12:50

Seine Verwünschungen, Grimassen, Fratzen müssen zahlreich gewesen sein, denn um zwölf Uhr fünfzig konnte der Chauffeur seine Ungeduld nicht mehr zurückhalten und bremste scharf: »Sagen Sie mir, Señor: wie lange soll ich noch im Kreis herumfahren? Wir sind schon bei sechs achtzig!«

»Gut. Nehmen Sie.«

Beschwerlich kletterte er hinaus. Und während der Taxifahrer sich mühte, die zehn Pesos zu wechseln, ließ ein anderes entgegenkommendes Automobil Op Oloop brüllen: »Taxi, anhalten.«

Auf dem Weg zu diesem schwankte sein schwerer Leib wie ein Fels, der kurz vor dem Umstürzen ist. Kaum saß er, belästigte ihn eine Stimme: »Sie vergessen Ihr Wechselgeld, Señor.«

»Stecken Sie es sich in den Hintern!«

Es war eine spontane Antwort, diktiert von irgendeinem in seinem Unbewußten schlummernden obszönen Kobold. Obwohl die beiden Chauffeure wie versteinert dasaßen, verzog Op Oloop keine Miene. Es war etwas seinem Wesen derart diametral Entgegengesetztes, daß er sich, sollte er es gesagt haben, nicht hörte. Daher nahm seine Stimme auf die zaghafte Frage des neuen Fahrers »Wohin, Señor?« wieder den halb gequälten, halb feierlichen Tonfall dieses Morgens an: »Fahren Sie um den Platz herum.«

Abneigung, Zorn, Haß besaßen kein Bürgerrecht in seiner Seele. Doch sie strichen in ihm herum, wie sie in allen herumstreichen, Gefühle niedriger Herkunft. Die Kultivierung des moralischen Ichs isoliert oder erstickt sie; doch sie befinden sich immer auf dem Warteposten und brechen unversehens hervor, sobald die Spannung des Willens nachgibt oder der Geist im Delirium aus den Fugen gerät.

Die zeremonielle Förmlichkeit der self control war eine offensichtliche Tatsache in Op Oloop! Wer dafür gelebt hat, sich zu überprüfen, in Schranken zu halten, zu behandeln, landet fast ohne es zu wollen bei Modulen unfehlbaren Benehmens. Anstand. Feinheit. Redlichkeit. Die Worte, die Gesten, die Einstellungen resultieren dann aus der Arbeit von Jahren, und der Mensch wird fast dümmlich; denn wo der Respekt für die anderen anfängt, sündigt man aus Respekt vor sich selbst dadurch, daß man sich zu sehr respektiert.

Bedauerlich wird es, wenn das Bewußtsein die eigenen Fehler nicht wahrnimmt. Dann nehmen sich früher oder später andere dessen an, die Lethargie der inneren Zensur festzustellen und damit den Mißstand der Persönlichkeit. Die Chauffeure hatten das sofort bemerkt. Und der, der ihn nun fuhr, ließ mit einem betrügerischen Handgriff den Taxameter gleich drei Ziffern in den Hunderterstellen weiterspringen … Sie waren, wenn überhaupt, drei Runden gefahren, und schon zeigte er vier Pesos zehn Centavos an …

Der Statistiker achtete nicht darauf. Noch konnte er darauf achten. Sein Sehsinn war auf das Summen geheftet, da sein Gehör, das starr im Gekreische des städtischen Gewühls trieb, außer Kraft gesetzt war. Denn der Sehsinn hört im Zusammenschluß. Dieses Nervenleiden erweiterte sein Sehen um die Eigenschaften anderer Sinne. Und so verweilte er, perplex, als ob man ihm die im Gehirn zusammenfließenden Sinneslinien verbunden hätte, und er mit dem Sehsinn hörte und mit dem Geruchssinn tastete.

Markierte das Summen die Flugbahn einer mentalen Nebelwolke? War es die Klangwelle eines Gedankens im Kampf darum, sein Gefängnis aus Nebel zu durchbrechen? Es ist schwer, die gewundene Beschaffenheit des auditiven Dunstes genauer anzugeben! Er befand sich in dem unstillbaren Rausch, in dem Rimbaud sein berühmtes »Vokale«-Sonett schrieb. Ein flüchtiger Rausch. Sein Antlitz belebte sich in einer plötzlichen Aufeinanderfolge von grimaces. Op Oloop erlitt Unsagbares. Auf der Leinwand seiner blassen Haut ließen sich die Schrecken eines Musterbuchs für fürchterliche Masken nieder und bissen ihn sardonisch. Seine Seele blieb verbeult von Falten und Verformungen zurück. Sein Mund mit Narben der Angst.

Zwei weitere Runden.

Die Geschwindigkeit erfrischte ihn. Und als sich seine Verformungen und Narben auflösten, paßte sich seinem Gesicht die Maske eines überwältigten Engels an, dessen Staunen sein Erscheinungsbild im Glanze eines tiefen Lächelns erstrahlen ließ.

Aus heiterem Himmel spendete er sich selbst Beifall, klatschte mehrmals jubelnd in die Hände und schrie: »Fädeln Sie sich in die Avenida Callao ein. Schnell. Schnell!«

Zweifelsohne war das Summen verschwunden, um sich in seinem Begriffsvermögen zu etwas Gehaltvollem zu kristallisieren. Idee? Wunsch? Gefühl? Hatten die vielen Runden und Aberrunden um die Plaza del Congreso, die dem plötzlichen Impuls zum Ausbruch vorausgingen, etwas vom mysteriösen Kreisen der Brieftauben zum Zweck der Orientierung? Oder gehorchten sie den rätselhaften Drehungen der Hunde, bevor sie sich schlafen legen? Der Instinkt scheint in Kreisringe eingeschlossen zu sein. Das Rundendrehen ist unumgänglich. Er kreist in sich selbst, und wenn er eine offene Stelle findet, schlüpft er hinaus, um seine Rolle zu erfüllen.

Die Unvorsichtigkeit eines Obsthändlers beschleunigte seine Entscheidung. Als er unrechtmäßig hinter einem am Rande der Fahrbahn geparkten Lastwagen auftauchte, wurde er angefahren. Prellungen. Zwei umgestürzte Körbe.

Die Obrigkeit griff ein: »Und Sie, Señor, haben Sie nichts gesehen?«

»Nicht im geringsten. Ich habe an Franziska gedacht. An Franziska Hoerée.«

Das naive Strahlen, das sein Gesicht erleuchtete, machte wohl keinen guten Eindruck auf den Polizeiinspektor. Der konnte nicht anders, als zu murmeln: »Das scheint mir gelogen! Solch ein Riesentrottel, der anscheinend nichts als Unsinn im Kopf hat …«

Op Oloop war wirklich von allem abwesend. In einer köstlichen Verzückung, einer Mischung aus Träumerei und Entrückung, in der er hartnäckig verweilte.

»Morgen müssen Sie auf die Bezirkswache kommen.«

»Nicht im geringsten. Ich habe an Franziska gedacht. An Franziska Hoerée.«

»Ich spreche nicht mit Ihnen, Señor!«

Als der Chauffeur wieder losfuhr, war das Interesse des Inspektors mehr durch den Zustand des Passagiers geweckt als durch den Unfall selbst. Und aus einer bloßen Laune heraus folgte er dem Automobil auf seinem side-car.

In seiner Polizistenlaufbahn hatte er eine bewundernswerte Wissenschaft gelernt: die Wissenschaft, die mit den Werken des Zufalls und den Vorzeichen unbedeutender Begebenheiten spekuliert. Das Vorgefühl, die Eingebung des Herzens, das instinktive Verfolgen einer Spur bescherten ihm immer größere Erfolge als der Vernunftschluß. Und während er über einen neuen Ärmelstreifen nachdachte, gefiel er sich in phantasievollen Überlegungen rund um das Schwangergehen mit einem Verbrechen. Denn das Verbrechen ist immer eine geistige Schwangerschaft, und das lauernde Auge des Fahnders hat die Pflicht, zu wissen, wann diese entbunden wird. Viele Detektive für »Persönliche Sicherheit« oder »Öffentliche Ordnung« sind wahrhafte Geburtshelfer und Experten für Abtreibungen. Warum sollte er ihnen nicht nacheifern? Er hatte etwas bemerkt. In gewissen Verbrechern ist der innere Druck so groß, daß er ihnen den Kopf aufbläht, die Augen anschwellen läßt, und sie schwitzen ihre Freude aus, bevor sie blutig in der Entbindung des Verbrechens niederkommen. Dieses Mal leitete ihn seine Spur fehl.

Op Oloop stieg genau vor einem Anwesen seines Zuständigkeitsbereiches aus, das für die Seriosität seines Eigentümers bekannt war: des Konsuls von Finnland. Halb enttäuscht machte der Inspektor eine Kehrtwendung. Minuten später, als er an der Unfallstelle vorbeikam, verhöhnten die zerquetschten Tomaten und Pflaumen seinen Blick mit ihrer harmlosen Darstellung eines Massakers.

Quintin Hoerée und Piet Van Saal – kleinwüchsig, dicklich, kurzgeschorenes Haar rund um die wie ein Sturmhelm glänzende Glatze der eine; eckiges Gesicht, stählerne Brust und die Selbstsicherheit eines Meisters im Speerwurf der andere – erhoben sich, als sie ihn den living-room betreten sahen. Op Oloop war wenig zuvorkommend. Er ersparte ihnen jenes lästige Manöver nicht, obwohl sie fast ganz in den Maples versunken waren. Brennende Scham, ein Gefühl dumpf brennender Scham beherrschte ihn.

»Entschuldigt. Entschuldigt! Es ist das erste Mal, daß ich zu spät zu einer Verabredung komme. Ihr wißt, daß ich ohne Rücksicht auf mich selbst methodisch bin. Daß die Methode für mich so etwas wie eine organische Funktion ist. Daß niemals irgend etwas mein System des Lebens durchbrochen hat. Doch heute!«

»Bah, bah. Mach dir keine Sorgen. Mein Schwager und meine Tochter sind noch nicht vom Golf zurück.«

»Wie auch immer. Ich verzeihe mir nicht. ›Der methodische Mensch, der Schmerz, Hunger und Traurigkeit katalogisiert hat, ohne den enervierenden Peitschenschlag der Leidenschaft zu spüren‹ – wie Ernest Lavisse sagen würde –, darf sich niemals zu ärgerlichen Brüchen in seinem Rhythmus hinreißen lassen. Ich, heute!«

»Genug der Lappalien. Setz dich. Ein French mit Gordon?«

»Das sind keine Lappalien. Der Mensch, der von seinen Fehlern überzeugt ist und sich keine Vorwürfe macht, ist ein Gescheiterter in spe. Morgen, wenn die Nachsicht zum System geworden ist, wird es zu spät sein: die Minderwertigkeit wird ihn mit seiner eigenen Erbärmlichkeit durchtränken. Ich möchte mein Zepter nicht abgeben. So sehr ich auch heute …«

Piet Van Saals schneidende Stimme griff gereizt ein: »Nun gut, Op Oloop, es reicht. Wir wissen bereits, daß die Methode in dir etwas Organisches ist, etwas, das mit außergewöhnlicher Kraft keimt und dich gelegentlich, wie jetzt gerade, zu den törichtsten Ungereimtheiten treibt. Trink deinen Aperitif, und damit basta. Wozu soviele Jeremiaden rund um deine Pünktlichkeit, wo die anderen es nicht sind? Sind vielleicht Franziska und der Konsul hier? Also …«

»Ich bitte euch inständig, mich freizusprechen. Heute stoßen mir unerwartete Zwischenfälle zu. Meine ganze Methode ist aus dem Lot geraten. Ein pathetischer Fall, rettungslos pathetisch. Diesseits meiner Seele, im fast physischen Gefühl des Fleisches, sehe ich ein aus dem Brennpunkt geratenes Ich, deformiert, unscharf. Der beständige, konkrete, nüchterne Mann, den es in mir gab, hat sich in Luft aufgelöst. Ich bin ein homme de flou. Ich weiß nicht, wie ich dieses Erlebnis ausmerzen soll. Ich hatte eine strukturierte Persönlichkeit, vor einem reflektierten Hintergrund. Nun sehe ich mich nicht mehr. Man hat mich gefangengenommen. Mein ganzes intellektuelles und moralisches Kunstwerk ist verschwunden. Nur das Skelett des Willens und das Baugerüst des Traumes bestehen fort. Ich befinde mich in einem kritischen Moment, der pathetisch ist, rettungslos pathetisch.«

»…!«

»…!«

Die anomale Erregung, mit der er solcherlei Gedanken ausschüttete, ließ die beiden anwesenden Freunde bestürzte Blicke austauschen. Ihre Verwirrung ließ sie sich Op Oloop nähern. Keiner der beiden verstand etwas, doch sie bemühten sich gemeinsam darum, ihn zu beruhigen. Ihr Vorhaben stellte sich als fruchtlos und unwirksam heraus. So verbrachten sie eine beträchtliche Zeit. Piet Van Saal schrieb alles einem momentanen Zusammenbruch zu, hervorgebracht durch surmenage. Quintin Hoerée, scharfsinniger in seiner Suche nach einer Erklärung, sah es als Ausbruch eines temperamentvollen Charakters an, ausgelöst durch die Verlobung mit seiner Tochter.

In dieser besänftigenden Stellung befanden sie sich, als der Konsul von Finnland und seine Nichte unter Gelächter und Grußworten lärmend hereinplatzten.

Sie blieben sprachlos stehen.

Op Oloop stand weiter in unerschütterlicher Abwesenheit da, den Blick entleert, die Seele unbewohnt.

Niemand wagte es, sein aufrechtes, pflanzengleiches Stillschweigen zu stören.

Der romantische Gesichtsausdruck, die rätselhaft edle Haltung ließen ihm das Mitleid aller und die Tränen Franziskas entgegenfließen.

Plötzlich belebte sich der Baum.

Eine Art innerer Brise bewegte seine Lider wie zwei Blätter. Die Pupillen erleuchteten ihre Umrandung, und ein Lächeln sproß aus dem Baumstumpf seines Gesichts.

Die Beklemmung der Umstehenden, in vier zeitgleichen Seufzern ausgestoßen, ließ die Umgebung sogleich lichtvoll werden.

Und Op Oloops Augen blieben wie magnetisiert an jenen Franziskas haften.

Der Hausherr winkte seinen Schwager und Piet Van Saal ins Arbeitszimmer. Quintin Hoerée sprach als erster: »Ich bin wirklich konsterniert. Du kannst dir die Szene nicht vorstellen, die wir gerade miterlebt haben. Ein heftiges Delirium für nichts und wieder nichts. Eine höchst sonderbare Gedankenbildung unter dem Vorwand eines nicht bestehenden Mangels an Pünktlichkeit. Es war furchtbar und peinlich. In den sieben Jahren, die ich Op Oloop nun kenne, habe ich ihn niemals in einem solchen Zustand gesehen. Daß dies gerade heute passieren muß!«

»Zum Glück hat Ihre Tochter nichts gehört. Für mich ist es eine Nervensache. Ich weiß, daß mein Freund gesund und kräftig ist wie eine Steineiche. Mir ist bekannt, daß er weder an irgendeiner inneren Verletzung leidet noch an irgendeinem voranschreitenden Krankheitsprozeß. Es ist eine nervöse Störung, nichts als eine nervöse Störung. Ich bin der Meinung, daß wir den Yachtbesuch auf eine andere Gelegenheit verschieben sollten.«

»Ganz im Gegenteil«, schaltete sich der Konsul ein. »Nichts ist besser als Ablenkung. Franziskas Anwesenheit scheint ihn zu beruhigen …«

In diesem Moment ließ eine gewaltige Lachsalve die Köpfe der drei mechanisch herumfahren. Sie rannten los.

Die stattliche Erscheinung des Statistikers wiegte sich wie eine Pappel im Sturm. Die Ausgelassenheit setzte blutrote Medaillons auf seine glatte, mattweiße Gesichtshaut. Das angestaute Blut überschwemmte ihn nun vollends, und er sprach, sprach, in Sätzen, die zerhäckselt aus seinem Mund fielen: »Komödiantisch, jawohl, komödiantisch! … Ich habe hundertachtundzwanzig Adjektive gezählt … in einem einzigen Absatz … verstehst du? … IN EINEM EINZIGEN ABSATZ! … einer Rede von Almafuerte … Und ich finde nicht einmal ein einziges für dich! … komödiantisch, jawohl, komödiantisch! … Es war in La Plata … neunzehnhundertzehn … bei einer Studenten-Soirée … Ist das nicht unter aller Würde? … Den gesamten Bestand an Adjektiven unter Beschlag zu nehmen? … Komödiantisch, jawohl, komödiantisch!«

Das höhnische Lachen des Verlobten ließ Franziskas schwaches Lächeln vor Schreck verblassen. Ihr Puppengesicht – ihr baby face, wie er es nannte – bewölkte sich unversehens. Und ihre zu einem Herz geformten Lippen, in einer Ohnmacht erbleichend, brabbelten wie eine Puppe oder ein Baby: »Pa-pa! Pa-pa!«

Op Oloops Lachsalve füllte den Raum, ließ die Nippväschen klirren und den Lampenschirm tanzen. Sprang vom Flügel zu den Flauschkissen, schlitterte über den schachbrettgemusterten Estrich und machte einen Zwischenstop auf den luxuriösen Buchrücken im Regal. Er sah sein Lachen überall, wie kleine Kobolde aus einem Zeichentrickfilm. Und der ganz eigene Charme seiner Ausschweifung fachte die Klangfülle an, die in allen Tönen bis zur höchsten Stimmlage mitschwang.

Während Vater und Onkel sich mit dröhnendem Schädel um Franziska kümmerten, nahm Piet Van Saal eine strenge Haltung ein: die gebieterische Haltung, die Gefühlsausbrüche entwaffnet.

»Op Oloop«, schrie er mit aller Gewalt. »Op Oloop! Es reicht jetzt!«

Als wenn ein Blitz sein Hirn getroffen hätte, schlug der Befehl in sein Handeln ein. Und mit einem kräftigen Stoß beförderte Piet ihn in die Polster eines Maples. Der Statistiker hatte das Gefühl, mit dem Hinterteil in Schlamm gelandet zu sein. Er machte eine Geste des Ekels und klopfte sich ab, als wolle er sich säubern. Kurz darauf durchlief sein Antlitz, im Gegensatz zur mürrischen Barschheit seines Freundes, in Sekundenschnelle die Entwicklung vom Lächeln bis zur Lachsalve.

Quintin Hoerée und der Konsul, gerade zurückgekehrt, forderten fast im Duett:

»Wir müssen einen Arzt rufen.«

»Wir müssen einen Arzt rufen.«

Wie von einer Springfeder hochkatapultiert, richtete Op Oloop sich auf.

»Einen Arzt, für mich? Warum? Weil ich lache? Ha, ha, ha! Erfahrt es! Ich lache aus innerem Zwang … um die Übellaunigkeit einer von der Schwachsinnigkeit der Leute immer stärker geschürten Einsamkeit abzulassen … Ha, ha, ha! Ich brauche keinen Arzt! Niemand könnte den Dämon heilen, der in meinem Mund Stellung bezogen hat! … Ha, ha, ha! Den Dämon, der meine Gedanken konfisziert … Ha, ha, ha! Den Dämon, der auf meiner Zunge herumhüpft … in meinem Gehör … in meinem Kehlkopf …«

Die letzten Worte sprach er in decrescendo. Gleichzeitig knickte seine Gestalt ein, bis er erneut in den ausladenden Sessel fiel, aus dem er sich erhoben hatte.

Das Telefon funktionierte problemlos.

Die Entkräftung kam von innen und schlug keuchend an seine Lippen, wie die Brandung eines an den Strand schäumenden Meeres. Alle fühlten Mitleid in sich aufsteigen.

Und noch beschmutzt von seiner verbalen Staubwolke, führten sie ihn ins Schlafzimmer des Konsuls, auf dessen Bett sein Körper stürzte wie eine riesige Pappel in das sandige Bett eines Baches.

Es kam daraufhin zu einem jener grüblerischen Schweigen, in denen die Gedanken schwer im Geist liegen und genau wie die Gedärme gluckern. Jeder betrachtete von seinem persönlichen Blickwinkel aus die Verwirrung Op Oloops, und jeder interpretierte das Drama vor dem starren Protagonisten auf seine Weise.

Quintin Hoerée sagte zu sich: »Was geschieht, ist schmerzlich; aber ich erachte es als gelegener, daß es heute geschieht und nicht morgen. Seit sich Franziska in dich verliebt hat, lebe ich in ewiger Unruhe. Was kann man schon von einem Statistiker erwarten! Ein Individuum, das zählt, nachzählt, vergleicht, kontrolliert und archiviert, ist kein Mensch: es ist eine Maschine. Mir gefallen die Zahlen, warum es leugnen, vor allem die Habenzahlen meiner monatlichen Bilanzen; aber nicht die Zahlen der anderen. Immer habe ich mir für Franziska einen jungen, schlanken, aktiven Mann gewünscht, der mein Schichtholzimportgeschäft – das beste Schichtholz am Markt – fortführen könnte, und immer habe ich Mitleid für das Schicksal ihrer Liebe zu einem schon reifen, gleichgültigen Mann von riesenhafter Gestalt empfunden, einem Feind des Risikos, des Wagemuts und des Abenteuers – all dessen, was das Leben und der Handel Gutes haben! – und der immer in der Ordnung, der Disziplin und der Hierarchie der Methode versunken ist. Um die Wahrheit zu sagen, diese Unterbrechung der Verlobungsfeier ist mir schnurzpiepegal. Ich leide mit Franziska – die Arme! – aber: Das ist ein Zeichen Gottes! Alles in allem ist sie fast noch ein Kind. Und auch wenn ich weiß, daß Töchter immer von dem Lebensplan träumen, der demjenigen der Eltern entgegengesetzt ist, wird die Zeit ihr Herz vielleicht zurechtrücken, und sie wird einen Schwiegersohn nach meinem Geschmack finden, sowohl was sie anbelangt als auch hinsichtlich meines Schichtholzimportgeschäfts.«

Piet Van Saal sagte zu sich: »Armer Freund! In dieser Lage muß ich an zwei deiner Aussprüche denken: jene, die du mir einmal sagtest, als wir im Tigre-Delta ruderten. Erinnerst du dich? ›Einsamkeit ist der Genuß der eigenen Perspektive‹, ›Einsamkeit ist die Akademie der starken Mannen … Du wolltest die Landschaften deiner Seele dadurch ausdehnen, daß du dich in eine andere hineingelehnt hast, und das einzige, was du erreicht hast, ist, die deine durcheinanderzubringen. Armer Op Oloop! Die Liebe ist Licht und Finsternis. Ein grelles Licht, wenn der Geist leer oder noch jungfräulich ist; doch wenn er mit Wissen und Disziplin angefüllt ist, Finsternis, Finsternis, mein Freund. Nie konnte ich dir etwas dazu sagen, gerade deswegen, weil jeder Mensch sich angesichts der geheimnisvollen Großartigkeit der fremden Seele gehemmt fühlt. Doch du hast es schlecht gemacht! Ich dachte, du hättest die Doktorwürden in Einsamkeit – Akademie der Energien, in der jeder seine Erfahrung vervollkommnet – und du wüßtest es schon … doch du bist nur ein simples Schülerlein … Armer Freund! Ein simples Schülerlein, das im Moment der Prüfung ›vom Zittern gepackt wird‹ … Ein simples Schülerlein, das seinen Stoff beherrscht, da es in Büchern gestöbert hat und bei seiner Kultivierung verdummt ist; das niemals damit gerechnet hat, daß die Aufregung ihm ein Beinchen stellen würde … Op Oloop, siehst du, in was sich deine ganze Stärke, deine ganze Methode, dein ganzes System verwandelt haben? Op Oloop! Op Oloop! Mein armer Freund!«

Der Konsul von Finnland sagte zu sich: «… Nun gut: Geduld. So ist das Leben! Um was es mir leid tut, ist die Siesta, die ich auf der Yacht halten wollte. Meine Lider sind schwer. So ein Ärger! Daß es ihm auch gerade heute einfallen mußte, einen Anfall zu haben, und das in meinem Haus! Mir schaudert es. Beim nächsten Mal, Op Oloop, such dir einen anderen Ort. Das Haus eines Konsuls ist für derlei nicht geeignet. Franziska trägt die Schuld daran. Ich habe es ihr immer wieder gesagt, doch sie blieb dickköpfig! Sich wie eine Neapolitanerin zu verlieben, ein Mädchen aus sechsundfünfzig Grad nördlicher Breite! Was für ein Wahnsinn! Welche Unbesonnenheit! Es ist merkwürdig, wirklich merkwürdig. Heute morgen wachte sie als reines Nervenbündel auf, so als hätte sie eine Vorahnung. Ich drängte sie mit Gewalt dazu, Golf zu spielen, um sie abzulenken. Doch vergebliche Liebesmüh! Ihre drives schlugen gewaltsam auf etwas anderes als den Ball ein, ihr approach war geziert. Die Sorge erregte und dämpfte sie. Sie besiegte mich mit drei Schlägen Vorsprung, aber sie hat nicht gegen mich gespielt, da bin ich mir sicher! Auf dem letzten green, nach einem wundervollen putt, konnte sie nicht mehr, die arme Franziska, und brach in Tränen aus. Ein schlechtes Zeichen, zu weinen, wenn man gewinnt!

Nun gut, Geduld. So ist das Leben! Doch wann kommt endlich der Arzt? Was für eine Belästigung! Du bist ein unverzeihlicher Idiot, Op Oloop. Eine schöne Art, den Leuten zur Last zu fallen! Oh! Wie schwer meine Lider sind!«

Wenn Op Oloop von den Tiefen seiner Ohnmacht aus die umstehenden Seelen mit einem Periskop hätte betrachten können, wäre er sicherlich jäh aufgeschreckt. Doch sein Wille war versunken, versumpft, in der undurchsichtigsten Willenlosigkeit.

Franziskas Ankunft brachte Bewegung in die Szene.

Ihre bloße Anwesenheit machte den finsteren Gedankengängen ihres Vaters und ihres Onkels den Garaus und ließ Van Saals gütiges Antlitz erstrahlen.

Sie kam wie in Trance, das Gesicht in ruhiger Qual versunken. Stumm. In der einen Hand ein Fläschchen Riechsalz und in der anderen ein Glas Cognac. Ihr Handeln gehorchte unbekannten Befehlen. Sie hatte etwas von Ophelia, in den gesunden Menschenverstand von Lotte eingepflanzt. Etwas von Ligeia, umgefüllt in die Gelassenheit von Ellénore. Kaum legte sie ihre Hand auf die Stirn ihres Verlobten, gab die Stirn nach. Die Falten, fleischerne Wellen, lösten sich unter der zärtlichen Brise auf. Kaum reizte das Riechsalz die Nasenschleimhaut, da verschwanden die Einkerbungen aus Demut und Resignation, die Op Oloop bedrückten. Kaum schlürfte sein Mund das Herzmittel, da hob sich die kraftvolle Brust des Statistikers in einem begierigen Atemzug.

»Einen Moment, einen Moment, mein Liebling. Ich öffne die Fenster. Die Luft hier ist verdorben von Grübeleien.«

Alle hörten verdutzt ihre Worte, und überrumpelt marschierten sie unverzüglich einer nach dem anderen hinaus, um sich im Speisesaal zu versammeln.

Während er große Anstrengungen anstellte, um die Bilder seines Traumes zurückzuhalten, richtete Op Oloop sich nach und nach auf und runzelte dabei erneut die Stirn. Franziska stützte ihn sanft und voller Fürsorge. Als er mit seinen einhundertachtzig Zentimetern aufrecht neben dem Bett stand, bot die zerbrechliche und kleine Gestalt seiner Verlobten einmal mehr den rätselhaften Anblick ägyptischer Bildhauerkunst, die die Ehefrau der Pharaonen im Miniaturformat darstellt, wie eine an die enormen Flanken des Ehemannes angelehnte Falte.

Dann suchten sich ihre Gesichter. Auf halber Strecke fanden sich die Blicke. Der ihrige, da er nach oben zeigte, schien voller Ekstase; der seinige, da er nach unten zeigte, voller Mitgefühl … Doch in beiden lag weder Ekstase noch Mitgefühl allein, sondern beides zusammen, denn so ist die Liebe, in ihr ist auch Platz für Ekstase nach unten und Mitgefühl nach oben hin!

Allein, ernst, erfaßten Franziska und Op Oloop die Erhabenheit des Augenblicks. Und alle Anziehungskraft zum Höchsten führend, bestätigten sie die ihren Seelen innewohnende Reinheit mit einem absolut unverantwortlichen Kuß.

Der Instinkt hebt die Widersprüche und gefällt sich darin, Extreme zu vereinen. Darauf beruht das Gleichgewicht. Op Oloop zeigte eine unschuldige Röte, als er sich aus der Umarmung löste, und Franziska den stolzen Genuß, sich geliebt zu fühlen. So, im vollkommenen Gleichgewicht, beschrieb seine tiefe Diapasonstimme die Bilder seines Traumes: »Franziska, die Versprechen der Liebe sind unentrinnbare Verpflichtungen, wenn sie von der Seele unterschrieben werden. Eine erotische Insolvenz gibt es nicht, es sei denn, es handelt sich um die Krise einer Zweckehe. Glaube an die meine, so wie ich an die deine glaube. Auf diese Weise begegne ich dieser Hochzeitsfälligkeit mit einem in gegenseitigen Träumen erarbeiteten Verlangen. (Pause.) Ich weiß wohl, daß in der Musik des Lächelns auf der stummen Linierung der Blicke viele Hoffnungen auf Termin geschrieben werden. Worte sind im spirituellen Geschäft überflüssig. Stets waren die großen Liebenden sparsam mit Worten. Die Leiden des Werther und die Qualen der Maria Bashkirtseff sind vorsichtige Vertraulichkeiten. Wer bis zur Pracht des höchsten Gefühls vorgedrungen ist, der kennt das Hemmnis rhetorischer Werte! (Tiefes Seufzen.) Die Brautzeit kann ein Wettstreit der Höflichkeiten sein oder ein täglicher Kult der Obsession. Mein Fall. So kann man der Verwundung durch den göttlichen Pfeil mit einer Reihe von Finten ausweichen oder ihn mit emporgereckter Brust empfangen, um die köstliche Marter der Ruhelosigkeit zu genießen, die der Schmerz manchmal entzündet, verstärkt durch die Verdorbenheit des anderen. (Große Niedergeschlagenheit.) Jenen aber ist zu mißtrauen, die die Liebe stilisieren. Sie sind professionelle Verführer, die die eigene Eitelkeit und den Titel des Don Juan auf den Jahrmärkten der Dummheit hochschätzen. Sie brüsten sich, arme Teufel! und verhindern oder mindern damit die Herausbildung des feinen Kristalls, der es eigentlich ist, der ihr Begehren nährt. Ihnen galt die Phobie Stendhals. Zu Recht: Da die Liebe die Kraft des Lebens ist, bedeutet jede Beschränkung eine Beleidigung ihrer Natur und jede Ästhetisierung eine bizarre Extravaganz. (Ermüdete Schlaffheit.) Die Leidenschaft ist die Großzügigkeit des Egoismus. Wenn die Liebe sich auf dem Gipfel der Anziehungskraft verausgabt, kommt es auf dem Höhepunkt zu einem edlen Gefühl, das die Vorurteile beherrscht, die Hyänen des Eigennutzes zähmt und die Wesensverwandtschaft befruchtet, über die Geringschätzung aller und seiner selbst hinaus. ›Die Gesellschaft ist mir lästig, die Einsamkeit drückt mich nieder‹ … Ich sage geschlagen das gleiche wie Constants Adolphe. (Tränen.) Es nützt nichts, für das Aufschäumen des Herzens die einfache Alchemie der guten Ratschläge zu suchen. Es nützt nichts, für diesen exacerbatio cerebri etwas anderes herbeizubringen als die beruhigende Glückseligkeit dessen, was man liebt. Die heilende Kraft der Liebe währt ewig. Die Liebe ist ein Gift mit einem einzigen Gegengift: sie zu lieben. (Unterdrücktes Seufzen.) Franziska, auf daß sich derart unsere gefolterten Seelen in der Stille heilen! Auf daß sie mit diesem Hochzeitslied aus Tränen in Glück ausbrechen! Aus Tränen, die nichts weiter als dekantierte Zärtlichkeit sind! (Der Kopf, eine reife Frucht des Schmerzes, fällt auf seine Schultern.)«

So hätten sie vielleicht endlos weitergemacht. Die Glückseligkeit schaltet das Sinnesleben aus und legt den Fluß der Stunden lahm. Doch die Klingel, die dieses Mal viel durchdringender erschallte, lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Eingangstür und auf die Schritte ihres Vaters, des Konsuls und Van Saals, die sich auf den Weg machten, um den eintreffenden Arzt zu begrüßen.

»Es ist ungeheuerlich, was passiert, Op Oloop! Sie verstehen dich nicht! Sie wissen nicht, daß die Liebe deine Krise hervorruft. Und sie möchten sie herausreißen, indem sie mich aus dir herausreißen.«

»Oh, nein, cherie! Es wird ihnen niemals gelingen, uns zu abelardisieren. Unsere Verbindung ist unauflöslich. Keine Vulgarität kann sie antasten. Wenn die Schwierigkeiten größer werden, soll unser gegenseitiges Vertrauen sie gerade deshalb überwinden. Ich tauge nicht zum Abélard! Niemand kann mich abelardisieren! Sie werden uns niemals abelardisieren!«

Er wiederholte die Sätze mit wachsendem Ingrimm, als sich der Arzt und die übrigen näherten. Das nie gehörte Verb erweckte in allen gespannte Neugier:

»Abelardisieren?«

»Abelardisieren?«

»Abelardisieren?«

Der Arzt – ein frischgebackener, junger Arzt, der mit dem gleichlautenden Titel, Namen und der Praxis seines Herrn Papa spekulierte – stellte sich die gleiche Frage. Und ohne die Bedeutung des Wortes zu kennen, urteilte er zu den anderen gewandt mit gedämpfter Stimme: »Das ist ein Neologismus. Ein schlechtes Zeichen! Es gibt viele Arten der Geistesverwirrung mit einer Neigung zu Neologismen.«

Und er schritt auf Op Oloop zu.

Dessen Stimmung war abrupt umgeschlagen. Auf die heiße und angestaute Liebeserklärung an Franziska folgte nun eine verkrampfte Phase. Auf sanfte Weise verkrampft. Keine Störung war bei ihm festzustellen, sei es physischer oder degenerativer Art. Abgesehen vom anatomischen Stigma seiner Größe, entdeckte der junge Physikus keine andere auffällige Anomalie. Das Leiden nahm unterdessen im Verborgenen seinen Gang. Ohne Vorankündigung streckte sich Op Oloop keuchend auf dem Sofa aus. Und während seine Gesichtsmuskeln in einer bitteren Grimasse erstarrten, schien er in völlige Bewußtlosigkeit zu versinken.

Wenn man sich mit fremden Federn schmückt, gerät das eigene Ansehen in Gefahr. Ein solches widerfuhr dem jungen Arzt. Er war anstelle seines Vaters gekommen, indem er den gleichlautenden Titel, Namen und die Telefonnummer ausnutzte, und bekam nun die Quittung für seine Verwegenheit und die mangelnde Voraussicht des »Herrn Papa«, ihn mit seinem Ruf hausieren zu lassen. Doch er mußte etwas sagen. Die Umstehenden drängten ihn mit ihren Augen voll unruhiger Erwartung.

Über eine faule Ausrede nachsinnend, wich er einige Schritte zurück und sagte: »Der Puls ist in Ordnung. Er hat kein Fieber. Es handelt sich um einen nervösen Schock. Sicherlich hat der Patient gerade eine große Aufregung hinter sich. Die Leidenschaften und Qualen der Seele äußern sich auf solch krankhafte Weise. Vielleicht hat eine fixe Idee seine Gedankenbildung behindert. Alles geht vorüber. Wenn es sich nicht als eine histologische Verletzung herausstellt … Dann sähe die Sache anders aus. Der große Sympathikus …«

»Der große Sympathikus sind Sie«, brachte Op Oloop hervor und setzte sich gebieterisch auf. »Aus meiner angeblichen Lethargie heraus habe ich Ihre Sympathie für die Aufmerksamkeit bemerkt, die diese Herren Ihrem Unsinn schenken. Nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich kein anderes Problem habe als das, völlig normal zu sein. Den zerebrospinalen Zellen, die meine Gefühle und Ideen verarbeiten, geht es gut, danke schön. Ich benötige Ihre Dienste nicht. Gehen Sie.«

Die allgemeine Verwirrung ließ die Luft schwer vor Wut, Verärgerung und Scham werden.

Der Mediziner wandte sich schlechtgelaunt ab und zischte dabei dem Konsul und dem Brautvater zu: »Ein Verrückter. Ein vernünftiger Verrückter. Das ist gefährlich. Rufen Sie mich nicht noch einmal in einem solchen Fall. Ich bin kein Spezialist.«

»In Ordnung, Doktor. Aber was sollen wir Ihrer Meinung nach tun?«

»Machen Sie, was Sie wollen. Bringen Sie ihn in ein Irrenhaus … geben Sie ihm Zyanid … Auf Wiedersehen.«

Eine derartige Unverfrorenheit heizte die Stimmung nur noch weiter an. Beide kochten vor Wut.

Ein Blick in die wohlwollenden Augen Franziskas ließ den Statistiker ein ironisches Lachen unterdrücken. Piet Van Saal dachte daraufhin über einen erfolgversprechenden Weg nach, zur alten Gesetztheit seines Freundes vorzudringen.

»Los, Op Oloop, gib es zu. Diese vorgetäuschte Attacke ist nicht in Ordnung. Mich wundert, daß du zu solchen Mitteln greifst. Du weißt, wie sehr man dich in diesem Haus schätzt. Ich kann mir nicht erklären, daß du uns derart erschreckst, genau am Tag deiner Verlobung. Sind Sie nicht auch der Meinung, Franziska, daß all dies geschmacklos erscheint?«

»Geschmacklos? Warum? Was auch immer my darling denkt, fühlt oder macht, ist der Gipfel an Perfektion.«

»Auch das noch!«

»Ganz richtig. Ganz richtig«, schaltete sich Op Oloop ein. »Wundere dich nicht. Du verstehst nichts. Du hast nie geliebt.«

»Mensch! Red kein dummes Zeug. Du bringst mich zur Verzweiflung. Ich habe in meinem Leben Hunderte verliebter Menschen kennengelernt. Nie habe ich etwas Vergleichbares gesehen!«

»Das erhöht ja gerade unsere Liebe. Wenn dem nicht so wäre, würde ich selbst ihn bezichtigen. Doch, Sie sehen ja. Ich habe Nachsicht mit seinem Irrsinn und seiner Besonnenheit, ich akzeptiere seine Heftigkeit und seine Ohnmacht. Ein Mann wie Sie, aufgeblasen von seiner Normalität, kann unsere Seelen nicht ergründen. Die Liebe ist das einzig würdige Stadium des Lebens. Die, die sich nicht in ihm befinden, sind blind; und die, die aus ihm herausgetreten sind, kurzsichtig. Sie sehen den erleuchteten Erdkreis, den wir durchwandern, nicht oder kaum. Es ist vergebliche Liebesmüh, daß Sie, mein Vater und mein Onkel uns anleiten wollen, denn Ihre Ratschläge behindern unseren Weg; oder daß Sie den Kurs unserer Gedanken ablenken, denn die Einmischung anderer verliert sich in unserem Labyrinth.«

Op Oloop nahm ihre rechte Hand, fast in Ekstase, und küßte sie. Berührt von ihrer trouvaille, unterbrach er seinen Anfall von Sinnenlust und stützte Franziskas verausgabte Stimme: »Jawohl. Ein Labyrinth. Ein Labyrinth, gebaut aus ihrem Glauben und meinem Glauben, aus ihrem Fieber und meinem Fieber, aus ihrer Qual und meiner Qual. Ein Labyrinth, Piet, das nur einen Schlüssel hat, einen geheimen und tiefsinnigen Schlüssel: unser Verständnis!«

»Wer hätte das gedacht! Du, so gelehrt, so streng, so exakt …«

»Kein Mitleid. Reiz mich nicht. Man stellt so lange peinlich genaue Gewohnheiten zur Schau, bis der Instinkt sich erhebt. Ich war fast unwillkürlich methodisch, von ekelhaften rationalen Begünstigungen in Versuchung geführt. Ich hatte mein Dasein kanalisiert, um frei zwischen den Mitläufern zu fließen. Ich habe also das Nützliche gezähmt, wodurch ich meine Zeit so vollständig wie möglich ausnutzen konnte. System, Ordnung, Kultur … Glasperlen, Blechwaren, Nippes … Die Kultur besteht darin, den Papagei ›Psittacus‹ zu nennen … Ha, ha, ha!«

»Hi, hi, hi!«

Van Saal war wie gelähmt, konsterniert.

Ein feines Bächlein aus Lachen, das von Franziskas frischen Lippen perlte, vereinte sich mit Op Oloops immer höher angestautem Strom der Heiterkeit. Durch den gegenseitigen Ansporn erreichte das Gelächter absurde Ausmaße. Als die Angehörigen der Verlobten zurückkehrten, war Op Oloops Lachsalve eine breite Flußmündung und die Franziskas ihr kristallklarer Zustrom.

»Ha, ha, ha, ha, ha!«

»Hi, hi, hi, hi, hi!«

Die seelische Erschütterung war so enorm, daß es ihnen bei ihrer Rückkehr kaum möglich war, die Schwelle der hall zu überschreiten.

»Schnell. Wir müssen diesen Wahnsinnigen von hier fortschaffen. Sag dem Chauffeur, daß er das Automobil vorbereiten soll. Die Gouvernante und das Mädchen sollen kommen und sich um meine Tochter kümmern. Wir werden Op Oloop mitnehmen. Es reicht! Es reicht! Er wird letzten Endes auch uns noch in den Wahnsinn treiben!«

Die Liebe ist eine ganz spezielle Psychose, die die Seele zweier Wesen gleichzeitig durchtränkt und in ihren Geist eindringt. Wenn sie nur einen befällt, ist es keine Liebe, sondern Wunschvorstellung, Leid. So läßt sich durch geistige Übereinstimmung und phänomenologische Identifikation begründen, wie die Geliebte die Erklärungen und Gefühle des Geliebten erklärt und fühlt, und wie sie, immun gegen die sie umgebende anmaßende Normalität, die Vision und Obsession des visionären und obsessiven Verlobten versteht.

Franziska wurde von einer Liebe beherrscht, die sich derart an der Grenze befand. Sie selbst befand sich an der Grenze, strich um die Linie herum, die das Licht vom Schatten trennt, und neutralisierte mit ihrem zeitweiligen Ungleichgewicht das klarsichtige Ungleichgewicht Op Oloops.

Unter solchen Umständen verfeinert sich der Scharfsinn. Und die Gedanken oder der Anstand, die sich im fading entfernen, diktieren den Stimmbändern und dem Benehmen erneut korrektes Reden oder Verhalten. Beide Verlobten schwiegen nun und bedachten ihre eigene Haltung, während sie aufmerksam auf das Wirrwarr aus Anordnungen, Klingeln und Gelaufe in der hall lauschten.

»Liebling, sie führen etwas gegen dich im Schilde. Es ist fürchterlich!«

»Ich weiß. Ich wittere ebenfalls etwas. Diese Leute mögen mich nicht. Es ist eine wahrhaftige Hölle! Du kannst nicht hierbleiben. Ein Engel in der Hölle! Unmöglich! Ich habe mich schon entschlossen, mit dir fortzugehen. Komm. Laß uns gehen.«

Die Entschlossenheit hatte sich auf seinem erbleichten Gesicht eingeprägt. Sein Atem ging keuchend. Und indem er sie mit einer gewissen bildhauerischen Grazie vor sich postierte – ein leichtes Schild für seine gerade aufgerichtete Robustheit –, setzte er sich in Richtung der hall in Bewegung.

Der Konsul und Franziskas Vater begriffen die unerwartete Wendung, die die Angelegenheit nahm. Die von ihnen vorgesehene tatkräftige Maßnahme, Op Oloop zu entfernen, wurde unmöglich gemacht.

»Was für eine Widerwärtigkeit!«

»Und jetzt das! … Was für ein Fluch lastet bloß auf mir?«

»Nun gut, Ruhe bitte!« setzte Van Saal an. »Es handelt sich um einen psychischen Konflikt, dem man mit Umsicht begegnen muß. Kopflosigkeit führt zu nichts. Franziska ist vom Leiden Op Oloops verhext. Die Ansteckungskraft ist so groß, daß die Ungereimtheiten seines Deliriums nun aus ihrem Mund kommen. Ich bitte Sie, ich bitte Sie inständig, seien Sie behutsam!«

Im Landesinneren gibt es Völker, die sehnsüchtig einen Zugang zum Meer suchen. Die von der rhythmischen Weite des Ozeans und der féerie von Nächten mit doppelter Sternenmenge träumen. Es gibt von dicken Seelenschichten umhüllte Menschen, die sich in der gleichen Verfassung befinden, geistige Inlandsnaturen, die einen Zugang zur Liebe ersehnen; denn für sie ist die Liebe der große Ozean der Glückseligkeit. Dieser Zugang zum Meer, dieser trait d'union, ist immer das Fleisch.

Franziska hatte einen Vorgeschmack auf seine Wonne bekommen. Mit jedem Kuß, mit jedem Kontakt ihrer Hände floß das Blut wie magnetisiert in ihre Lippen und Finger, während ihnen der Kompaß des Herzens mit kräftigen Schlägen den genauen Kurs wies. Franziska war ihrem Gefühl treu. Und vor ihrem Vater sprach sie: »Papa, ich gehe mit Op Oloop fort. Das ist der unausweichliche Befehl des Schicksals.«

Sie sagte nichts weiter als diese Worte. Doch die darin liegende Absicht und Charakterstärke setzten ihren Lauf über die Ohren hinaus fort, bis hin zum Bewußtsein Quintin Hoerées und derjenigen, die ihn umringten.

»Fortgehen! Fortgehen! Weißt du, was du da machst, Tochter?«

»Ja. Absolut. Niemand kann uns zurückhalten«, bestätigte der Verlobte.

Und er packte sie, zierlich und folgsam wie einen von seinem Arm hängenden Stock, und marschierte in Richtung der Haustür los. Alle traten ihm in den Weg.

»Einen Moment!«

»Was denkt er sich? Daß er uns niederwalzen kann?«

»Aber, mein Freund! Was fällt dir bloß ein?«

»Ist Franziska etwa nicht zweiundzwanzig Jahre, drei Tage und fünf Stunden alt? … Ist sie etwa nicht Herrin ihres Willens? … Haben wir uns etwa nicht verlobt? … Ist die Brautzeit etwa nicht einer Ehe auf Probe gleichzusetzen, ebenso wie die Scheidung einen legalen Ehebruch bedeutet? … Ist etwa …«

Das Geräusch eines gewaltigen Stockhiebs war zu hören.

Zugleich, als sei es von der Schlagbahn zum Zischen gebrachte Luft, erscholl ein Schrei aus tiefster Seele.

Op Oloop und Franziska stürzten fast simultan niedergestreckt dahin: der eine von einem ansehnlichen Schlag hinter das linke Ohr, die andere von der Feigheit des Angriffs.

Der Konsul von Finnland, noch mit dem Stock in der Hand und mit knirschenden Zähnen, schien an seiner Entrüstung zu kauen. Er dachte nicht daran, Hilfe zu leisten, und brummelte konfuse Verwünschungen vor sich hin: »… In meinem Haus … Den werd' ich lehren … Eine Unverschämtheit …«

Niemand außer Van Saal schenkte ihm Aufmerksamkeit. Die durch das ungestüme Vorgehen des Konsuls zum Ausdruck gebrachte Geringschätzung war so groß – gerade nachdem er Umsicht angemahnt hatte –, daß dieser Angriff ihn besonders beschämte. Schweigsam, düster und ein entschiedenes Vorgehen gegen den Aggressor ausbrütend, kümmerte er sich ohne ein Wort zu sagen um die Niedergestreckten. Er hob Franziskas Körper hoch und legte ihn auf einen Diwan. Richtete den Op Oloops – an Hüfte und Knien rechtwinklig abgeknickt –, indem er ihn auf dem Teppich bettete und ihm ein Flauschkissen unter den Kopf legte. Nachdem er behutsam die Wunde ausgewaschen und die Kleidung sorgfältig zurechtgezogen hatte, wandte er sich mit wutentbranntem Gesicht dem Konsul zu: »Kanaille!« stieß er hervor. »Du solltest dich schämen!«

Und er verpaßte ihm eine saftige Ohrfeige.

Dabei blieb es.

Der Konsul, abwechselnd rot und totenbleich, versuchte sich zu rechtfertigen, konnte es aber nicht. Eingeschüchtert verdrückte er sich ins Innere des Arbeitszimmers.

Wenn man dich auf die linke Wange schlägt, dann halte auch die rechte hin … Er war kein Christ. Die Resignation angesichts der Beleidigung ist ein scheußlicher Masochismus. Den er nicht teilte. Aus eben diesem Grund wußte er die Dublette zu vermeiden. Wenn man die Ehrverletzung nicht zurückzahlen kann, zum Beispiel mit einem Schlag, der zum knock out reicht, ist es richtig, das zu machen, was er tat: entschlüpfen. Doch die Lektion war erteilt. So gut erteilt, daß sie Van Saal an jene denken ließ, die Proudhon – der Verfechter der Theorie, Eigentum sei Diebstahl – bei jener Gelegenheit erhielt, als ein edler Widersacher ihm mit diesen Worten eine kräftige Ohrfeige verabreichte: »Ich gebe sie Ihnen als Ihr höchsteigenes Eigentum …«

Auf dem Weg, den Daniederliegenden weitere Hilfe zu leisten, stieß Van Saal mit dem Chauffeur zusammen, der eilig den Arzt holen lief. Und im Vorübergehen konnte er das Gesicht der Verlobten sehen, die in ihr Schlafgemach getragen wurde. Welch schmerzliches Pathos! Er war berührt. Ihr kleines Engelsgesicht hing übel zugerichtet herunter, schlaff, mit keinem weiteren Ausdruck als dem ihres Schreis, der sich in ihr welkes Blütenfleisch eingebrannt hatte.

Op Oloop lag weiterhin lang ausgestreckt da, allein wie ein Schiffbrüchiger. Van Saal nahm seine Hände, bewegte die Arme. Der Atem belebte sich kaum. Ab und zu flackerte in seinem Gesicht ein ferner Schimmer des Lebens auf, das sich nun vielleicht in Träumen fortsetzte. Ein ferner Schimmer des Geistes: Leuchtturm der eigenen schiffbrüchigen Materie! Schwache Seufzer. Und sonst nichts.

Die Stille versank in der Stille. Piet Van Saal wußte weder was er tun noch was er sagen sollte.

Zum Glück traf der Arzt ein.

Der gepflegte Fünfzigjährige war der Vater des gleichnamigen Arztes, der zuvor da gewesen war. Da er ein mit Ehrungen und Geld überhäufter Mann war, kam er eher, um den von seinem Sohn in diesem Haus beschädigten Familienruf wieder zu Ehren zu bringen, als um des Notrufs willen.

Als er ihn erblickte, kam der Konsul von Finnland herbei, um ihn zu begrüßen.

»Hallo, Doktor, wie sehr ich mich freue, daß Sie hier sind! Es war bereits ein anderer Mediziner da. Er hat die Ursache nicht gefunden …«

»Ja. Mein Sohn: Daniel Orús Junior.«

»Ihr Sohn! Ich wußte nicht, daß Sie einen Sohn haben, der Arzt ist.«

»Doch. Er hat mir bereits alles erzählt. Ich komme mehr ihm zuliebe, als des Kranken wegen. Allem Anschein nach handelt es sich um einen Simulanten, der Wahnsinnsanfälle vortäuscht, um so wer weiß was für unaussprechliche Absichten zu bemänteln.«

»Ich habe so etwas schon geahnt, warum es leugnen?«

In dieser Notlage kam die »Simulation« gerade recht.

Der Arzt ließ seinen Blick über das Bild schweifen, das der Statistiker bot. Mehr interessierte ihn jedoch der Bericht von seinen Handlungen, und so verwickelte er sich in eine lange und eingehende Unterhaltung mit dem Hausherrn, die sich auf weitausholende Fragen, knappe Antworten und a priori-Schlüsse beschränkte. Dann erst ging er zum Patienten zurück, selber in jeder Hinsicht patient. Er kniete sich vor ihm hin, betastete ihn, horchte ihn ab, öffnete ihm die Augen, beklopfte ihn tausendfach und testete die Reflexe. Doch Op Oloop blieb fast unverändert; nur hatte sein Gesicht nun durch den erstaunten Zug um seinen entspannten Mund und die halbverhängten Pupillen eines Opferlammes einen entrückten Ausdruck angenommen. Als Doktor Orús sich aufrichtete, nahm ein wissender Blick die Diagnose vorweg.

»Ich kann Ihnen versichern, daß dieses Individuum bewußtlos ist. Lipotimie. Mit Sicherheit haben wir es mit einem sympathikotonischen Temperament zu tun. Eine Spritze wird ihn wieder zu Bewußtsein bringen. Ein emotionaler, erregbarer, unbeständiger Typ. Keine Sorge, das geht vorbei. Eine Neigung zur Beklemmung. Vielleicht ein Kandidat für manische Depression. Diese Erstarrung, die sein Gesicht zeigt, ist typisch für die melancholia attonita. Die Melancholie ist immer ein Syndrom. Nach dem, was ich beobachtet habe, und dem, was Sie mir gerade erzählt haben, besteht kein Zweifel, daß seine Ohnmacht einem psycho-neuropathologischen Anfall gehorcht …«

»Einem was?« schrie Piet Van Saal, bereits verärgert über seinen wenig zuvorkommenden Tonfall. »Sehen Sie! Sehen Sie hier, hinter dem Ohr.«

Der Arzt war verdattert.

Das ganze Gerüst aus Geschwätz lag vermengt mit dem Bauschutt der Scham zu seinen Füßen. Er fühlte den Schandfleck des Betrugs. Und während er den Konsul von Finnland mit einem haßerfüllten Blick starr ansah, nahm er seinen Hut vom Haken und machte sich bereit zu gehen.

Hals über Kopf kam das Mädchen die Treppe hinuntergestürzt.

»Den Doktor, schnell! Der Doktor soll kommen! Señorita Franziska fiebert …«

Der Arzt zeigte sich nun hochmütig, unerschütterlich.

Die drei Anwesenden verlangten mit ihren Blicken die Behandlung der Kranken. Doch er blieb unbeirrbar und brachte im Geheimen eine kompensierende Schmährede zur Reife. Die Bestürzung, die seine Gleichgültigkeit hervorrief, verwandelte sich daraufhin in mitleidheischende, drängende Blicke. Entgegen seiner Pflicht blieb er unerweichlich, rührte sich keinen Fingerbreit. In dieser Lage erreichte die dramatische Spannung ihren Höhepunkt. Die drei Blicke schienen ihn zum Hinaufgehen zwingen zu wollen, indem sie ihr Funkeln zu Stahl verhärteten. Ohne Erfolg. Er war fest in seinem Groll verankert.

»Ich möchte keine weiteren Possen. Bringen Sie sie in ein Irrenhaus … Geben Sie ihr Zyanid … Auf Wiedersehen.«

Die Blüten, das Beste der Pflanzen, verraten die Zugehörigkeit zu ihrer Familie. Ebenso die moralische Haltung, das Beste des Menschen. Doktor Daniel Orús, Vater des gleichnamigen Arztes, hatte gerade durch ähnliches Verhalten die Zugehörigkeit beider zur gleichen Familie aufgezeigt.

Ist es möglich, nach oben zu stürzen? Die drei stürzten auf jeden Fall. Der Schrecken kehrt die Empfindungen um. Ohne sich dessen bewußt zu sein, stiegen sie die Treppen hinauf, als würden sie sich nach unten werfen.

Op Oloop lag weiterhin lang ausgestreckt da, allein, wie ein Schiffbrüchiger.

Das in den Gezeiten heranschäumende Meer wirft all das an den Strand, was ihm nicht eigen ist oder nicht in ihm wohnt: Wasserleichen, Strandgut, Überreste von in Unwettern gesunkenen Schiffen. Ebenso der Instinkt: Er wirft all das ans Äußere des Seins, was ihn davon abhält, sich in den tiefgreifenden Rhythmen der Materie zu wiegen. So überwindet zum Beispiel der Sexualtrieb die Zensur, die Verhaltensmaßregeln und die Moral, die ihn hemmen. Der Selbsterhaltungstrieb besiegt mit ebensolchem Egoismus die Ohnmachten, Traumata und Kollapse, die die Lebenskräfte durch vorübergehende Schwächungen oder unvorhergesehene Nervenattacken zu Boden strecken.

Wenn Op Oloop in diesem Augenblick die Kontrolle über sich besessen hätte, dann hätte er die Wahrhaftigkeit dieser Aussage bestätigen können. Doch dem war nicht so. Sein Hirn war eine Camera obscura am freien Tag des Personals. Kein einziger Gedanke, kein einziges Bild. Er erwachte auf höchsten Befehl des Instinkts.

Als er sich aufrichtete, waren die glänzenden Glasschränke, die ordentlichen Archive, der kostbare Zierat seines Geistes draußen in der hall arrangiert. Er konnte sich nicht erklären, wie sie dort hingekommen waren, und fühlte kaum mehr als eine enorme Leere. Sein Kopf entsprach nicht seinem normalen Format, sondern hatte sich auf die Maße des Raumes vergrößert, in dem er sich befand.

Er zitterte am ganzen Körper.

Mechanisch setzte er sich den Hut auf und fand seinen Stock. Er marschierte in Richtung der Haustür. Als er den Flur durchquerte, widerfuhr ihm etwas Seltsames. Er paßte nicht hindurch. Das Luftgebilde in seinem Kopf zwang ihn, alle Kraft aufzuwenden. Nachdem er den Gehsteig erreicht hatte, erhellte sich sein blasses und betrübtes Gesicht in einem Ausdruck höchsten Genusses.

Leer, völlig leer, ohne zu wissen wohin, begann er zu laufen. Unempfänglich für den Geräuschpegel und den Gestank des Verkehrs, führte ihn sein gleichmäßiger, automatischer Schritt weg, bloß weit weg. Zu einem Ort, an dem seine außerordentliche Luftblase explodieren könnte. Denn durch Zerplatzen, nur durch Zerplatzen, würde er zur Dimension seiner Wirklichkeit zurückfinden.

Und er lief, lief, lief.

Franziska hatte währenddessen, dank der vielfachen Fürsorge, ihre Sinne wiedererlangt. Den Seh- und den Hörsinn, weiter nichts. Ihr ungereimtes Gerede, verrücktes Vögelchen, schwang sich mit Aussetzern aus dem Nest ihres Mundes zum Flug auf. Ihre feine, gerade Nase weitete sich und verzog sich dann zu einem Rümpfen. Das luxuriöse Parfüm eines feuchten Urwaldes schien sie einzubalsamieren und sogleich mit seiner Schärfe zu verletzen.

Ihre verkrampften Finger verwoben sich mit ihren Haaren und dem Spitzenbesatz ihrer Bluse.

Bei der Gouvernante, der einzigen Person, die gelassen blieb, kam in der allgemeinen Verwirrung das Urteilsvermögen zum Zuge. Die übrigen, in ihrer Trübsal gefangen, behinderten ihre Anordnungen in dem Bestreben, nützlich zu sein. Die Abwesenheit des Arztes quälte sie. Der Chauffeur hastete davon, um einen anderen herbeizurufen.

Auf Finnisch sagte sie dringlich: »Wollen Sie sich bitte alle zurückziehen.«

Keiner schenkte ihr Beachtung. Sie sahen den Grund nicht und strichen weiter um das Lager der Verlobten herum.

»Wollen sie uns bitte allein lassen«, wiederholte sie mit mehr Nachdruck.

Daraufhin murmelte der Vater etwas und nahm den Konsul und Van Saal mit sich hinaus, durch den gemeinsamen Schmerz fast schon wieder zu Freunden geworden.

Kaum waren sie hinausgetreten, verriegelte sie die Tür. Zurück am Lager, hob sie ohne Umstände Franziskas Rock hoch. Sie hatte sich nicht getäuscht. Der odore di femmina, Genitalgeruch mit einem Wort, strömte aus der Blutrosette ihres Menstruationsflusses.

Für eine Finnin wie sie, mit weißen Haaren, Kleidern und unbefleckter Seele, kam dem Zwischenfall nicht mehr Bedeutung zu als einem Nasenbluten. Sie erledigte ruhig die nötigen Handgriffe. Die nordischen Völker messen derartigen Zwischenfällen keinen anderen Wert bei als den physiologischen. Eine Gouvernante aus Cannes hätte an ihrer Stelle sapphisch ihren Verdacht an der geschwollenen Vulva gerieben. Und hätte sie die Klitoris gesehen, erigiert auf wer weiß welchen Befehl der Korpuskeln der Wollust, hätte sie die Verbindung zur Zeremonie dieses Nachmittags geknüpft und als Erklärung eine krankhafte Reaktion auf deren Mißlingen vermutet. Doch nein. Sie kam aus nordischen Landen. Aus einem Land robuster Mädchen mit Pullovern und Skiern, die fern der Komödie der Liebe unter zinkfarbenem Himmel in Blockhütten leben. Aus einem Volk mit rechtschaffener Psychologie, frei von Vorurteilen, das dennoch unter der Schneeschicht seines klinischen Laizismus einen reichen sinnlichen Humus verbirgt. Kurzum, sie wollte sich das Leben nicht mit abenteuerlichen Vernunftschlüssen schwermachen. Keine Grimasse, kein »Aua« von Franziska hielt sie zurück. Sie erfüllte ihre Rolle mit nüchterner Selbstverständlichkeit. Und nachdem sie sie umgezogen hatte, schüttelte sie das Federbett auf, säuberte das Schlafgemach und öffnete die Tür.

Quintin Hoerée stieg beklommen die Treppe hinauf. Mit gedämpfter Stimme, als wolle er ihr ein Geheimnis verraten, stellte er sich persönlich mit dieser Mitteilung ein: »Op Oloop ist verschwunden. Hoffentlich stößt ihm nichts zu! Kein Wort zu meiner Tochter. Sorgen Sie dafür, daß sie in ihrem Zimmer bleibt.«

In diesem Augenblick kam sie hinaus.

»Señorita, Sie sollten sich nicht bewegen. Señorita, gehen Sie in Ihr Zimmer zurück. Señorita …«

Franziska zuckte nicht einmal mit der Wimper. Ein düsteres Vorhaben bestimmte sie und verhärtete ihr Gesicht. Ihr Profil war eine weiße und stumme Schneide. In ihr weites Nachtgewand gehüllt stieg sie die Treppe herunter wie ein Geist. Jeder ihrer Schritte auf den Stufen hallte im Herzen ihres Vaters wider.

»Mein Liebling, warum kommst du nicht zurück? Hör auf mich, Franziska. Komm zu mir, ruh dich aus.«

Sie ging im gleichen bedachtsamen Tempo weiter.

Sie hatte das Erdgeschoß erreicht und bog in Richtung des fumoir ab. Entgegen den von den Anwesenden gehegten Befürchtungen, veränderte sich ihr blutleeres Antlitz nicht im geringsten. Keinerlei Geste, kein Schrei, kein Wort. Die reale Anwesenheit Op Oloops spielte für sie schon keine Rolle mehr. Sie war so sehr in ihm aufgegangen, daß sein äußeres Erscheinungsbild wie weggewischt war. Dieser Anschein der Unerschütterlichkeit erweckte in ihren Angehörigen Besorgnis. In der Tat, chez elle war es zu einer augenfälligen Persönlichkeitsumkehrung gekommen. Sie schien ganz nach innen gerichtet, als hätte sie den lock out aller Gefühle verordnet, die für das Beziehungsleben arbeiten.

In großartigem Schweigen schritt sie weiter und öffnete die Bar. Ohne zu zögern, griff sie aus dem reichhaltigen Flaschenarsenal eine Flasche apricot-brandi heraus und kippte sie hinunter. Sie trank lustlos, begierig, ungestüm, bis die Hand des Vaters sie ihr entriß.

Es herrschte eine Stille voller Ungeduld und Zorn.

Der Vater wollte sie für sich einnehmen, indem er sie mit Liebkosungen überschüttete. Sie wies ihn angeekelt zurück. Die Gouvernante ließ angesichts des zunehmenden Geknurres von ihren Bemühungen ab. Ihr kontrollierter Gesichtsausdruck fiel schnell in sich zusammen, und ihr Mund – ihr schöner Puppenmund – verformte sich zu einer gemeinen Schnauze.

»Alles unterwirft sich dem Gesetz des Rausches.« Quintin Hoerée erkannte die Wahrheit, die in diesem Grundsatz von Jules Romain lag. Seine Zärtlichkeit, seine Hoffnung, seine Ehre zitterten erniedrigt vor der schwankenden Majestät seiner Tochter.

Die Annalen der Psychiatrie enthüllen den Zusammenhang zwischen einigen Zuständen der Anomalie und Unregelmäßigkeiten im Verlauf der Menstruation. Ist einmal die Pubertät durchlaufen, verschärft die Entfaltung des Geschlechtstriebs diesen Konflikt. Und das Opfer fällt Situationen von Hysterie oder Melancholie anheim, in denen es hauptsächlich zu Delirien voller Mystizismus oder Verfolgungswahn kommt, gemeinsam mit anfallartigen Neigungen zur Pyromanie und Trunksucht. (Franziska befand sich an diesem Scheideweg des Alters, wo der Geschlechtstrieb einmal das Feuer zu suchen scheint, um die Libido zu entzünden, und ein andermal den Alkohol, um den Durst der Begierde zu stillen.)

Die Weisheit der Väter sorgt sich oft um die psychosexualen Muster der Töchter. Belauert ihre Ruhelosigkeit, analysiert ihre Triebe, ergründet ihre Krisen. Doch weiter geht sie nicht, denn diese Weisheit erschöpft sich in der allgemeinen Feigheit. Bis zum Leiden zu dringen, zu diagnostizieren, ist einfach. Das Schwierige in unserem Stadium der Zivilisation ist es, heroisch zu sein, das Heilmittel ohne Heuchelei zu verabreichen. Die gängige Moral, die alle Arten der Beschränkungen der Instinkte erlaubt und sie mit unsäglichen Schand- und Schuldgefühlen quält, hat eine schimpfliche Kasteiung verordnet, indem sie das Fleisch in die Buße versenkt, anstatt es in der strahlenden Freiheit seines Genusses zu überhöhen. (Franziska fühlte sich als Opfer. Bestürzt und erschreckt, heulte sie vom lichten Grund ihres Rausches her gegen die familiäre Orthodoxie und die vorgefaßten Meinungen an, die ihre Triebe zurückhielten.)

Jeder Vater weiß, daß das Heilmittel seiner Tochter im Hosenschlitz des Mannes hängt, den sie liebt, oder im Hosenschlitz irgendeines beliebigen Mannes, der ihre Triebkraft wie ein Magnet anzieht. Trotzdem verspüren Väter nie die »Verpflichtung«, es ihr zu verabreichen oder sie gewähren zu lassen. Sie ziehen es vor, daß sie abgezehrt und schmachtend der Schwere des Jungfrauendeliriums erliegen, als sie mit den Blüten der urzeitlichen Sinnenlust auf Wangen und Brüsten erstrahlen zu sehen. (Franziska, anima plorans, sackte welk in einem tränenlosen Schluchzen zusammen.)

Wenn das Gesetz nicht mehr verdammen würde, wenn die Religion nicht mehr verdammen würde, dann schlüge vielleicht erneut die Stunde des alten Olymp, in der Götter und Menschen die Herrlichkeit des Fleisches feierten und sich ergötzten. Es wäre möglich, daß die Väter dann ihre Dämme aus Skrupeln niederreißen und die sturzbachartige Wahrhaftigkeit des Lebens frei fließen lassen. Und daß die Töchter dann die männlichen Attribute erobern, von denen sie besessen sind, um sie ebenso wie vormals die Jungfrauen und Matronen in über dem Herzen getragenen Amuletten und Kameen als Symbole für das Wohlbefinden der Spezies zur Schau zu stellen.

Franziska brach plötzlich aus ihrer Verinnerlichung aus. Katzenhaft wand sie sich und kämpfte darum, eine andere Flasche aus der verchromten Bar zu ergreifen. Sie schaffte es nicht. Die Hände, die sie liebkosten, hielten sie davon ab. Ihre Augen, die sie in der Anwandlung von Wahnsinn überweit aufgerissen hatte, verkleinerten sich nach dem gescheiterten Versuch bis hin zu einem sarkastischen Blinzeln. Durchgeschwitzt blickte sie langsam vom Vater zur Gouvernante und besudelte sie mit ihrer ätzenden Abfuhr.

»Ich bitte dich, Tochter! Stell dich nicht so an! Komm mit mir.«

Sein Flehen verstärkte ihre Abscheu. Sie schnitt ein herbes und verbissenes Gesicht, und mit ungezügelter Raserei schien sie ihm vom Grunde ihrer Seele aus zuzuschreien: »Henker! HENKER! HENKER!«

Sie stolperte vorwärts. Fühlte ihren Kopf nicht. Wie der Charlotte de Cordays, als er den infamen Fußtritt des Henkers erhielt, rollte der ihrige und behinderte ihren Gang.

Es gelang ihnen nicht, sie zu zügeln. Unter Stürzen erreichte sie den Fuß der Treppe in der hall.

Dreimaliges dringliches Klingeln und das auf dem Fuße folgende Hereinstürmen eines Polizeibeamten und eines Wachtmeisters ließen sie stillstehen.

»Wo ist der Verletzte? Wo ist der Verletzte?«

Es war die Stimme desselben Inspektors, der sich wenige Stunden zuvor um den Verkehrsunfall des Autos gekümmert hatte, welches Op Oloop befördert hatte. Derselbe Inspektor, der von Neugierde gepackt wurde, als er dessen Delirieren hörte, und ihm auf seinem side-car bis zu dem Anwesen gefolgt war, in dem er sich nun befand.

Alle blieben starr stehen, ohne zu antworten.

»Antworten Sie, Señores. Wohnt hier der Konsul von Finnland oder wohnt er hier nicht?«

Sie bejahten.

»Also dann … warum schweigen Sie? Doktor Daniel Orús hat gerade auf der Wache angerufen, da hier ein Verbrechen verübt worden sein soll. Lassen Sie sehen, wo ist der Verletzte?«

Piet Van Saal, der vorhatte, sich auf die Suche nach Op Oloop zu begeben, ergriff das Wort: »Hier, Señor Kommissar …«

»Inspektor. Danke«, unterbrach der ihn lächelnd in der Überzeugung, daß sie ihn nun zu dem Verletzten führen würden.

»Hier, Señor Inspektor, ist keinerlei Verbrechen begangen worden. Ein Freund des Hauses hat sich hinter dem linken Ohr verletzt, als er auf dem Parkett ausgerutscht ist und sich an der ersten Treppenstufe den Kopf geschlagen hat.«

»Lüge!« schrie Franziska aus vollem Hals und elektrisierte damit die Szene.

Gereizt von dem quid pro quo und von dieser Enthüllung angelockt, trat der Inspektor dem Freund Op Oloops entgegen: »Sehen Sie, Señor, heben Sie sich diese Ausreden für das Ermittlungsverfahren auf. Doktor Orús hat ganz klar gesagt, daß es sich um einen ansehnlichen Knüppelhieb handelte. Wo ist der Verletzte?«

Die Situation wurde peinlich. Keinem war danach zumute, etwas zu sagen. Van Saal war vom Widerruf Franziskas in die Enge getrieben; Quintin Hoerée damit beschäftigt, seine Tochter in seinen Armen zu bändigen; der Konsul perplex angesichts der Perspektive eines Nachspiels, das seine Karriere beeinträchtigen könnte.

»Wer ist der Hausherr? Kommen Sie zur Sache«, wies der Inspektor sie autoritär zurecht.

Der Konsul trat fast zitternd vor, machte eine einschmeichelnde Gebärde und erklärte: »Ich bin der Konsul von Finnland. Mein Schwager und ich gaben gerade eine Verlobungsfeier. Möchten Sie einen Blick in den Speisesaal werfen, um sich zu vergewissern, daß wir noch nicht zu Mittag gegessen haben? Op Oloop, der Verlobte dieser jungen Dame, kam verspätet, krank. Er begann immer merkwürdigeres Zeug zu reden, Verrücktheiten mit einem Wort.«

»Verrücktheiten? Gestatten Sie mir, daß ich Sie unterbreche. Ein großgewachsener Mann, in Braun gekleidet, mit Hut …«

»Ja. Sie kennen ihn?«

»Hören Sie selbst, Señor: Auf der Avenida Callao war das Auto, in dem er herkam, in einen Auffahrunfall verwickelt. Ich griff ein. Als ich ihn fragte, ob er gesehen habe, wie sich der Vorfall zugetragen habe, antwortete er mir ungefähr so: ›Nicht im geringsten. Ich habe an Francisca gedacht …‹ Ich erinnere mich nicht an den Nachnamen.«

»Hoerée.«

»Das war es! Nun gut. Da er nichts weiter als diese Idiotie wiederholte …«

»Der Idiot sind Sie!« fletschte Franziska rasend vor Zorn in einem dramatischen Aufruhr aus fliegenden Armen, der die Seide ihres Nachthemdes flattern ließ.

»Bitte schenken Sie ihr keine Beachtung! Sie ist ebenfalls krank.«

»… folgte ich ihm aus einem Vorgefühl heraus bis hierher. Dann sah ich das Wappen des Konsulats und forschte nicht weiter.«

»Wenn Sie ihn nur festgenommen hätten! Den Rest hat ihnen der Señor hier schon erzählt. Es bleibt nur noch hinzuzufügen, daß Op Oloop dieses Haus verlassen hat.«

»Lüge! LÜGE! LÜGE! Sie haben ihn umgebracht! SIE HABEN IHN UMGEBRACHT! SIE HABEN …«

Sie konnte nicht aussprechen. Der Vater hielt ihr den Mund zu, hob sie mit Gewalt hoch und trug sie die Treppe hinauf in ihr Schlafgemach.

Darauf folgte einer jener bitteren Momente, in denen man schwitzt und keucht, in denen man für Aufklärung sorgen will und es nicht kann, gerade deswegen, weil die körperliche Beklemmung den Verstand erstickt und die Verwirrung das Mißtrauen verstärkt.

Nachdem er seine Unruhe gezügelt hatte, fuhr der Hausherr fort: »Señor Inspektor, erlauben Sie mir, daß ich einen guten Freund anrufe: den Chef des Protokolls. Ich brauche eine Bestätigung durch seine Person. Die geistige Verwirrung meiner Nichte hat die Angelegenheit kompliziert.«

»Tun Sie es.«

»Danke schön. Kommen Sie mit mir. Ich möchte, daß Sie alles mit anhören. Ich bin kein Betrüger, sondern ein anständiger Mann, der sein Land ehrenvoll vertritt.«

Piet Van Saal lächelte schwach …

Der Wachtmeister drückte sich währenddessen verstohlen durch die ganze hall. Er steckte seine Nase in alle Ecken, überprüfte Mobiliar und Teppiche. Dabei bemerkte er einige Tropfen Blut in der Nähe des großen Tisches. Von seinem Fund begeistert, näherte er sich, ohne einen Laut von sich zu geben oder die Spuren zu beschädigen, auf Samtpfoten und mit Argusaugen dem Fuß der Treppe. Auf der ersten Stufe gab es keinerlei Anzeichen für einen Sturz. Die Bestätigung seines Verdachts verdichtete sich zu einer aufgeblasenen Miene, die ihn bedeutungsschwanger den Kopf wiegen ließ. Als er an seinen Ausgangspunkt zurückkehren wollte, stieß sich seine bereits an die Gegenstände und Personen in der hall gewöhnte Wahrnehmung an einer Lücke: Piet Van Saal fehlte. Die Augen vor Überraschung weit aufgerissen, steckte er den Kopf ins Arbeitszimmer. Er sah den Inspektor an der Hörermuschel kleben. Und blieb wie versteinert bei dem Gedanken, daß Van Saal das Haus verlassen haben könnte.

So war es in der Tat. Als er ganz in die Spuren des Verbrechens vertieft war, hatte der Freund des Statistikers seinen Hut genommen und war gegangen. Er hatte sich auf die Suche nach diesem begeben, ebenso naiv und vom Gebot der Freundschaft angetrieben, wie der Wachtmeister auf seiner Suche nach Blutflecken vom Instinkt eines Profis angetrieben wurde. Doch wie diese subjektiven Befehle unter einen Hut bringen? Der Wachtmeister war wütend, voller Groll gegen die anderen und sich selbst. Die Obrigkeit verleiht primitiven Charakteren einen Anstrich der Überlegenheit, der weder Widersprüche noch Spötteleien zuläßt, so sehr diese Widersprüche und Spötteleien auch von tieferen, edleren Motiven gerechtfertigt sein mögen als das Handeln der Obrigkeit selbst.

Auf der Straße angelangt, nahm Van Saal ein Taxi. Er nannte Op Oloops Adresse und versank in tiefgründige Grübeleien.

Aus dem Englischunterricht am Gymnasium von Oulu erinnerte er sich an einen Aphorismus von rührender moralischer Schönheit: »A real friend is one who walks in when the rest of the world walks out.« Nähertreten, wenn alle sich entfernen! Die Hand ausstrecken, wenn der Egoismus sie zurückzieht! Trösten, wenn die anderen sich davonmachen!

»Welch Herrlichkeit! Welch Herrlichkeit!« brach er ohne sich zu hören heraus; denn die Worte sprossen so spontan aus seinem Mund wie Blüten aus einem mit Zärtlichkeit gedüngten Boden.

Er war fast trunken: Gutherzigkeit berauscht ebenso wie Wein. Die Aufregungen dieses Tages hatten für ihn den Sinn vieler Dinge durcheinandergebracht, ohne ihn aus dem Gleichgewicht seiner Gelassenheit bringen zu können. Unter den Umständen, unter denen er gehandelt hatte, war seine Ausgeglichenheit untadelig und vollendet gewesen. Er war stolz darauf, selbst auf seine Heftigkeit, den Konsul geohrfeigt zu haben; denn als er klangvoll die Hand auf dessen Wange niedergehen ließ, sagte ihm sein Bewußtsein, daß er angesichts der Feigheit, die er bestrafte, einen Akt der Gerechtigkeit verübte.

Die Freundschaft ist eine Gleichung der Gefühle, die man immer durch das Absurde lösen muß. Das heißt, wenn sie sich lösen läßt; denn häufig ist es so, daß eine unbekannte Größe im Geist fortbesteht. Das »gegenseitige Wohlwollen«, mit dem sie der Philosoph von Stagira definierte, war für Van Saal keines der vielen eironeia, die uns die griechische Kultur, eingefaßt in ihre Schönheit, vermacht hat.

Ein Freund zu sein, ist jetzt und zu allen Zeiten ein rätselhafter Scheideweg gewesen. Die Liebe folgt manchmal dem wahren Pfad. Doch die Freundschaft folgt fast unausweichlich einem krummen Pfad. Denn die Menschen vervollkommnen sich in der Falschheit und ziehen, blind für das Erhabene, die ruchlosen Spiele der Verleumdung, der Bösartigkeit und des Neides vor.

Durch die Jahrhunderte hindurch ist viel verlogenes Zeug über die Beschaffenheit der Herzensbindungen geschrieben worden. Wenn die Freundschaft wäre, was die Literatur vorgibt, wäre die Menschheit besser. Gnadenvolle Harmonie zwischen allen Herzen. Ewige Verklärung aus feinen Opfergaben des Denkens und hochtrabender Großzügigkeit des Willens. Und sie ist doch nichts weiter als ein Ozean der Widersprüchlichkeit!

Das Gedächtnis Van Saals bewölkte sich daraufhin mit unguten Erinnerungen. Die geheime Feindseligkeit von Franziskas Vater und die erklärte Phobie ihres Onkels gegen Op Oloop bedrückten ihn. Gegen einen so reinen, so treuen, so weisen Mann! Und angenommen, daß ein Verlobter zukünftig zum Sohn wird, wie hätte er seine Familie durch die blinde Tür einer liebedienerischen väterlichen Zuneigung betreten sollen! Und angenommen, daß die Ehemänner zu Teilhabern an weitreichenden Gefühlsgemeinschaften werden, wie sich auf die Schrillheit eines reizbaren Charakters wie dem des Konsuls von Finnland einstellen!

Wer es gewohnt ist, den Kardinaltugenden seine Ehrerbietung zu erweisen, wird von bösen Vorahnungen befallen, wenn er Zeuge von Vertrauensmißbrauch oder Untreue in der Freundschaft wird. Van Saal, der eine tröstliche Ausnahme darstellte, konnte dieses Unbehagen nicht ganz unterdrücken. Und während das Auto dahinraste, brummelte er seine Schmährede gegen die beiden; denn man muß die Dinge offen herauslassen, auch wenn im Inneren der Stachel einer unheilbaren Trostlosigkeit steckt.

Auf der von Bäumen überschatteten Avenida wurden die Lichter der Schaufenster entzündet.

Wären die subtilen Mechanismen der Metapsychik bereits für die Telepathie gerüstet, hätten die von Van Saals Gehirn ausgesendeten Wellen den mentalen Apparat des Konsuls mit Sicherheit vor Ärger vibrieren lassen. Doch soweit ist es noch nicht. Der Großteil der Menschen ist für den umfassenden Empfang fremden Denkens noch undurchdringlich. Dennoch, es gibt bereits ein Rumoren. Und auch wenn sich die Vorgefühle noch nicht zu Worten konkretisieren, nehmen doch selbst die Abgestumpftesten ihr Treiben in den Ohrmuscheln wahr und das plötzliche Gefühl der Beklemmung im Herzen.

Während er den Lichtschalter des Arbeitszimmers betätigte, fühlte der Hausherr ein lästiges Brennen im rechten Gehörgang.

»Jemand denkt gerade schlecht über mich«, murmelte er und lächelte gezwungen.

Nach einer telefonischen Unterredung mit dem Chef des Protokolls hatte der Inspektor soeben mit dem Kommissar seiner Wache gesprochen. Sein Gesicht drückte zweischneidiges Empfinden aus: des Triumphs über die Treffsicherheit seiner Herzenseingebung und der Enttäuschung über den Befehl von oben, das Verfahren einzustellen. Für ihn lag eine Mauschelei vor. Ausgebildet im systematischen Zweifel, vermutete er hinter jeder Staatsräson ein unwürdiges Übereinkommen zwischen denen, die das Heft in der Hand haben. In diesem Fall wurde ihm das schändliche Bündnis umso offensichtlicher, als der Wachtmeister ihm wichtigtuerisch mehrere Blutflecken auf dem Boden zeigte und er erfuhr, daß Piet Van Saal sich heimlich davongemacht hatte, der Bewachung durch den Untergebenen spottend.

»Nun gut, Señor«, sagte er mit ironischem Unterton, »meine Anwesenheit hier ergibt keinen Sinn mehr.«

Der Konsul hätte schweigen, ihm die Tür öffnen und ihn gehen lassen sollen. Doch er ließ sich zu der Dummheit hinreißen, seinen nordischen Bräuchen treu zu bleiben. Da er zufrieden war und in neuer Ruhe prangte, dachte er nicht an das geflügelte Wort, das besagt, daß jede Schmeichelei an den Besiegten eine Beleidigung ist. Er sah nicht, daß der Inspektor mit diesem Ausgang eine Beeinträchtigung seines Ansehens als Detektiv erlitt. Und töricht lud er ihn auf einen Tee ein: »Kommen Sie, kommen Sie, es ist alles vorbereitet. Es gibt Fischschnittchen, nach finnischer Art, die werden Ihnen schmecken.«

Der Polizeibeamte, der langsam rot sah, konnte sich nicht länger zurückhalten. Und er warf ihm verzweifelt an den Kopf: »Hören Sie auf mit dem Blödsinn, Señor … Ich bin nicht hergekommen, um Tee zu trinken, sondern um ein Verbrechen aufzuklären … Sie mögen noch so sehr Konsul sein, doch mich führen Sie mit einem solchen Durcheinander nicht in die Irre … Hier gibt es Blutspuren, Señor … Hier wurde ein Mann verletzt, Señor … Ein armer Verrückter, wie ich selbst heute nachmittag feststellen konnte … Glauben Sie, Sie können mich mit Schnittchen kaufen? … Dies ist ein gemeines und schweres Verbrechen … Ihre eigene Nichte hat es ausgerufen … Ein angesehener Arzt, Doktor Daniel Orús, hat die Leiche gesehen … Was wollen Sie mit dem Chef des Protokolls? … Ist er vielleicht Lazarus, um ihn wieder zum Leben zu erwecken? … Tee trinken! … Tee trinken! … Sie haben sich geschnitten, wenn Sie denken, Sie hätten mich in die Irre geführt …«

Und er ging bebend vor Verärgerung hinaus, die Unterlippe in einer von Erbitterung vergifteten Fratze vorgeschoben.

Die Erniedrigung hatte ihn wildes Zeug reden lassen. Seine Gedanken waren ebenso wie Schokoladentäfelchen in einem Automaten zusammengepackt, wohlgeordnet, um sie einen nach dem anderen herauszugeben. Doch zum Schluß zerfiel der Stapel und alle stürzten unordentlich und haufenweise hinaus …

Inmitten des Verkehrsgewühls stammelte er auf seinem side-car seinen Zorn vor sich hin: »… Kommt er mir mit Schnittchen … So ein Trottel! … Oh, doch er täuscht sich gewaltig! … Mich leimt er nicht … Ich werde den laufenden Toten verfolgen … Meine Vorahnungen irren nicht … Ich werde das letzte Wort haben …«

Der Konsul schenkte dieser Aufreihung an Verwünschungen keine besondere Beachtung. Er hatte abgeschaltet und beschränkte sich darauf, seinen kurzgeschorenen Kopf zu liebkosen.

Sein Blick blieb im Leeren hängen. Kaum waren drei Minuten vergangen, da führte ihn – als wäre ein Golfball gegen seine Stirn geprallt – ein plötzlicher Wiedergewinn seiner Persönlichkeit in den Speisesaal. Der Tisch war noch für den five o'clock tea gedeckt. Gänzlich unberührt. Es war sieben Uhr abends … Sechs Tassen auf gehäkelten Deckchen in fröhlichen und leuchtenden Farben.