04:50

Es waren noch keine zehn Minuten vergangen, als erneut jemand an der Wohnungstür klopfte. Wegen der Art, wie es geschah, durch das geheime Klopfzeichen, dachte Madame Blondel auf der Stelle: »Der Kommissar oder ein anderer Stammkunde.«

Ihre Überraschung verwandelte sich in Verwunderung, als sie Gastón Marietti – niemand Geringeren als Gastón Marietti! – mit zwei weiteren Herren durch den Gang heranschreiten sah: der eine sympathisch, olivfarbenes Gesicht, krauses Haar und die Schultern eines Kaiarbeiters; der andere älter, finster dreinblickend, mit eckigem Gesicht, stählerner Brust und der Selbstsicherheit eines Meisters im Speerwurf. Für sie bedeutete dieser unerwartete Besuch eine schwer einzuordnende Ehre. Ebenso als würde der Außenminister inkognito ein Konsulat dritter Klasse aufsuchen. Die Gefühle spiegelten sich in ihrem Blick und der Miene wider, die ihr Mund beim genüßlichen Kosten seiner Worte zeigte.

»Zuallererst einmal, zwei Freunde: Robín Sureda …«

»Zu Ihren Diensten.«

»… ein waschechter Kreole, und Piet Van Saal …«

»Sehr angenehm, Señora.«

«… ein Finne.«

»Finne? Was für ein Zufall! Gerade ist ein Kunde Ihrer Staatsangehörigkeit gegangen.«

»Op Oloop!«

»Ganz genau.«

»Darum sind wir hier. Können Sie uns bitte sagen, Madame …«

»Seien Sie so freundlich und setzen Sie sich. Ramona, Johnnie Walker für vier.«

»Unser Besuch zu dieser Stunde, der vielleicht unschicklich ist, gehorcht …«

»Sie wissen doch, Monsieur Marietti, daß dieses Ihr Haus Ihnen zu welcher Stunde auch immer vollständig zu Diensten steht.«

»Danke. Ich sagte, daß unser Interesse darin liegt, zu erfahren, ob Op Oloop nichts zugestoßen ist. Ob sein Verhalten hier normal war. Vor allem, ob Ihnen bekannt ist, daß er sich nach Hause begeben hat. Das vor allem. Er ist ein von uns in hohem Maße geschätzter gemeinsamer Freund, dessen Gesundheit im Laufe des Tages durch eine Vielzahl von Faktoren beeinträchtigt worden ist, die es müßig ist aufzuzählen. Ich bitte Sie, Madame, daß …«

»Ich werde es Ihnen erzählen. Señor Op Oloop ist eine hochanständige Person. Wir merken, daß seine Intelligenz kolossal ist, nicht wegen dem, was er weiß, sondern wegen der Güte, mit der er seine Kultur verläßt, um mit uns in den Momenten des Müßiggangs von unserer Arbeit zu plaudern. Die Rohlinge sind es, die sich hier aufspielen.«

»Hat er Ihnen gegenüber ausgedrückt, daß er nach Hause fahren würde?« unterbrach Van Saal, besorgt.

»Ich werde es Ihnen erzählen. Señor Op Oloop kam entgegen seiner Gewohnheit sehr spät. Er schien nervös zu sein. Er bat, daß ich ihm eine junge Schwedin vorstelle, die wir hier haben. Kaum sah er sie, war sein Interesse geweckt. Kaum hörte er ihren Namen, sagte er, sie sei Finnin. Dann, noch nervöser, ging er mit Kustaa, so heißt das …«

»Entschuldigen Sie, Señora. Es ist eine dringende Angelegenheit. Ist Ihnen bekannt, daß er nach Hause gefahren ist?«

»Ich werde es Ihnen erzählen. Ich selbst habe ihn ins Automobil gesetzt.«

»Wie bitte! War er betrunken?«

»Schlimmer. Viel schlimmer. Drinnen, im Zimmer, machte er tausenderlei sonderbare Dinge. Er brüllte bis zum Durchdrehen. Sagte, das Mädchen sei die Tochter seiner Träume. Seiner Träume … Merken Sie was? Möchten Sie Kustaa hören? Ich rufe sie. Dann hatte er zwei Wutanfälle, weil ein Kunde sich vor ihm die Weste zuknöpfte …«

»Sagen Sie, hat er ihm irgendeinen Schaden zugefügt?«

»Nein. Er griff ihn an … wie soll ich sagen? … in der Einbildung. Der Kunde war bereits gegangen. Mich beleidigte er auf üble Weise, weil ich ihm die Weste reichte. Er haßt Westen. Hier ist seine. Später fragte er mich, ob ich eine gewisse Franziska kenne. Jener Name betörte ihn. Nie habe ich ihn so gesehen, so seltsam, so … wie soll ich sagen?«

«… verrückt.«

Die Freunde, die Köpfe schüttelnd, ersparten es ihr, das Wort auszusprechen. Jeder sagte es für sich. Robín Sureda riet Van Saal, mit der Suche fortzufahren. Der Bericht der Patronin bezeugte bereits übermäßige Kopflosigkeit. Noch bestürzter, als er es schon war, trieb Piet die Befragung voran.

»Gut. Kurz gefaßt, Señora, Sie haben ihn bis zum Auto begleitet. Haben Sie gehört, daß er dem Chauffeur die Adresse nannte? Könnten Sie sie uns sagen?«

»Nein. Ich habe sie ihm angegeben. Larrea auf Höhe der 700. Hier in der Nähe.«

Blitzartige Enttäuschung machte sich in der Gruppe breit.

»Verflixt! Er ist schon vor längerem umgezogen, er lebt jetzt in Palermo, in der Avenida Alvear«, bedeutete der Student, ehrlich betrübt.

»Gehen wir. Es ist keine Zeit zu verlieren.«

»Vielleicht ist er schon zu Hause!«

Piet und Robín verabschiedeten sich von Madame Blondel. Der Zuhälter begann, um Hast und Höflichkeit unter einen Hut zu bringen, eine kleine Plauderei mit ihr: »Die Arbeit, Madame, läßt also Zeit für Müßiggang? Wo liegt Ihrer Meinung nach der Grund für den Rückgang des Geschäfts?«

»In den schlechten Sitten. Die porteña war vormals sehr anständig und sittsam. Dies erlaubte, aufgrund der Schwierigkeit ›der Kontakte‹, eine größere Nachfrage. Heutzutage hat sich der Sittenverfall hier ebenso breit gemacht wie in jeder beliebigen zivilisierten Stadt. Alle Welt hat ›Kontakt‹! Man müßte die schlechten Sitten bekämpfen. Sie, Monsieur Gastón, der Sie soviel Einfluß haben, könnten etwas tun …«

Ein wohlwollendes Lächeln umspielte seine Lippen.

»Wahrhaftig … Das Land hat große Fortschritte gemacht, seit ich die ›Meile von Buenos Aires‹ eingeführt habe. Nella raffinatezza dell vizio c'è la civiltá d'un popolo – die Kultiviertheit eines Volkes erkennt man an der Kultivierung des Lasters … Doch in der Tat, soviel Fortschritt, soviel Zivilisation …«

»… schadet uns. Erinnern Sie sich an die Hundertjahrfeier? Was für eine Zeit war das! Es machte Freude …«

»Jawohl. Es machte Freude, die Tugendhaftigkeit der porteñas festzustellen!«

»Wir warten auf Sie, Marietti«, mahnte Van Saal mit von Kummer durchtränkter Stimme.

»Ich muß, Madame Blondel. Zu Ihrer vollen Verfügung.«

Er umschrieb einen zeremoniellen Gruß und gesellte sich zu seinen Freunden.

Unter keinen Umständen wollte er zauderhaft sein. Die ausdauernde Anhänglichkeit und die feurige Fürsorge, die Piet Van Saal Op Oloop in der momentanen Lage angedeihen ließ, rührten ihn. Und er erwies ihm Ehre, indem er ihm seinerseits soviel Hilfe wie möglich leistete.

Sie stiegen in das Auto, das sie hergebracht hatte.

»Fahren Sie zur Avenida Alvear«, wies Robín an.

Es gibt Personen, die ausschließlich für die Freundschaft gemacht sind, Personen, die den ergötzlichen Umgang der Instinkte verschmähen, um sich den urwüchsigen Ausschüttungen einer intelligenten Kameradschaft zu widmen. Van Saal, zum Beispiel. Seit der Statistiker sich heimlich aus dem Haus des Konsuls davongemacht hatte, hatte seine Unruhe begonnen, in den fürchterlichsten Mutmaßungen zu erzittern. Seinem Herzen getreu, seinem Hirn ergeben, stürzte er sich in die Suche, um ihn vor Schaden und Gefahren zu bewahren. Seit jenem Moment hatte er keine ruhige Minute gehabt. Er durchquerte mehrmals die Stadt, von einem Ende zum anderen, um Op Oloops Bekannte zu befragen; er rief unermüdlich bei ihm zu Hause und bei der Polizei an; ging mit dem Beamten, der den Verkehrsunfall aufgenommen hatte, zu den Orten, die er zu besuchen pflegte, nichts. Niemand konnte ihm eine dienliche Information liefern. Je mehr er den Überblick verlor, desto stärker wurde seine Absicht, sich nützlich zu machen. Er wußte, daß dies in der Not seine Pflicht war, und er zögerte nicht, auch nur den geringsten Zweifel auszuräumen, um dessen Aufenthaltsort zu ermitteln. Bereits spät, von einer Fahrt nach Tigre zurückgekehrt – um zu überprüfen, ob Op Oloop sich alleine mit der Yacht des Konsuls hinausgewagt hatte – lief er die von den Nordländern frequentierten boîtes ab. Nichts. Er kehrte zum Haus des Freundes zurück. Wartete bis um drei Uhr morgens. Für ihn war irgendein ungeheuerlicher Schicksalsschlag bereits zur Gewißheit geworden. Der Statistiker war die personifizierte Präzision … Mit dem Bedürfnis nach Trost, das diejenigen befällt, die ihren Beweggrund verloren haben, begab er sich wieder in die Freizonen der Lust. Plötzlich weiteten sich seine Augen, perplex, in einer skandinavischen Bar im Hafenviertel. Ivar Kittilä und Erik Joensun kamen hereingewankt. Er bestürmte sie mit Fragen.

»Wir kommen vom grill des Plaza Hotel, von einem Dinner, das, wie der Zufall es will, Op Oloop gegeben hat.«

Sein Gehör wies die Sätze zurück. Er konnte es nicht glauben.

»Unmöglich. Ich habe dort angerufen. Ich habe dort angerufen!«

»Ja. Ich weiß. Doch er befahl dem maître: ›Antworten Sie, daß ich gerade gegangen bin‹. Ich erinnere mich sehr gut.«

»Mir das anzutun! Mir!«

»Es hat ihn von ganzer Seele geschmerzt. Man muß seinen Zustand gesehen haben! Op Oloop befindet sich auf schlechtem Wege. Er hat vielleicht einen Umgang!«

Seine Niedergeschlagenheit verging sofort. Die Landsleute ließen sich nieder, um es ihm genauer zu erklären. Ihr Fußmarsch hatte die Dämone des Alkohols aufgeweckt. Dementsprechend hatte ihre Erklärung die langatmige Detailfreude, die gewissen Trunkenbolden zu eigen ist. So erfuhr er von den Ungereimtheiten, Ausbrüchen und seltsamen Theorien des Statistikers. Noch bestürzter drängte er sie am Ende, ihn auf seiner Suche zu begleiten. Ihre Absage kam geradeheraus. Die belanglosen Motive, die beide vorbrachten, erzürnten ihn. Er hielt es nicht länger aus, nahm die unverzichtbaren Informationen entgegen und ging.

Das Auto raste unterdessen dahin.

Das ausgedehnte Stillschweigen, das Piet, Robín und Gastón während eines guten Teils des Weges bewahrten, war eigentlich die Summe dreier konzentrierter Selbstgespräche. Van Saal, bedrängt wie kein anderer, zog aus dem Zusammentreffen, an das er sich gerade erinnert hatte, die logische Konsequenz: »Was mich angeht, gibt es Erik und Ivar von heute an nicht mehr. Nie hätte ich vermutet, daß sie so treulos sind. Die Freundschaft ist das Edelste im Leben. Sie übertrifft die Liebe, da sie tiefere Wurzeln schlägt und mit größerer Schönheit erblüht.«

»Und sie übertrifft den Tod; denn da sie nicht auf Befehl des Instinkts aus der Materie entspringt, sondern aufgrund sublimer Neigung aus der Seele, macht der Tod nichts anderes, als sie in der Unsterblichkeit zu verewigen.«

»Ganz genau, Gastón. Das Kanaillentum von Erik und Ivar beschämt mich.«

»Sprechen Sie nicht von diesen Typen! Ich weiß nicht, was zum Teufel die sich denken! Die waren so dreist, uns beim Essen mit Schwachsinnigkeiten zu nerven.«

»Danach auch. Vor allem Sie, Gastón. Sie beschuldigten Sie ich weiß nicht welcher moralischer und ideologischer Abweichungen Op Oloops.«

»Das will ich glauben. Sie sind so idiotisch, daß sie nicht davor zurückschrecken, auf diese Weise die Genialität ihres Landsmannes zu beleidigen. Op Oloop reizte sie natürlich mit seiner Dialektik. Ein paar Sophismen brachten sie aus dem Häuschen. Dennoch hatten sie am Ende die Erbärmlichkeit, für bare Münze zu nehmen, was er als Paradox aufführte. Und das, obwohl unser unglückseliger Freund nicht auf der Höhe seiner selbst war! Sie wissen, mit welchem Talent er jegliche Überlegenheit bei den Banketten fallen läßt, mit welchem Feingefühl er die geistigen Distanzen auslöscht, indem er sich zu Zoten und Banalitäten herabläßt. Gut, heute abend war er schwermütig, abwesend in einer überweltlichen Traumatmosphäre, oft niedergeschlagen, stets betrübt … Und dieses Pärchen Dummköpfe verbitterte ihn auf Schritt und Tritt, wegen Kleinkram, ohne an die Tragödie zu denken, über die wir ihm dadurch hinweghelfen wollten, das Bankett zu einem Beruhigungsmittel zu machen.«

»Was erwarten Sie von derartigen Trotteln! Sie machten den ganzen Abend auf schamhaft, und siehe da, Piet fand sie in einer Kaffeeklitsche auf der Jagd nach wer weiß was … Für mich ist der Toningenieur …«

«… einer von denen, die ihre Eier auf dem Tisch ausbreiten wie ein spanisches Cape, um mit Rabelais zu sprechen, und dann ungelenke Liturgien anfangen … Stimmen Sie mir zu?«

»Einverstanden. Und der Kapitän ein …«

»… passiver Päderast. Ist es das, was Sie sagen wollten?«

»So weit habe ich nicht gedacht. Doch ich füge mich Ihrer Erfahrung. Ich weiß, daß Sie scharfsinnig und versiert in diesem Thema sind. Ich hätte ihn zu einem altersschwachen Typen gemacht, mit Rheuma im Schwanz …«

Sie waren schon nahe bei Op Oloops Domizil.

Kaum hielt das Auto, da lehnte sich der valet, der sich auf dem Warteposten befand, über den Balkon im fünften Stock.

»Ist er gekommen?« schrie Van Saal vom Gehsteig aus hinauf.

»Nein.«

Die Stimme schlug herunter, als hätte sich ein Stück Gesims gelöst.

Erschlagen sahen sie sich an. Die Beklemmung erstickte die Worte.