erstickt zu haben, um hierhin zu gelangen: ein humanistischer Automat zu sein, der schreit, springt und deliriert, sobald es zur ersten Niederlage kommt. Wenn sie mich wenigstens verstehen würden … Aber ich fürchte, von der Unwissenheit von Franziskas Familienangehörigen bereits abgestempelt worden zu sein. Die Unwissenheit ist immer apriorisch und dogmatisch! Wenn sie wenigstens wüßten, daß meine Verrücktheit mir ganz allein gehört, sie ist in allen Punkten so einzigartig, daß noch niemand sie katalogisiert hat … Wenn sie wenigstens …«

Ein abrupter Entschluß schnitt sein Selbstgespräch ab.

Er trat hinaus.

Während er mit großen Schritten in Richtung der Bar ging, feilte er an seinem Vorhaben, sein Ich in das sichtbare Ich aller Tage zurückzuverwandeln.